Bezugspunkte pflegeethischer Reflexion
Ethik in der Pflege thematisiert diejenigen moralischen und ethischen Dimensionen, die im Kontext des verantwortlichen pflegeberuflichen Auftrags, der interdisziplinären Zusammenarbeit und der professionellen Interaktion bedeutsam sind. Ethik hat zum Ziel, eine Orientierungshilfe für die ethisch reflektierte und moralisch begründbare Pflegepraxis zu sein. Ethik und ethische Reflexion, verstanden als integraler Bestandteil professioneller Pflege, sind an den originären Gegenstandsbereich der Pflege und die damit gekoppelten anthropologischen Implikationen gebunden. Nachfolgend werden zentrale ethische und moralische Orientierungspunkte für die Pflege benannt, wobei insbesondere die Bedeutsamkeit der systematisierten ethischen Reflexion von Werten aus den jeweils situativ inhärenten Perspektiven der Beteiligten und Betroffenen akzentuiert werden muss.
Die Pionierin der Pflege – Florence Nightingale – prägte mit ihrem "Nightingale’schen Eid" das älteste pflegerisch-ethische Dokument. Die pflegerische Ethik in Deutschland wurde u. a. durch eine im Jahr 1995 vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) veröffentlichte Publikation lanciert (Originaltitel: Ethics in Nursing Practice, A Guide to Ethical Decision Making). "The Nurse’s Dilemma: Ethical Considerations in Nursing Practice" von Sara T. Fry beeinflusste bereits seit 1977 im anglo-amerikanischen Bereich den pflegeethischen Diskurs des ICN (International Council of Nurses). Fry beschreibt ein konkretes Entscheidungsfindungsmodell für die Pflegepraxis und deklariert Wohltätigkeit, Gerechtigkeit, Autonomie, Aufrichtigkeit und Loyalität zu den "wichtigsten Grundsätzen" pflegerischer Berufsausübung. Bereits im Jahr 1923 nahm der ICN die Arbeit an einem Konzept für einen Pflegeethikkodex auf. Dieser wurde – nach der Unterbrechung der Entwicklungsarbeit während des Zweiten Weltkriegs – 1953 vorgestellt und seit der ersten Publikation mehrfach überarbeitet. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe hat den Wortlaut übernommen. Das heißt, der ICN-Ethikkodex ("The ICN Code of Ethics for Nurses") als pflegeberufliche Selbstverpflichtung prägt und beeinflusst den hiesigen Berufsethos und repräsentiert seinerseits den Kern der ethischen Identität professioneller Pflege. Er nimmt Bezug auf die Grundwerte der Menschenwürde und Menschenrechte, die er der professionellen Pflege als normative Dimensionen zugrunde legt. Der Berufskodex selbst bildet Eckpunkte ethischer Prinzipien und Maßstäbe ab und fordert über die ethischen Normierungen hinausgehend die verantwortungsvolle situationsbezogene ethische Abwägung und Reflexion, orientiert an den Spezifika der jeweiligen Pflegesituation und deren Kontexte.
Im anglo-amerikanischen Setting ist der "Code of Ethics for Nurses" der ANA (American Nurses Association) leitend und bestimmt die dortige ethische Reflexion und den dortigen ethischen Diskurs. Auch die Pflegetheorien – die als theoretische Grundlegungen einen Bezugsrahmen für die Pflegepraxis eröffnen und das Pflegehandeln systematisieren und strukturieren – beinhalten anthropologische wie auch ethische Dimensionen des Menschseins und der Pflege und nehmen diesbezüglich Setzungen vor. Die in einzelnen Pflegetheorien enthaltenen Caring-Konzepte (z. B. bei Leininger u. Watson) beschreiben darüber hinausgehend eine pflegerische Grundhaltung, in der u.a. die pflegerische Fürsorge eine zentrale Rolle spielt. Die Diskurse zur Care-Ethik, die Care Perspektive und die damit verbundenen Konzepte (zum Beispiel das Konzept der Achtsamkeit) sind für die Grundlegung des moralischen und normativen Bezugsrahmens einer pflegerischen Ethik zu berücksichtigen. Bereits in dieser fokussierten Darstellung wird ersichtlich, dass die Pflege mehrere ethische Bezugspunkte hat: den Ethikkodex der ICN, die Pflegetheorien mit den jeweiligen Werteorientierungen wie z. B. der Menschenwürde etc. Aktuelle ethische Bezugspunkte finden sich für die Pflege ferner in der UN-Behindertenrechtkonvention (UN-BRK) wie auch in der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen. Auch die "Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland" und die dazugehörigen "Handlungsempfehlungen im Rahmen einer Nationalen Strategie" explizieren ethische Bezugspunkte, verweisen auf ethische Konfliktpotenziale und auf die Bedeutsamkeit ethischer Reflexion wie auch ethisch begründeter Entscheidungen. Und: sowohl die UN-BRK wie auch die genannten Chartas enthalten Werte und Werteorientierungen, die konkrete ethische Anhaltspunkte für eine ethisch reflektierte und moralisch begründbare Pflegepraxis eröffnen. So fordert z. B die Charta für hilfe- und pflegebedürftige Menschen in Artikel 1 "Selbstbestimmung und Hilfe zur Selbsthilfe", in Artikel 2 "Freiheit und Sicherheit", in Artikel 3 "Privatheit" und in Artikel 6 "Wertschätzung und Teilhabe" ein. Die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland stellt u. a. die Würde und die Perspektive der Fürsorge in den Mittelpunkt und profiliert den für die Palliative Care Versorgung zentralen Wert der Lebensqualität. Deutlich ist, in der Pflege gibt es nicht die leitenden Werte oder Prinzipien. Allerdings gibt es Werte, die wiederkehrend und deren Berücksichtigung im Kontext pflegeprofessioneller Entscheidungen unumstritten sind – wie z. B. die (Menschen-)Würde, die Autonomie, die Fürsorge, die Teilhabe und die Verantwortung. Die exemplarisch benannten Bezugspunkte (wie der ICN- Ethikkodex, Pflegetheorien, Chartas, UN-BRK) lösen mit ihren ethischen Anhaltspunkten indes nicht die in der Pflegepraxis vorhandenen ethischen Fragestellungen und Konfliktfelder. Vielmehr können die benannten und für die professionelle Pflege handlungsleitenden Werte selbst ein ethisches Spannungsfeld auslösen, so z. B. zwischen dem Wert der Autonomie und der Fürsorge. Exemplarische ethische Konfliktfelder werden nachfolgend ausgeführt.
Ethische Reflexion im professionellen Pflegealltag und der Pflegebeziehung
Im Folgenden werden exemplarische ethische Fragestellungen aus dem pflegeberuflichen Alltag ausgeführt, um die Komplexität der ethischen Fragestellungen zu explizieren und die Bedeutsamkeit der systematisierten und bewussten ethischen Reflexion für das professionelle Pflegehandeln zu verdeutlichen.
Pflege als zwischenmenschliches Geschehen im Kontext von Interaktion und Begegnung wie auch die situativen Asymmetrien und Diversitäten haben in vielfältiger Form das Potenzial für ethische Dilemmata und moralische Irritationen. Ferner tragen die wachsende Komplexität im pflegeberuflichen Alltag und damit einhergehend die fachlich gestiegenen Verantwortungsbereiche und Anforderungen an die professionelle Pflege zur Bedeutsamkeit ethischer Reflexion und ethisch begründeter Entscheidungsfindung bei. Die Bedeutung der Pflegeethik hat zugenommen, auch angesichts veränderter gesellschaftlicher und gesundheitspolitischer Rahmenbedingungen. Die erhöhte Sensibilität für ethische Fragestellungen ist in allen Handlungsfeldern der Berufsgruppe gefordert: im klinischen Setting, in der stationären Langzeitpflege, in der häuslichen Versorgung wie auch im Hospiz. Vielfach gilt es, neben der genuinen pflegeprofessionellen Perspektive, ein breites Spektrum an Kontextualisierung (z. B.: Welche Rahmenbedingungen? Welches Setting? Welcher Kostenträger?) und die Interdisziplinarität mitzudenken und einzubeziehen. So ist es möglich, die Vielfalt der potenziell tangierten perspektivischen Differenzen auszubalancieren bzw. diese im Rahmen der systematisierten ethischen Reflexion zu analysieren. Die jeweiligen Zielgruppen professioneller Pflegeleistungen (Pflegebedürftige, Angehörige, Zugehörige – jeweils lebensphasenübergreifend) verlangen eine spezifische Aufmerksamkeit sowie unterschiedliche Ansatz- und Bezugspunkte für die Erfassung der individuellen Pflegebedarfe sowie die Aushandlung der angemessenen Pflegeleistung. Pflegebezogene Begegnungen und Handlungssituationen werden von den jeweiligen Lebenswelten, Lebensentwürfen und Lebensbezügen der Betroffenen und Beteiligten beeinflusst, die Versorgungs- und Pflegesituation ist vielfach geprägt von Abhängigkeit und Angewiesenheit. Pflegebezogene Kontakte sind von unterschiedlicher Intensität und Dauer (so kann im Rahmen eines kurzen Klinikaufenthaltes eine andere Intensität und Qualität an Kontakt entstehen als in der stationären Langzeitpflege oder im häuslichen Milieu). Evident ist: Viele Faktoren beeinflussen Pflegesituationen: Wer ist wie subjektiv betroffen? Wessen Verletzlichkeit gilt es zu schützen, worauf muss Rücksicht genommen werden? Probleme im pflegebezogenen Kontext entstehen vielfach aus den Widersprüchen zwischen den Beteiligten, so zum Beispiel zwischen zu Pflegenden und Pflegenden. Diese Widersprüche wiederum resultieren aus den Unterschieden in persönlichen, spirituellen und/oder kulturellen Werteorientierungen und ethischen Intuitionen. Zugleich besteht in jedem Bereich der Pflege aufseiten der professionell Pflegenden der Wunsch, eine qualitätvolle, am Individuum orientierte Pflege zu realisieren, die den aktuellen pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen entspricht. Das heißt also: Die professionelle Pflege möchte den theoretischen, evidenzbasierten Anforderungen ebenso gerecht werden wie objektiv erfassbaren Pflegebedarfen und individuellen Bedürfnissen. So kann zum Beispiel eine bestimmte Pflegeintervention – wie die regelmäßige Lagerung – Hautläsionen verhindern, die seitens des aufgeklärten und einwilligungsfähigen pflegebedürftigen Menschen jedoch abgelehnt wird, aus dem Bedürfnis nach situativer Privatheit und Ruhe heraus. Das sich aus der bestehenden Diskrepanz zwischen objektivem Pflegebedarf (Hautläsionen verhindern) und individuellem Bedürfnis (nach Privatheit und Ruhe) und der bestehenden Wertepluralität ergebende Dilemma (z. B. zwischen Fürsorge und Privatheit oder zwischen Verantwortung und Selbstbestimmung) fordert eine systematisierte ethische Reflexion. Die geforderte Entscheidung bedarf – ergänzend zu der pflegefachlichen Analyse und Bewertung (Gefahr von Hautläsionen) – der pflegeethisch begründeten Positionierungen in Bezug auf das Handeln beziehungsweise in diesem Beispiel in Bezug auf das Unterlassen.
Zentrale pflegeethische Implikationen
Übergreifender Auftrag professionell Pflegender in den unterschiedlichen pflegeberuflichen Handlungsfeldern und unter den unterschiedlichen pflegeberuflichen Bedingungen ist der Schutz der physischen und psychischen Integrität aller in die Pflegesituation involvierten Personen. Wie eingangs dargelegt geht es insbesondere um den Schutz der (Menschen-)Würde aber auch um den Respekt der Autonomie und der Freiheitsrechte. Bedeutsam für den professionellen Pflegealltag ist ferner die reflektierte Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens und den damit einhergehenden vielfältigen und facettenreichen ethischen Fragestellungen und ethischen Konfliktfeldern. Dies gilt insbesondere in den spezifischen Handlungsfeldern der Intensivpflege, der Palliative Care, in Hospizen, Kliniken und der Altenhilfe. Professionelles Pflegehandeln fordert ferner den ethisch reflektierten, verantwortlichen und rechtlich sicheren Umgang mit Patientenverfügungen und anderen Formen der Vorausplanung, mit den unterschiedlichen Formen der Willensbekundung und den oftmals inhärenten Autonomie- und "Wohldiskursen". Der zunehmende professionelle Pflegebedarf von Menschen mit kognitiven Veränderungen – wie Demenzerkrankungen – fordert die sorgfältige und systematische ethische Reflexion intendierter pflegerischer Interventionen, da diese Gruppe besonders verletzlich ist und die Kommunikation vielfach nur eingeschränkt funktioniert. Die Entscheidungsfindung bei Menschen mit erschwerter Kommunikation (als häufige Folge der Demenz) und bei nicht mehr entscheidungsfähigen (älteren) Menschen wird zunehmend zu einem ethisch reflexionswürdigen Gegenstand professioneller Pflege in allen beruflichen Handlungsfeldern. Dies bezieht sich nicht nur auf die "großen ethischen Fragestellungen" (PEG ja/nein (PEG bezeichnet eine besondere Art der Magensonde: "Perkutane Endoskopische Gastrostomie"), Krankenhauseinweisung ja/nein, kurative oder palliative Therapieoptionen, Therapiezieländerungen, Sterbehilfe etc.), sondern auch auf die alltäglichen pflegebezogenen Entscheidungen in komplexen Pflegesituationen wie z. B. auf den Umgang mit motorischer Unruhe, den Umgang mit herausforderndem Verhalten (mechanische und medikamentöse Fixierung, Sedierung, Vergabe von Medikamenten etc.), aber auch auf den Schutz der Intimität und Privatsphäre, der Teilhabe und Partizipation, den Umgang mit Gewaltbereitschaft und Zwang etc.
Die in der Entscheidungssituation variierenden situativen Deutungen von Autonomie, Menschenwürde und vielfach auch von Lebensqualität, stellen potenzielle ethische Konfliktfelder dar. Ein Aspekt, der diesbezüglich ethische Spannungsfelder provozieren könnte, ist die Diskrepanz zwischen dem formulierten mutmaßlichen Willen eines Pflegebedürftigen der seitens der Angehörigen und/oder dem gesetzlichen Betreuer vertreten wird (zum Beispiel bezogen auf die Ernährung und Flüssigkeitszufuhr) und den beobachtbaren Willensäußerungen (bezogen auf Hunger und Durst), wie ihn die Pflegenden in ihrer Pflege rund um die Uhr bei dem Gegenüber registrieren. Hier können die gutgemeinte Fürsorge und das als Ausdruck von Selbstbestimmung beobachtete und interpretierte Verhalten Ausgangspunkt für einen ethischen Konflikt sein, der sich in dem Dilemma zwischen Fürsorge und Autonomie bzw. zwischen dem jeweils erfassten Willen und dem definierten Wohl konkretisieren lässt.
Pflegeethische Sensibilität manifestiert sich in Alltagssituationen, im Umgang mit den pflegebedürftigen Menschen im Rahmen der Pflegehandlungen selbst, in der Beziehung und Interaktion. Die pflegeethische Sensibilität stellt eine grundlegende ethische Kompetenz dar und ist zugleich die Voraussetzung dafür, dass ethische Konflikte in der Pflegepraxis als solche identifiziert und formuliert werden! Im Hinblick auf die stationäre Langzeitpflege bedeutet pflegeethische Sensibilität z. B. die situative Wahrung von und das Respektieren der Autonomie, die Achtung der Freiheitsrechte oder auch die sensible Abwägung zwischen dem Respekt der Privatheit und dem Angebot der Teilhabe. Die geforderte ethische Sensibilität begründet sich in diesem Setting u. a. aus den spezifischen Charakteristika einer "Totalen Institution" heraus.
Die ethische Kompetenz professionell Pflegender umfasst zudem die Sensibilität für die genuin ethischen Konfliktsituationen im Pflegealltag, aber auch im Kontext gesellschaftlicher und institutioneller Entwicklungen und Herausforderungen. Ethische Konfliktpotentiale, die das Pflegemanagement zunehmend berühren, resultieren etwa aus dem finanziellen Druck, der Knappheit der Güter im Gesundheitswesen und den damit einhergehend geforderten Prozessen der Ökonomisierung, Rationierung und Priorisierung, wie auch der Forderung nach "Nachhaltigkeit" im pflegeberuflichen Entscheiden und Handeln. Aktuelle technologische Entwicklungen im Kontext der Pflege und Betreuung (wie z. B. die "therapeutische" Robbe Paro, die in der Begegnung mit Menschen mit Demenz eingesetzt wird oder der "Care-o-bot 3",ein Roboter der in der stationären Altenhilfe eingesetzt wird, um Getränke anzureichen und zur Beschäftigung zu animieren) wie auch altersgerechte Assistenzsysteme provozieren spezifisch ethische Fragestellungen, die aufgrund des technischen Wandels den pflegebezogenen Auftrag wie auch den pflegeberuflichen Alltag tangieren und verändern.
Pflegeethische Reflexion als professioneller Auftrag
Pflegerische Ethik ist keine "besondere" Ethik. Sie ist eine Ethik, die sich auf die Besonderheiten der ethischen Fragestellungen im Pflegehandeln, in Pflegesituationen und im Rahmen der pflegebezogenen Begegnungen und Interaktionen bezieht. Sie eröffnet und fordert eine spezifische pflegeethische Reflexion. Die professionsbezogene Zuordnung konkretisiert den Auftrag an die Berufsgruppe der Pflegenden, ihr berufliches Handeln der ethischen Analyse, Reflexion und Abwägung zu unterziehen sowie sensibel zu sein für ethische Fragestellungen im Handlungsvollzug und in den pflegebezogenen Kontexten. Pflegerische Ethik grenzt sich, so verstanden, nicht primär inhaltlich von anderen Berufsgruppen ab, was vor dem Hintergrund der Prämisse interdisziplinären Handelns auch nicht erstrebenswert erscheint. Abgrenzung erfolgt vielmehr in Bezug auf den pflegeberuflichen Auftrag selbst und die originäre Rolle der Pflegenden im interdisziplinären Versorgungssetting. Ziel pflegerischer Ethik ist es, Ethik als genuinen Gegenstand professionellen Pflegehandelns zu registrieren und ethische Reflexion und ethisch begründetes Handeln verantwortungsvoll zu praktizieren. Im speziellen Fokus der Pflegeethik steht deshalb neben der Individuums- auch die Werteorientierung. Beide sind im Rahmen professionellen Pflegehandelns sowie pflegefachlicher Beziehungsgestaltung einzufordern.
Die Konsequenz der Identifikation eines ethischen Spannungsfeldes, wie in den beschriebenen Beispielen der Ernährung und Flüssigkeitszufuhr (vgl. o.: PEG) oder der Hautläsion, fordert ein, dass das situativ entstehende ethische Dilemma – bestenfalls im Rahmen einer interdisziplinären ethischen Fallbesprechung – systematisch reflektiert wird. Das Spannungsfeld zwischen den beiden konfligierenden Werten (hier: Autonomie und Fürsorge), das ethische Dilemma aufgrund der unterschiedlichen Einschätzungen von Wille und Wohl des pflegebedürftigen Menschen, ist zugleich der zentrale Gegenstand der ethischen Fragestellung und Ausgangspunkt für eine ethische Fallbesprechung. Ethische Fallbesprechungen sind demzufolge zentrale, strukturierende Verfahren im professionellen Pflegehandeln, um zu ethisch guten, normativ richtigen, transparenten und für alle Beteiligten akzeptablen Entscheidungen zu kommen. Ethische Fallbesprechungen werden ebenfalls in den bereits genannten Chartas eingefordert. So empfiehlt z. B. die Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland "in Entscheidungssituationen (...), in denen Wertekonflikte bestehen oder der mutmaßliche Wille erforscht werden muss, sind ethisch und rechtlich reflektierte, dialogische Verfahren der Entscheidungsfindung zu verankern."
Ethische Reflexion im Pflege- und Versorgungsalltag
Ethische Reflexion und ethische Konsentierung sind grundlegend dafür, dass die jeweilige Pflegehandlung als ethisch legitime Maßnahme akzeptiert und als ethisch begründete Handlung realisiert werden kann (Bezug nehmend auf das o. g. Beispiel: von den Angehörigen, gesetzlichen Betreuern und den professionell Pflegenden). Im Kontext der systematischen ethischen Reflexion gilt es, die jeweils leitenden Werteorientierungen zu erfassen (Perspektivität der Beteiligten und Betroffenen). Es stellen sich hier u. a. folgende Fragen: Welche Werte sind in der Situation beteiligt und betroffen (Autonomie/Selbstbestimmung, Fürsorge; geht es um den Schutz der Menschenwürde oder um den Respekt der Freiheitsrechte? etc.)? Welcher Wert leitet wen in Bezug auf die Argumentation hinsichtlich bestehender Handlungs- und Entscheidungsoptionen? Hier kann für die Angehörigen/gesetzlichen Betreuer situativ ein anderer Wert argumentativ leitend sein als für die professionell Pflegenden (perspektivische Varianz). Ferner stellen sich die Fragen: Welcher Wert repräsentiert und beansprucht in der Situation Wahrheit und Gültigkeit? Welche Orientierung ist leitend – eher eine deontologische oder eher eine teleologische Ausrichtung? In der ethischen Reflexion gilt es, die Konsequenzen der jeweiligen Werteorientierung vorwegzunehmen (welche Folge hat die Orientierung an der Selbstbestimmung, welche Konsequenzen ergeben sich aus der Orientierung an der Fürsorge und welche Handlungsoptionen folgen aus der Orientierung an der Gerechtigkeit?). Die Wertekonflikte sind systematisiert abzuwägen (z. B. zwischen dem Wert der Selbstbestimmung und der Fürsorge), um dem Anspruch an eine ethisch reflektierte und ethisch fundierte Entscheidung gerecht zu werden. Diese komplexe Entscheidung kann systematisierend durch eine ethische Fallbesprechung erfolgen.
Pflegende sind angehalten, Verantwortung für eine würdevolle und verantwortliche, aber auch für eine ethisch begründete Pflege zu übernehmen, und zwar aus dem genuinen pflegeberuflichen Auftrag heraus. Sukzessive etablieren sich Verfahren und Instrumente der Ethikberatung auch außerhalb des klinischen Settings, wie z. B. in Altenhilfeeinrichtungen und Hospizen. In allen Handlungsfeldern spielt die professionelle Pflege und Betreuung im Kontext einer qualitätvollen Versorgung eine maßgebliche Rolle, demzufolge auch die pflegeethische Perspektive im Rahmen der ethischen Entscheidungsfindung. Das heißt: Die Profession Pflege ist (auf-)gefordert, ihrer pflegeberuflichen Verantwortung noch stärker nachzukommen und sich an Prozessen ethischer Reflexion und Entscheidungsfindung aktiv zu beteiligen. Die Pflegenden sind aufgefordert, die spezifischen pflegebezogenen ethischen Gesichtspunkte, die pflegeethische Expertise wie auch die aus ihrer Perspektive beteiligten Wertekonflikte im Sinne einer guten Entscheidung in den interdisziplinären ethischen Entscheidungsfindungsprozess (z. B. im Rahmen ethischer Fallbesprechungen und/oder der Ethik-Leitlinienentwicklung) konsequent einzubringen. Diese Initiative sollte zum einen aus dem pflegeberuflichen Interesse heraus erfolgen, die pflegerelevanten Entscheidungen und das eigene Pflegehandeln ethisch begründen zu können, und zum anderen sollte sie dazu dienen, dem "Moral Distress" aktiv entgegenzuwirken bzw. diesem etwas entgegenzusetzen. Denn – dies ist zwischenzeitlich nachgewiesen – "Moral Distress" führt langfristig zu einer erheblichen Belastung bis hin zum Burn-out und zum Berufsausstieg. Sowohl etablierte systematisierte Formen der ethischen Reflexion wie auch gesundheitsförderliche und entlastende Maßnahmen können dieser enormen und nachhaltigen Belastung etwas entgegensetzen und zur moralischen Resilienz beitragen. Hier sind insbesondere die Einrichtungen, Dienste, die Träger und Arbeitgeber ihren Mitarbeitern gegenüber verpflichtet – möglicherweise sogar ethisch verpflichtet! – im Sinne ihres Fürsorgeauftrages für die Pflegenden, die alltäglich für die pflegebedürftigen Menschen Außerordentliches leisten.