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Vier Jahrzehnte afghanischer Flucht und Vertreibung | Afghanistan | bpb.de

Vier Jahrzehnte afghanischer Flucht und Vertreibung

Susanne Schmeidl

/ 18 Minuten zu lesen

Nach Jahren konfliktbedingter Vertreibung ist Mobilität für weite Teile der Bevölkerung Afghanistans zur Regel geworden. Angesichts andauernder sozialer, politischer, wirtschaftlicher und sicherheitsrelevanter Probleme wird sich dies in naher Zukunft nicht ändern.

Behelfsmäßiges Flüchtlingslager in Kabul. Das hohe Maß an Binnenmobilität und zurückgekehrten Flüchtlingen lässt sich am rasanten Wachstum von Afghanistans Städten ablesen. (© picture-alliance/AP)

In 2001 wurde das Taliban-Regime in Interner Link: Afghanistan unter der Führung der USA militärisch gestürzt. Bis zu diesem Zeitpunkt galt Afghanistan für mehr als zwei Jahrzehnte als ein Land mit einer der größten Flüchtlingskrisen der Welt. Trotz konzertierter Anstrengungen, Flüchtlinge wieder zurückzuführen (nach 2001 und in jüngerer Zeit seit 2016), blieb Afghanistan das Hauptherkunftsland von Interner Link: Flüchtlingen, bis Mitte 2014 Interner Link: Syrien diese Position einnahm. Nach Angaben des Interner Link: UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) kamen 2017 zwei Drittel (68 Prozent) aller Flüchtlinge weltweit aus nur fünf Ländern. Dabei nimmt Afghanistan weiterhin den zweiten Platz ein. Die afghanische Flüchtlingskrise gilt als eine der größten lang andauernden Flüchtlingssituationen weltweit.

Langwierige Flüchtlingssituationen

Von einer lang andauernden (bzw. langwierigen) Flüchtlingssituation (protracted refugee situation) spricht man laut UNHCR, "wenn 25.000 oder mehr Flüchtlinge der gleichen Nationalität über einen Zeitraum von fünf oder mehr Jahren in einem bestimmten Asylland im Exil leben." In diesen Situationen finden sich Flüchtlinge in einem dauerhaften Schwebezustand und sind oft nicht in der Lage, sich aus ihrer Abhängigkeit von externer Hilfe zu befreien.

Flucht- und Vertreibungssituationen sind deshalb langwierig, weil keine dauerhaften Lösungen (z.B. eine sichere Rückkehr in das Heimatland, eine lokale Integration im Aufnahmeland oder eine Interner Link: Neuansiedlung im Ausland) gefunden wurden und auch in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich sind. Hierdurch bleiben "sowohl die Grundrechte als auch die wesentlichen wirtschaftlichen, sozialen und psychologischen Bedürfnisse" der Flüchtlinge "nach Jahren im Exil unerfüllt".

Ende 2017 gab es weltweit 13,4 Millionen Flüchtlinge in Langzeitvertreibung. Drei Millionen davon befanden sich bereits 38 Jahre oder länger in solch einer Situation, darunter 2,3 Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan und Iran.

Fußnoten

  1. Ebenda, S. 22. Zitat ins Deutsche übersetzt.

  2. UNHCR (2004): Protracted Refugee Situations. Executive Committee of the High Commissioner’s Programme, Standing Committee, 30th Meeting, UN Doc. EC/54/SC/CRP.14, 10. Juni 2004, S. 1. Externer Link: http://www.unhcr.org/excom/standcom/40c982172/protracted-refugee-situations.html (Zugriff: 8.10.2018).

Afghanistans Flucht- und Vertreibungsgeschichte

Afghaninnen und Afghanen nutzen Mobilität seit langem als Überlebensstrategie oder als soziale, wirtschaftliche und politische Absicherung, um ihre Existenzgrundlagen zu verbessern oder Konflikten und Naturkatastrophen zu entkommen. Teile der afghanischen Bevölkerung haben schon immer einen nomadischen Lebensstil geführt. Berichte über die Migration von Hazara-Familien in den Iran existierten bereits im 19. Jahrhundert. In ähnlicher Weise bewegten sich paschtunische Stämme zwischen Pakistan und Afghanistan, nachdem das Britische Weltreich Paschtunistan zwischen den beiden Ländern aufgeteilt hatte.

Auch der blutige Staatsbildungsprozess des Landes führte zu diversen Binnenwanderungen (einschließlich Zwangsumsiedlungen) im Rahmen der "Paschtunisierungspolitik" afghanischer Könige. Es sollte die geografische Reichweite der herrschenden Stämme erweitert werden, während gleichzeitig rivalisierende Stämme und ethnische Gruppen zurückgedrängt und zersplittert wurden. Einige dieser umgesiedelten Paschtunen im Norden Afghanistans wurden während des Bürgerkriegs Anfang der 1990er Jahre von Mudschaheddin-Fraktionen und erneut nach dem Sturz der Taliban in 2001 gewaltsam vertrieben.

In der jüngeren Geschichte gab es mehrere Vertreibungsphasen, verbunden mit dem Interner Link: fast vier Jahrzehnte andauernden Bürgerkrieg, der 1978 mit dem von der Sowjetunion unterstützten Staatsstreich (Saur- oder Aprilrevolution) begann. In intensiven Phasen des Konflikts erlebte Afghanistan eine Mischung aus internen und grenzüberschreitenden Fluchtbewegungen. Auf die freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen während den kurzen Phasen der Stabilisierung folgte oft erneute Auswanderung, wenn sich der Konflikt wieder verschärfte. Manchmal ereigneten sich Vertreibung und freiwillige Rückkehr gleichzeitig, abhängig von der Art und der geographischen Konzentration der Bedrohung. Das Ausmaß und die Geschwindigkeit dieser Völkerwanderungen variierten in den sieben Mobilitätsphasen (siehe Tabelle und Abbildung 1). In den meisten Phasen war die Vertreibung ins Ausland viel umfangreicher als die Binnenvertreibungen. Dieser Trend scheint sich langsam zu ändern, möglicherweise aufgrund zunehmend eingeschränkter Asylmöglichkeiten für Afghaninnen und Afghanen.

Abbildung 1: Umfang der Flucht, Vertreibung und Rückkehr von Afghaninnen und Afghanen (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Bis zur jüngsten Vertreibungsphase, die 2015 begann, hatte jeder zweite Afghane mindestens eine (viele sogar mehrfache) Vertreibungserfahrung(en) gemacht . Die meisten Familien haben Verwandte oder Freunde im Ausland. Daher ist das afghanische Leben stark von einer "Kultur der Migration" geprägt, in der Mobilität – und nicht Ortsgebundenheit – die Norm ist. Für einige junge Männer ist Mobilität sogar ein Übergangsritus, der den Schritt ins Erwachsenenalter markiert. All das hat umfangreiche Netzwerke und reichhaltige Wissensbestände über Migrationsrouten, -kosten und -ziele geschaffen, auf die sich potenziell mobile Afghaninnen und Afghanen (Interner Link: Migranten, Interner Link: Asylsuchende etc.) stützen können.

Zwangsmigration in Afghanistan nach dem Rückzug der internationalen Truppen 2014

Wie von vielen Beobachtern vermutet, beschleunigte der Interner Link: 2014 in Afghanistan stattfindende politische, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Übergangsprozess interne und externe Vertreibung und Migration , die in den Jahren 2015 und 2016 sichtbar zunahmen. Seit 2014 lassen sich in Bezug auf Flucht und Vertreibung drei Entwicklungstendenzen beobachten:

  1. Die Asylmigration nach Europa ist in den Jahren 2015 und 2016 angestiegen, läasst aber seit 2017 wieder nach. Die Flüchtlingszahlen in Iran und Pakistan blieben in etwa konstant.

  2. Die Binnenvertreibung nimmt stetig zu.

  3. Seit 2016 gibt es eine neue Welle der (nicht immer freiwilligen) Rückkehr von Flüchtlingen, besonders aus Pakistan und Iran, aber auch aus Europa.

Diese gleichzeitig stattfindenden Zu- und Abwanderungsbewegungen verweisen auf die anhaltende Konfliktsituation in Afghanistan. Es gibt kaum vielversprechende Anzeichen dafür, dass sich diese Situation und die damit verbundene Vertreibung in absehbarer Zeit ändern werden.

Neben der mit dem Konflikt verbundenen Migration ist Afghanistan auch für häufige Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Schneelawinen, Erdrutsche und Erdbeben bekannt. Diese führen zu regelmäßig wiederkehrenden Vertreibungen von ungefähr 200.000 Menschen pro Jahr. Das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (Interner Link: OCHA) der Vereinten Nationen berichtete, dass zwischen dem 2. Januar und 8. Oktober 2018 251.207 Menschen aufgrund von Naturkatastrophen (hauptsächlich aufgrund von Dürre) vertrieben wurden. Es waren insgesamt 27 der 34 afghanischen Provinzen betroffen. Allerdings sind viele dieser Migrationen nur vorübergehend, da die Menschen nach der Entschärfung der Situation nach Hause zurückkehren.

Ein Hinweis zu den Zahlen

Die Sicherheitssituation in Afghanistan ist – wie in jedem Konfliktland – unbeständig und erschwert den Zugang zu genauen Statistiken und Datenerhebungen. Es ist besonders schwierig, eine sich ständig in Bewegung befindende Bevölkerung zu erfassen, auch wenn sich die Methoden mit der Zeit verbessert haben. Das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) stellt fest, dass "der eingeschränkte humanitäre Zugang die Einschätzung erschwert und daher die Erfassung des gesamten Ausmaßes von Flucht und Vertreibung verhindert". Viele Vertreibungssituationen sind stark politisiert und lassen ein recht "fluides konzeptionelles Terrain" entstehen hinsichtlich der Frage, wer in die Zählung einfließt und welcher Kategorie er/sie zugeordnet wird (z.B. Flüchtling, Binnenvertriebener oder irregulärer Migrant).

Fußnoten

  1. Zitat ins Deutsche übersetzt. OCHA (2018): Afghanistan: Conflict Induced Displacements (as of 31 October 2018). Externer Link: https://www.humanitarianresponse.info/en/operations/afghanistan/idps (Zugriff: 2.11.2018).

  2. Schmeidl S. (2016): Deconstructing Afghan Displacement Data: Acknowledging the Elephant in the Dark. Migration Policy Practice, Jg. 7, S. 10–16, S. 12.

Flucht und Vertreibung ins Ausland

Die Flucht und Vertreibung von Afghaninnen und Afghanen ins Ausland – insbesondere von denjenigen, Interner Link: die in Europa Asyl beantragten – erlebte 2015 einen Anstieg, möglicherweise angespornt durch die syrische Massenflucht im selben Jahr. Laut UNHCR suchten zwischen 2015 und 2017 fast eine Millionen Afghaninnen und Afghanen (962.000) weltweit Asyl, wobei die höchsten Zahlen in den Jahren 2016 (369.000) und 2017 (334.000) gemeldet wurden. Von den laut UNHCR ca. 260.000 afghanischen Asylsuchenden im Jahr 2015 suchten laut Eurostat knapp zwei Drittel (181.400) Asyl in der EU (mehr als vier Mal so viele wie 2014). Ungarn, Schweden, Deutschland und Österreich waren die bevorzugten Zielländer. Obwohl die Zahlen in den letzten zwei Jahren zurückgegangen sind (2017 und auch 2018), bilden Afghaninnen und Afghanen weiterhin die zweitgrößte Gruppe von Personen, die in Europa einen Erstantrag auf Asyl stellen.

Deutschland ist das Land, das 2015 die meisten Asylerstanträge von Afghaninnen und Afghanen registrierte; insgesamt rund 187.355 Anträge in den letzten vier Jahren (2015-2018), gefolgt von Ungarn (insgesamt 58.940), Schweden (insgesamt 46.675) und Österreich (insgesamt 42.240). Griechenland fungierte weitgehend als Transitland, obwohl eine erhebliche Anzahl afghanischer Schutzsuchender noch dort ausharrt.

2015 lag die Zahl der tatsächlich eingereisten Afghaninnen und Afghanen höher als die Zahl der registrierten afghanischen Asylantragstellenden. Das trifft zumindest auf Deutschland zu, wo ungefähr 154.000 afghanische Staatsangehörige eintrafen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war aber lediglich in der Lage, 31.382 von ihnen als Interner Link: Asylbewerber zu registrieren; der Rest (127.012) wurde den Asylbewerberzahlen 2016 zugeordnet.

Deutschland verzeichnete 2015 aus drei zentralen Gründen die größte Anzahl afghanischer Asylsuchender: 1) wegen der anfänglichen Politik der "offenen Tür" und Berichten über Möglichkeiten, als Asylbewerber registriert und anerkannt zu werden, 2) wegen bestehender Netzwerke (Deutschland hat die größte Interner Link: afghanische Diasporagemeinschaft Europas) und 3) wegen zunehmend schärferer Grenzkontrollen in anderen EU-Asylländern (z.B. Interner Link: Schweden).

Abbildung 2: Asylanträge von Afghaninnen und Afghanen in ausgewählten europäischen Ländern (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Unter den Nicht-EU-Staaten ist es die Interner Link: Türkei, die zwischen 2015 und 2017 die Mehrzahl aller afghanischen Asylanträge entgegengenommen hat: insgesamt 362.000. Dabei haben dort 2017 mehr Afghaninnen und Afghanen Asylanträge (157.000) gestellt als in den zwei vorangegangenen Jahren (2015 waren es 90.000 und 2016 115.000) (siehe Abbildung 2).

Pakistan und Iran beherbergen mit ungefähr 90-95 Prozent die meisten afghanischen Flüchtlinge (oder Afghaninnen und Afghanen in flüchtlingsähnlichen Situationen). Die Zahl der dort lebenden geflüchteten Personen aus Afghanistan ist zwischen 2015 und 2017, trotz erheblicher Rückwanderung, mehr oder weniger konstant geblieben (1,4-1,5 Millionen in Pakistan und ungefähr 950.000 im Iran).

Flucht und Vertreibung innerhalb Afghanistans

Flucht und Vertreibung innerhalb Afghanistans haben während der letzten Jahre stetig zugenommen (siehe Abbildung 3): 2015 wurden etwa 384.000 Individuen gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen; 2016 waren es 675.000 Personen und 2017 510.000. Ende 2017 schätzte das Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) die Gesamtzahl der Interner Link: Binnenvertriebenen in Afghanistan auf etwa 1,3 Millionen. Ferner ist die Rückkehr von Binnenvertriebenen deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben und stellt damit bisherige Annahmen infrage, die davon ausgingen, dass konfliktbedingte Vertreibungen innerhalb des Landes lediglich temporärer Natur seien.

Abbildung 3: Entwicklung der konfliktbedingten Vertreibungen innerhalb Afghanistans (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Bis zum 25. Dezember 2018 hatten weitere rund 350.000 Afghaninnen und Afghanen ihr Zuhause aufgrund von Konflikten verlassen; 32 von 34 Provinzen meldeten Vertreibungen. Eine anhaltende Dürre erschwerte die Situation zusätzlich, was weitere 81.000 Menschen dazu veranlasste, ihre Heimatorte zu verlassen. Damit lässt sich die Anzahl von Binnenvertriebenen in Afghanistan auf ungefähr 1,8 Millionen beziffern. Ergebnisse einer jüngeren Untersuchung der Interner Link: Internationalen Organisation für Migration (IOM) legen eine noch höhere Zahl nahe. Die dritte Runde des Displacement Tracking Matrix (DTM) Baseline Mobility Assessment der IOM identifizierte allein 1,7 Millionen Binnenvertriebene in 15 der insgesamt 34 Provinzen Afghanistans – Heimat von schätzungsweise 50 Prozent der afghanischen Bevölkerung.

Laut eines aktuellen Berichts finden sich unter den Binnenvertriebenen viele Afghaninnen und Afghanen, die zuvor als Flüchtlinge oder undokumentierte Migranten im Ausland gelebt hatten und nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan erneut vertrieben wurden, weil sie "in den Krieg und nicht den Frieden" zurückkehrten. Dies steht im Einklang mit den Ergebnissen der sich auf 15 Provinzen beziehenden Untersuchung der IOM, die herausfand, dass eine von sechs dort lebenden Personen entweder eine zurückgekehrte oder binnenvertriebene Person ist (entspricht insgesamt 3,5 Millionen Personen).

Obwohl die Vertreibung innerhalb Afghanistans kontinuierlich anhält, trägt Afghanistan lediglich einen Bruchteil zu den weltweit geschätzt 5,5 Millionen neuen Binnenvertriebenen im Jahr 2018 bei. Das Land belegt im Hinblick auf die Zahl der Binnenvertriebenen den achten Platz.

Rückkehr nach Afghanistan

Seit 2016 ist die Zahl der nach Afghanistan zurückkehrenden Flüchtlinge erneut gestiegen und signalisiert, dass es in der Region immer weniger "sichere Häfen" für Afghaninnen und Afghanen gibt. Obwohl Iran und Pakistan seit Jahrzehnten Menschen aus Afghanistan aufgenommen haben, die vor Konflikten flohen oder Arbeit suchten, zeigen beide Länder Anzeichen von "Flüchtlingsmüdigkeit" (refugee fatigue). Dies verdeutlicht die unverhältnismäßige Last: Seit mehr als drei Jahrzehnten haben beide Länder die Mehrzahl der afghanischen Flüchtlinge aufgenommen.

Abbildung 4: Rückkehr von Afghaninnen und Afghanen aus Pakistan und Iran (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/

Nachdem sich 2006 die Interner Link: Rückkehr von Flüchtlingen nach Afghanistan abgeschwächt hatte, verstärkten Pakistan und Iran nach 2014 den Druck auf afghanische Flüchtlinge, in ihre Heimat zurückzukehren. Zunächst legten sie dabei den Schwerpunkt nur auf afghanische Migrantinnen und Migranten ohne Papiere (siehe Abbildung 4). Im Jahr 2016 stieg der Druck von Seiten Pakistans, welches 373.000 registrierte Flüchtlinge und 693.000 undokumentierte Afghaninnen und Afghanen dazu zwang, das Land zu verlassen (siehe Abbildung 4). Zu dieser Million traten 2017 weitere 610.000 Rückkehrerinnen und Rückkehrer hinzu (60.000 registrierte afghanische Flüchtlinge und 550.000 sich illegal im Land aufhaltende Migrantinnen und Migranten). Laut Human Rights Watch stellte diese Zwangsrückkehr die weltweit "größte rechtswidrig erzwungene Massenrückführung von Flüchtlingen in jüngster Zeit dar".

Auch in Europa ist der Druck zur Rückkehr nach Afghanistan gestiegen. Viele europäische Länder waren mit der Zahl der ankommenden Flüchtlinge überfordert. Eine wachsende einwanderungsfeindliche Stimmung und populistische Politiken unterstützten einen "harten Kurs gegen afghanische Asylsuchende". Daten des European Council on Refugees and Exiles (ECRE) weisen daraufhin, dass die Anerkennungsquoten für afghanische Asylsuchende seit 2015 rückläufig sind. Am deutlichsten zeigt sich dies in Norwegen, wo die Anerkennungsquote von 82 Prozent im Jahr 2015 auf 35 Prozent im Jahr 2017 gesunken ist. Daten der europäischen Statistikbehörde Eurotstat ergeben zudem, dass 2017 in der EU durchschnittlich 40 Prozent der afghanischen Asylbewerberinnen und Asylbewerber abgelehnt wurden. Frankreich hatte eine Ablehnungsquote von fast 80 Prozent – eine Quote, die der in Schweden entsprach. Niedriger waren die Ablehnungsquoten in anderen Ländern (z.B. 35 Prozent in Deutschland, 36 Prozent in Italien und 20 Prozent in Belgien). Einige Quellen schätzen, dass seit 2015 bis zu 400.000 afghanischen Asylsuchenden kein Asyl in Europa gewährt wurde. Obwohl die Rückkehrstatistiken der EU lückenhaft sind, schätzt Amnesty International, dass 2015 etwa 3.300 Afghaninnen und Afghanen aus Europa in ihre Herkunftsland zurückgeführt wurden und weitere 9.600 im Jahr 2016. Die New York Times zitiert afghanische Beamte, die von 17.000 Rückführungen aus der Türkei in der ersten Jahreshälfte 2018 sprechen.

Manche Afghaninnen und Afghanen waren im letzten Jahrzehnt mehrfach auf der Flucht und sind evtl. auch mehrfach in ihr Land zurückgekehrt. Zählt man diejenigen, die bis Ende 2013 nach Afghanistan zurückkehrten (ungefähr 5,7 Millionen) mit den in jüngerer Zeit (freiwillig oder unfreiwillig) Zurückgekehrten zusammen, dann liegt die Zahl der Rückkehrerinnen und Rückkehrer bei knapp zehn Millionen. Für ein Land, das an mehreren Fronten kämpft (Politik, Konflikt, Sicherheit), ist dies keine einfache Aufgabe. Hinzu kommt, dass viele Flüchtlinge nicht in ihre Heimatorte zurückkehren, sondern in die Städte, wo sie sich mehr Sicherheit und bessere Dienstleistungen versprechen.

Trend: Die Urbanisierung von Flucht und Vertreibung

Das hohe Maß an Binnenmobilität und zurückgekehrten Flüchtlingen lässt sich am rasanten Wachstum von Afghanistans Städten ablesen. Die Interner Link: Hauptstadt Kabul ist der größte Anziehungspunkt und nimmt fast die Hälfte (49 Prozent) aller Binnenmigrantinnen und -migranten auf. Das zweite große Ziel für Binnenvertriebene und Rückkehrer ist die Provinz Nangarhar im Osten des Landes an der afghanisch-pakistanischen Grenze mit ihrer Hauptstadt Dschalalabad. Ebenso hat Kandahar im Süden Afghanistans viele Menschen aufgenommen, die 2017 während der Kämpfe gezwungen wurden, die Provinzen Helmand und Urusgan zu verlassen.

Der Bericht "State of Afghan Cities 2015" schätzt, dass etwa acht Millionen Afghaninnen und Afghanen (d.h. eine von vier Personen) in Städten leben. Es wird erwartet, dass sich diese Zahl innerhalb der nächsten 15 Jahre verdoppelt. 2060 werden 50 Prozent der gesamten afghanischen Bevölkerung in Städten leben. In Anbetracht der Tatsache, dass die meisten Binnenvertriebenen und zurückgekehrten Flüchtlinge im Laufe der letzten drei bis vier Jahre in Städte gezogen sind, könnte sich die aktuelle Zahl der urbanen afghanischen Bevölkerung bereits annähernd auf zehn Millionen belaufen. Die 50-Prozent-Marke könnte also schon früher als erwartet erreicht werden.

Die Städte haben mit der Aufnahme des rasanten Zustroms von Migrantinnen und Migranten aus ländlichen Gebieten, Binnenvertriebenen und zurückkehrenden Flüchtlingen zu kämpfen. Es wird daher geschätzt, dass gut 70 Prozent der Menschen, die in die Städte ziehen, in informellen Siedlungen, also im Grunde genommen in Slums, enden. Genau dort verschmelzen sie mit den städtischen Armen und leben in beengten und schwierigen Verhältnissen, ohne ausreichenden Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Beschäftigung.

Fluchtursachen und Zukunftsperspektiven

Nach 2014 hat sich der Konflikt in Afghanistan erneut verschärft, sodass Afghaninnen und Afghanen mit großer Verunsicherung hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, in Afghanistan zu leben, konfrontiert sind. Es gibt Bedenken in Hinblick auf die politische Stabilität und die sich verschlechternde Sicherheitslage. Mit jedem Jahr steigt die Zahl der zivilen Opfer, die Mitte 2018 ihren historischen Höchststand erreichte. 70 Prozent der Bevölkerung äußern Besorgnis über ihre persönliche Sicherheit. Zudem ist das Land mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert, die in den von den Vereinten Nationen entworfenen Interner Link: Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals oder SDGs) beschrieben sind, einschließlich Armut, Hunger, Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, produktive Vollbeschäftigung, Ungleichheit, nachhaltige Städte, und vor allem friedliche und inklusive Gesellschaften.

All diese Faktoren zusammengenommen prägen "die Bedingungen, Verhältnisse oder die Umwelt, in der Menschen die Entscheidung darüber treffen, ob sie abwandern oder nicht, oder ob ihnen solche Entscheidungen aufgezwungen werden." Angesichts anhaltender Flucht und Vertreibung, erscheint es derzeit unwahrscheinlich, dass sich die Situation in Afghanistan erheblich verbessern wird. Vor dem Hintergrund der sich zunehmend restriktiv gestaltenden Situation in Europa müssen möglicherweise neue Zielländer erschlossen werden. Mit 64 Prozent aller Afghaninnen und Afghanen unter 25 Jahren hat Afghanistan eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt. Es sind diese jungen Menschen, die am stärksten desillusioniert sind, in einem Land, das nicht vorankommt, und wo ihre Stimmen traditionell kein Gehör finden. So ist es vielleicht nicht überraschend, dass laut einer Erhebung der Asia Foundation 2017 zwei Drittel aller Afghaninnen und Afghanen ihr Land verlassen würden, wenn sie dazu die Möglichkeit erhielten. Angesichts mangelnder Zukunftsperspektiven werden viele junge Afghaninnen und Afghanen den Wunsch hegen, das Land zu verlassen. Allerdings können sich viele von ihnen eine Migration ins Ausland nicht leisten. Zudem haben sie nur geringe Chancen, in einem gewünschten Zielland aufgenommen zu werden. Das bedeutet, dass die Entwicklung von Flucht- und Vertreibungstendenzen zukünftig weitgehend durch mangelnde Ausreiseoptionen beeinflusst wird. Dies führt zu mehr Binnenvertreibung (einschließlich sekundärer Vertreibungen von Zwangsrückkehrerinnen und -rückkehrern), bis sich neue Möglichkeiten der Zuflucht eröffnen oder sich die Sicherheitslage im Land verbessert.

Übersicht über Phasen von Flucht und Vertreibung aus Afghanistan

Zeitraum KonfliktereignisMigrationsmuster
AusgangslageArbeitsmigration innerhalb des Landes und ins Ausland; sowohl befristet und saisonbedingt als auch langfristig.
Phase 1
(1978–1989)
Die Saur-Revolution bringt die Demokratische Volkspartei Afghanistans an die Macht;
anschließender Krieg der Mudschaheddin gegen die sowjetunterstützte Regierung;
Rückzug der sowjetischen Armee (1989).
  • Massenflucht ins Ausland, die nach 1979 stetig zunimmt und mit über sechs Millionen Geflüchteten 1989 ihren Höhepunkt erreicht.

  • Zunahme der Binnenvertreibung ab 1985.

  • Phase 2
    (1990–1995)
    Anhaltender Krieg gegen die kommunistische Regierung, die 1992 besiegt wird.
    Aufgrund einer Auseinandersetzung über die Machtteilung unter den Mudschaheddin-Parteien und des Chaos in vielen Teilen des Landes bricht der Bürgerkrieg aus. Die Taliban beteiligen sich 1994 an dem Krieg, rücken 1995 weiter vor und gewinnen an Kontrolle.
  • Erste große Welle der Rückkehr von Flüchtlingen, die 1989 langsam anläuft und ihren Höhepunkt 1992 erreicht, als vermeldet wird, dass etwa 1,2 Millionen Flüchtlinge innerhalb von sechs Monaten in ihre Heimat zurückkehren.1 Etwa drei Millionen Flüchtlinge kehren zwischen 1989 und 1993 zurück: 2,5 Millionen allein 1992/1993.

  • Während der Bürgerkrieg tobt (hauptsächlich in Afghanistans Städten, insbesondere in Kabul), gibt es nach 1993/1994 einen erneuten Anstieg der Binnenvertreibung, der anhält, bis die Taliban 1996 an die Macht kommen. Ein Großteil der Vertreibungen (insbesondere innerhalb der Städte) taucht niemals in der Statistik zu Binnenvertriebenen auf, die über mehrere Jahre konstant bei einer Million verweilt.

  • Erneute Flucht ins Ausland, die jedoch von der Anzahl der Rückkehrerinnen und Rückkehrer kompensiert wird.

  • Phase 3
    (1996–2000)
    Die Taliban erlangen 1996 die Kontrolle über Kabul;
    sie errichten in der Folge ein strenges Regime.
  • Erneute Rückkehr von Flüchtlingen, die aber zahlenmäßig geringer ausfällt (nur etwa 900.000).

  • Das Ausmaß der Vertreibung innerhalb Afghanistans steigt wieder an, ebenso wie die Flucht ins Ausland (etliche Afghaninnen und Afghanen verlassen das Land zum ersten Mal). Die Zahl der Binnenvertriebenen steigt im Jahr 2000 weiter an, als Afghanistan von der schlimmsten Dürre seit 30 Jahren heimgesucht wird, die zu enormen Viehverlusten bei den Kutschi-Nomaden führt und viele von ihnen dazu veranlasst, ein eher sesshaftes Leben zu führen – zumeist in Pakistan.

  • Phase 4
    (2001–2002)
    Nach den Terroranschlägen vom 11. September kommt es zur US-geführten militärischen Intervention mit dem Ziel, die Taliban-Regierung zu entfernen;
    die Nordallianz nimmt Kabul ein.
  • Etwa 1,5 Millionen Afghaninnen und Afghanen fliehen innerhalb weniger Wochen aufgrund der US-Luftangriffe und des anschließenden Bodenkampfs.

  • Binnenvertreibung von Paschtunen, die Ziel von Vergeltungsangriffen in Nord- und Westafghanistan werden.

  • Phase 5
    (2002–2006)
    Petersberg-Prozess;
    Übergangsregierung;
    neue Regierung.
  • Größte UN-unterstützte Flüchtlingsrückkehr seit Beginn der Aufzeichnungen; insgesamt kehren etwa fünf Millionen Flüchtlinge nach Afghanistan zurück, die meisten zwischen 2002 und 2005.

  • Gleichzeitig kehrt die Mehrzahl der 1,2 Millionen Binnenvertriebenen ebenfalls in ihre Heimatorte zurück; es wird angenommen, dass ihre Reintegration zufriedenstellend verlaufen ist.

  • Phase 6
    (2007–2014)
    Die Regierung verliert zunehmend ihre Legitimität;
    Aufstände leben wieder auf, die Sicherheitslage verschlechtert sich und die Gewalt nimmt zu.
  • Die Rückkehr von Flüchtlingen verlangsamt sich. Ungefähr eine Million kehren zwischen 2006 und 2008 zurück. Zwischen 2009 und 2013 sind es "nur" 427.561 Rückkehrerinnen und Rückkehrer.

  • Unzureichende Reintegration von Flüchtlingen trägt zu einer wachsenden Binnenvertreibung bei. UNHCR erstellt 2008 zum ersten Mal ein Profil der Gruppe der Binnenvertriebenen. Bis Mitte 2014 liegt die Zahl der Binnenvertriebenen bei fast 700.000; davon ist die Hälfte seit mindestens 2011 vertrieben; pro Jahr werden etwa 100.000 Afghaninnen und Afghanen zu Binnenvertriebenen.

  • Erneute Massenflucht ins Ausland.

  • Phase 7
    (2015–heute)
    Der politische (Wahlen) und sicherheitspolitische Übergang führt zu einer drastischen Verschlechterung der Sicherheitslage sowie der wirtschaftlichen Situation.
  • Die angrenzenden Länder Iran und Pakistan beschleunigen die Rückkehr/Abschiebung afghanischer Flüchtlinge.

  • Die Flucht ins Ausland nimmt mit 962.000 Afghaninnen und Afghanen, die zwischen 2015 und 2017 Asyl suchen, wieder zu.

  • Steter Anstieg der Vertreibung innerhalb des Landes; im Durchschnitt werden pro Jahr etwa 450.000 Menschen zu Binnenvertriebenen; 2018 beläuft sich die Zahl der afghanischen Binnenvertriebenen auf geschätzte 1,8 Millionen.

  • Etwa vier Millionen Afghaninnen und Afghanen kehren nach Afghanistan zurück (oder werden abgeschoben), meist aus Pakistan und aus dem Iran (aber auch aus Europa).

  • Fußnote: 1 Colville, R. (1997) "The biggest caseload in the world," Refugees Magazine, 108(2), S. 3-9, S.6. Externer Link: http://www.unhcr.org/en-au/publications/refugeemag/3b680fbfc/refugees-magazine-issue-108-afghanistan-unending-crisis-biggest-caseload.html (Zugriff: 5.11.2018).

    Tabelle zusammengestellt von Susanne Schmeidl.

    Übersetzung ins Deutsche: Vera Hanewinkel

    Dieser Text ist Teil des Interner Link: Länderprofils Afghanistan.

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    Dr. Susanne Schmeidl ist Senior-Dozentin im Bereich Entwicklungsstudien an der University of New South Wales in Sydney, Australien. Als promovierte Soziologin untersucht sie seit mehr als zwei Jahrzehnten Ursachen von Konflikten und Zwangsmigration mit einem Schwerpunkt auf Afghanistan.