In 2001 wurde das Taliban-Regime in
Langwierige Flüchtlingssituationen
Von einer lang andauernden (bzw. langwierigen) Flüchtlingssituation (protracted refugee situation) spricht man laut UNHCR, "wenn 25.000 oder mehr Flüchtlinge der gleichen Nationalität über einen Zeitraum von fünf oder mehr Jahren in einem bestimmten Asylland im Exil leben."
Flucht- und Vertreibungssituationen sind deshalb langwierig, weil keine dauerhaften Lösungen (z.B. eine sichere Rückkehr in das Heimatland, eine lokale Integration im Aufnahmeland oder eine
Ende 2017 gab es weltweit 13,4 Millionen Flüchtlinge in Langzeitvertreibung. Drei Millionen davon befanden sich bereits 38 Jahre oder länger in solch einer Situation, darunter 2,3 Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan und Iran.
Fußnoten
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Ebenda, S. 22. Zitat ins Deutsche übersetzt.
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UNHCR (2004): Protracted Refugee Situations. Executive Committee of the High Commissioner’s Programme, Standing Committee, 30th Meeting, UN Doc. EC/54/SC/CRP.14, 10. Juni 2004, S. 1. Externer Link: http://www.unhcr.org/excom/standcom/40c982172/protracted-refugee-situations.html (Zugriff: 8.10.2018).
Afghanistans Flucht- und Vertreibungsgeschichte
Afghaninnen und Afghanen nutzen Mobilität seit langem als Überlebensstrategie
Auch der blutige Staatsbildungsprozess des Landes führte zu diversen Binnenwanderungen (einschließlich Zwangsumsiedlungen) im Rahmen der "Paschtunisierungspolitik" afghanischer Könige. Es sollte die geografische Reichweite der herrschenden Stämme erweitert werden, während gleichzeitig rivalisierende Stämme und ethnische Gruppen zurückgedrängt und zersplittert wurden.
In der jüngeren Geschichte gab es mehrere Vertreibungsphasen, verbunden mit dem
Bis zur jüngsten Vertreibungsphase, die 2015 begann, hatte jeder zweite Afghane mindestens eine (viele sogar mehrfache) Vertreibungserfahrung(en) gemacht
Zwangsmigration in Afghanistan nach dem Rückzug der internationalen Truppen 2014
Wie von vielen Beobachtern vermutet, beschleunigte der
Die Asylmigration nach Europa ist in den Jahren 2015 und 2016 angestiegen, läasst aber seit 2017 wieder nach. Die Flüchtlingszahlen in Iran und Pakistan blieben in etwa konstant.
Die Binnenvertreibung nimmt stetig zu.
Seit 2016 gibt es eine neue Welle der (nicht immer freiwilligen) Rückkehr von Flüchtlingen, besonders aus Pakistan und Iran, aber auch aus Europa.
Diese gleichzeitig stattfindenden Zu- und Abwanderungsbewegungen verweisen auf die anhaltende Konfliktsituation in Afghanistan. Es gibt kaum vielversprechende Anzeichen dafür, dass sich diese Situation und die damit verbundene Vertreibung in absehbarer Zeit ändern werden.
Neben der mit dem Konflikt verbundenen Migration ist Afghanistan auch für häufige Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Schneelawinen, Erdrutsche und Erdbeben bekannt.
Ein Hinweis zu den Zahlen
Die Sicherheitssituation in Afghanistan ist – wie in jedem Konfliktland – unbeständig und erschwert den Zugang zu genauen Statistiken und Datenerhebungen. Es ist besonders schwierig, eine sich ständig in Bewegung befindende Bevölkerung zu erfassen, auch wenn sich die Methoden mit der Zeit verbessert haben. Das Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) stellt fest, dass "der eingeschränkte humanitäre Zugang die Einschätzung erschwert und daher die Erfassung des gesamten Ausmaßes von Flucht und Vertreibung verhindert".
Fußnoten
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Zitat ins Deutsche übersetzt. OCHA (2018): Afghanistan: Conflict Induced Displacements (as of 31 October 2018). Externer Link: https://www.humanitarianresponse.info/en/operations/afghanistan/idps (Zugriff: 2.11.2018).
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Schmeidl S. (2016): Deconstructing Afghan Displacement Data: Acknowledging the Elephant in the Dark. Migration Policy Practice, Jg. 7, S. 10–16, S. 12.
Flucht und Vertreibung ins Ausland
Die Flucht und Vertreibung von Afghaninnen und Afghanen ins Ausland – insbesondere von denjenigen,
Deutschland ist das Land, das 2015 die meisten Asylerstanträge von Afghaninnen und Afghanen registrierte; insgesamt rund 187.355 Anträge in den letzten vier Jahren (2015-2018), gefolgt von Ungarn (insgesamt 58.940), Schweden (insgesamt 46.675) und Österreich (insgesamt 42.240).
2015 lag die Zahl der tatsächlich eingereisten Afghaninnen und Afghanen höher als die Zahl der registrierten afghanischen Asylantragstellenden. Das trifft zumindest auf Deutschland zu, wo ungefähr 154.000 afghanische Staatsangehörige eintrafen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war aber lediglich in der Lage, 31.382 von ihnen als
Deutschland verzeichnete 2015 aus drei zentralen Gründen die größte Anzahl afghanischer Asylsuchender: 1) wegen der anfänglichen Politik der "offenen Tür" und Berichten über Möglichkeiten, als Asylbewerber registriert und anerkannt zu werden,
Abbildung 2: Asylanträge von Afghaninnen und Afghanen in ausgewählten europäischen Ländern (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Unter den Nicht-EU-Staaten ist es die
Pakistan und Iran beherbergen mit ungefähr 90-95 Prozent die meisten afghanischen Flüchtlinge (oder Afghaninnen und Afghanen in flüchtlingsähnlichen Situationen). Die Zahl der dort lebenden geflüchteten Personen aus Afghanistan ist zwischen 2015 und 2017, trotz erheblicher Rückwanderung, mehr oder weniger konstant geblieben (1,4-1,5 Millionen in Pakistan und ungefähr 950.000 im Iran).
Flucht und Vertreibung innerhalb Afghanistans
Flucht und Vertreibung innerhalb Afghanistans haben während der letzten Jahre stetig zugenommen (siehe Abbildung 3): 2015 wurden etwa 384.000 Individuen gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen; 2016 waren es 675.000 Personen und 2017 510.000.
Abbildung 3: Entwicklung der konfliktbedingten Vertreibungen innerhalb Afghanistans (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Bis zum 25. Dezember 2018 hatten weitere rund 350.000 Afghaninnen und Afghanen ihr Zuhause aufgrund von Konflikten verlassen; 32 von 34 Provinzen meldeten Vertreibungen.
Laut eines aktuellen Berichts finden sich unter den Binnenvertriebenen viele Afghaninnen und Afghanen, die zuvor als Flüchtlinge oder undokumentierte Migranten im Ausland gelebt hatten und nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan erneut vertrieben wurden, weil sie "in den Krieg und nicht den Frieden" zurückkehrten.
Obwohl die Vertreibung innerhalb Afghanistans kontinuierlich anhält, trägt Afghanistan lediglich einen Bruchteil zu den weltweit geschätzt 5,5 Millionen neuen Binnenvertriebenen im Jahr 2018 bei. Das Land belegt im Hinblick auf die Zahl der Binnenvertriebenen den achten Platz.
Rückkehr nach Afghanistan
Seit 2016 ist die Zahl der nach Afghanistan zurückkehrenden Flüchtlinge erneut gestiegen und signalisiert, dass es in der Region immer weniger "sichere Häfen" für Afghaninnen und Afghanen gibt. Obwohl Iran und Pakistan seit Jahrzehnten Menschen aus Afghanistan aufgenommen haben, die vor Konflikten flohen oder Arbeit suchten, zeigen beide Länder Anzeichen von "Flüchtlingsmüdigkeit" (refugee fatigue). Dies verdeutlicht die unverhältnismäßige Last: Seit mehr als drei Jahrzehnten haben beide Länder die Mehrzahl der afghanischen Flüchtlinge aufgenommen.
Abbildung 4: Rückkehr von Afghaninnen und Afghanen aus Pakistan und Iran (Interner Link: Grafik zum Download) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Nachdem sich 2006 die
Auch in Europa ist der Druck zur Rückkehr nach Afghanistan gestiegen. Viele europäische Länder waren mit der Zahl der ankommenden Flüchtlinge überfordert. Eine wachsende einwanderungsfeindliche Stimmung und populistische Politiken unterstützten einen "harten Kurs gegen afghanische Asylsuchende".
Manche Afghaninnen und Afghanen waren im letzten Jahrzehnt mehrfach auf der Flucht und sind evtl. auch mehrfach in ihr Land zurückgekehrt. Zählt man diejenigen, die bis Ende 2013 nach Afghanistan zurückkehrten (ungefähr 5,7 Millionen) mit den in jüngerer Zeit (freiwillig oder unfreiwillig) Zurückgekehrten zusammen, dann liegt die Zahl der Rückkehrerinnen und Rückkehrer bei knapp zehn Millionen. Für ein Land, das an mehreren Fronten kämpft (Politik, Konflikt, Sicherheit), ist dies keine einfache Aufgabe. Hinzu kommt, dass viele Flüchtlinge nicht in ihre Heimatorte zurückkehren, sondern in die Städte, wo sie sich mehr Sicherheit und bessere Dienstleistungen versprechen.
Trend: Die Urbanisierung von Flucht und Vertreibung
Das hohe Maß an Binnenmobilität und zurückgekehrten Flüchtlingen lässt sich am rasanten Wachstum von Afghanistans Städten ablesen. Die
Der Bericht "State of Afghan Cities 2015" schätzt, dass etwa acht Millionen Afghaninnen und Afghanen (d.h. eine von vier Personen) in Städten leben. Es wird erwartet, dass sich diese Zahl innerhalb der nächsten 15 Jahre verdoppelt. 2060 werden 50 Prozent der gesamten afghanischen Bevölkerung in Städten leben.
Die Städte haben mit der Aufnahme des rasanten Zustroms von Migrantinnen und Migranten aus ländlichen Gebieten, Binnenvertriebenen und zurückkehrenden Flüchtlingen zu kämpfen. Es wird daher geschätzt, dass gut 70 Prozent der Menschen, die in die Städte ziehen, in informellen Siedlungen, also im Grunde genommen in Slums, enden.
Fluchtursachen und Zukunftsperspektiven
Nach 2014 hat sich der Konflikt in Afghanistan erneut verschärft, sodass Afghaninnen und Afghanen mit großer Verunsicherung hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, in Afghanistan zu leben, konfrontiert sind.
All diese Faktoren zusammengenommen prägen "die Bedingungen, Verhältnisse oder die Umwelt, in der Menschen die Entscheidung darüber treffen, ob sie abwandern oder nicht, oder ob ihnen solche Entscheidungen aufgezwungen werden."
Übersicht über Phasen von Flucht und Vertreibung aus Afghanistan
Zeitraum | Konfliktereignis | Migrationsmuster |
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Ausgangslage | Arbeitsmigration innerhalb des Landes und ins Ausland; sowohl befristet und saisonbedingt als auch langfristig. | |
Phase 1 (1978–1989) | Die Saur-Revolution bringt die Demokratische Volkspartei Afghanistans an die Macht; anschließender Krieg der Mudschaheddin gegen die sowjetunterstützte Regierung; Rückzug der sowjetischen Armee (1989). | Massenflucht ins Ausland, die nach 1979 stetig zunimmt und mit über sechs Millionen Geflüchteten 1989 ihren Höhepunkt erreicht. Zunahme der Binnenvertreibung ab 1985. |
Phase 2 (1990–1995) | Anhaltender Krieg gegen die kommunistische Regierung, die 1992 besiegt wird. Aufgrund einer Auseinandersetzung über die Machtteilung unter den Mudschaheddin-Parteien und des Chaos in vielen Teilen des Landes bricht der Bürgerkrieg aus. Die Taliban beteiligen sich 1994 an dem Krieg, rücken 1995 weiter vor und gewinnen an Kontrolle. | Erste große Welle der Rückkehr von Flüchtlingen, die 1989 langsam anläuft und ihren Höhepunkt 1992 erreicht, als vermeldet wird, dass etwa 1,2 Millionen Flüchtlinge innerhalb von sechs Monaten in ihre Heimat zurückkehren.1 Etwa drei Millionen Flüchtlinge kehren zwischen 1989 und 1993 zurück: 2,5 Millionen allein 1992/1993. Während der Bürgerkrieg tobt (hauptsächlich in Afghanistans Städten, insbesondere in Kabul), gibt es nach 1993/1994 einen erneuten Anstieg der Binnenvertreibung, der anhält, bis die Taliban 1996 an die Macht kommen. Ein Großteil der Vertreibungen (insbesondere innerhalb der Städte) taucht niemals in der Statistik zu Binnenvertriebenen auf, die über mehrere Jahre konstant bei einer Million verweilt. Erneute Flucht ins Ausland, die jedoch von der Anzahl der Rückkehrerinnen und Rückkehrer kompensiert wird. |
Phase 3 (1996–2000) | Die Taliban erlangen 1996 die Kontrolle über Kabul; sie errichten in der Folge ein strenges Regime. | Erneute Rückkehr von Flüchtlingen, die aber zahlenmäßig geringer ausfällt (nur etwa 900.000). Das Ausmaß der Vertreibung innerhalb Afghanistans steigt wieder an, ebenso wie die Flucht ins Ausland (etliche Afghaninnen und Afghanen verlassen das Land zum ersten Mal). Die Zahl der Binnenvertriebenen steigt im Jahr 2000 weiter an, als Afghanistan von der schlimmsten Dürre seit 30 Jahren heimgesucht wird, die zu enormen Viehverlusten bei den Kutschi-Nomaden führt und viele von ihnen dazu veranlasst, ein eher sesshaftes Leben zu führen – zumeist in Pakistan. |
Phase 4 (2001–2002) | Nach den Terroranschlägen vom 11. September kommt es zur US-geführten militärischen Intervention mit dem Ziel, die Taliban-Regierung zu entfernen; die Nordallianz nimmt Kabul ein. | Etwa 1,5 Millionen Afghaninnen und Afghanen fliehen innerhalb weniger Wochen aufgrund der US-Luftangriffe und des anschließenden Bodenkampfs. Binnenvertreibung von Paschtunen, die Ziel von Vergeltungsangriffen in Nord- und Westafghanistan werden. |
Phase 5 (2002–2006) | Petersberg-Prozess; Übergangsregierung; neue Regierung. | Größte UN-unterstützte Flüchtlingsrückkehr seit Beginn der Aufzeichnungen; insgesamt kehren etwa fünf Millionen Flüchtlinge nach Afghanistan zurück, die meisten zwischen 2002 und 2005. Gleichzeitig kehrt die Mehrzahl der 1,2 Millionen Binnenvertriebenen ebenfalls in ihre Heimatorte zurück; es wird angenommen, dass ihre Reintegration zufriedenstellend verlaufen ist. |
Phase 6 (2007–2014) | Die Regierung verliert zunehmend ihre Legitimität; Aufstände leben wieder auf, die Sicherheitslage verschlechtert sich und die Gewalt nimmt zu. | Die Rückkehr von Flüchtlingen verlangsamt sich. Ungefähr eine Million kehren zwischen 2006 und 2008 zurück. Zwischen 2009 und 2013 sind es "nur" 427.561 Rückkehrerinnen und Rückkehrer. Unzureichende Reintegration von Flüchtlingen trägt zu einer wachsenden Binnenvertreibung bei. UNHCR erstellt 2008 zum ersten Mal ein Profil der Gruppe der Binnenvertriebenen. Bis Mitte 2014 liegt die Zahl der Binnenvertriebenen bei fast 700.000; davon ist die Hälfte seit mindestens 2011 vertrieben; pro Jahr werden etwa 100.000 Afghaninnen und Afghanen zu Binnenvertriebenen. Erneute Massenflucht ins Ausland. |
Phase 7 (2015–heute) | Der politische (Wahlen) und sicherheitspolitische Übergang führt zu einer drastischen Verschlechterung der Sicherheitslage sowie der wirtschaftlichen Situation. | Die angrenzenden Länder Iran und Pakistan beschleunigen die Rückkehr/Abschiebung afghanischer Flüchtlinge. Die Flucht ins Ausland nimmt mit 962.000 Afghaninnen und Afghanen, die zwischen 2015 und 2017 Asyl suchen, wieder zu. Steter Anstieg der Vertreibung innerhalb des Landes; im Durchschnitt werden pro Jahr etwa 450.000 Menschen zu Binnenvertriebenen; 2018 beläuft sich die Zahl der afghanischen Binnenvertriebenen auf geschätzte 1,8 Millionen. Etwa vier Millionen Afghaninnen und Afghanen kehren nach Afghanistan zurück (oder werden abgeschoben), meist aus Pakistan und aus dem Iran (aber auch aus Europa). |
Fußnote: 1 Colville, R. (1997) "The biggest caseload in the world," Refugees Magazine, 108(2), S. 3-9, S.6. Externer Link: http://www.unhcr.org/en-au/publications/refugeemag/3b680fbfc/refugees-magazine-issue-108-afghanistan-unending-crisis-biggest-caseload.html (Zugriff: 5.11.2018).
Tabelle zusammengestellt von Susanne Schmeidl.
Übersetzung ins Deutsche: Vera Hanewinkel
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