Afghanistans Hauptstadt Kabul ist eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt. Dies ist weniger dem erhofften Aufschwung nach 2001 geschuldet als zahlreichen, sich überlagernden Konfliktkonstellationen. Hierzu zählen der
Verbreitung irregulärer Siedlungen
In Kabul entstehen seit Anfang der 2000er Jahre irreguläre Siedlungen aus Lehm, Plastik und Zelten auf öffentlichem oder privatem Land – in der Regel zwischen regulären Wohn- und Geschäftsbauten. Errichtet werden sie von Rückkehrer*innen und Binnenvertriebenen mit dem niedrigsten sozioökonomischen Status, die nicht auf umfangreiche Netzwerke und die Unterstützung von Verwandten oder einflussreichen Personen zurückgreifen können. 2015 existierten 50 dieser sogenannten Camps mit mehr als 40.000 Bewohnern im Stadtgebiet und an der Peripherie von Kabul. Aufgrund der hohen Zahl der Binnenvertreibungen und Repatriierten 2016 stieg die Zahl der Camps bis Ende 2017 auf mehr als 60. Insgesamt lebten dort schätzungsweise 65.000 Menschen. Die Zahl der Bewohner*innen einzelner Camps variiert von Dutzenden bis hin zu ca. 6.000 Personen. Je nach Größe beherbergen sie Bevölkerungsgruppen verschiedener ethnischer (
In der Vergangenheit erhielten die Camps Unterstützung durch humanitäre Organisationen. Diese Hilfe brach jedoch 2014 großflächig ein, weil die EU-Nothilfeagentur ECHO befand, dass die Armut in den Camps eher chronisch einzustufen sei. Deshalb seien die Camps als reguläre Slums, wie es sie weltweit in den meisten Großstädten gibt, vor allem im Globalen Süden, zu behandeln. Ashraf Ghani, der 2014 gewählte Präsident Afghanistans, stellte in seinem Wahlkampf in den Camps allen Bewohner*innen Land und soziale Inklusion (z.B. durch die "Auslöschung des Worts Binnenflüchtling aus dem Wortschatz") in Aussicht; politisch eingelöst worden ist dieses Versprechen bislang nicht.
Räumlich immobilisiert
Unter den Außenseitern und sozial marginalisierten Bewohner*innen der Camps von Kabul finden sich Angehörige mehrerer ehemals hochmobiler Gruppen: pastorale Nomaden (d.h. umherziehende Hirten) und nicht-pastorale Nomaden (sogenannte Peripatetiker, d.h. Wanderarbeiter*innen im weitesten Sinne). In ihrem Camp-Dasein nach teilweise mehrfacher Vertreibung, Rückkehr oder Repatriierung träumen sie davon, ihren einstigen Lebensstil wieder aufnehmen zu können. Gleichzeitig unternehmen sie zahlreiche Anstrengungen, in der afghanischen Gesellschaft in Kabul (als nun temporär Sesshafte) Zugehörigkeit zu erlangen. Sie streben nach Einkommensmöglichkeiten und einem Stück Land, von dem sie dauerhaft nicht mehr vertrieben werden können.
Krieg und Vertreibung haben vielen pastoralen Nomaden (Kutschi) ihre Lebensgrundlage entzogen: Herden wurden von Bombenhagel getroffen oder Weidestrecken unzugänglich, Dürren waren insbesondere in den letzten 20 Jahren dafür verantwortlich, dass Vieh verhungerte. Im Exil mussten sich die Angehörigen der Kutschi somit neue Einkommensmöglichkeiten erschließen, z.B. im Transportsektor, auf Märkten und als Müllsammler in pakistanischen Städten. Angehörige nicht-pastoraler Nomadengruppen (u.a. Dschogi, Ghorbat, Tschori Frusch, Scheich Mohammadi) verloren aufgrund des Gewaltkonflikts ihre Kundschaft im Einzugsraum ihrer früheren (teilweise grenzüberschreitenden) Wanderungen. Seitdem sind sie maßgeblich auf Jobs als Tagelöhner und Almosen angewiesen; diverse Gruppen besetzen Nischen in lokalen Märkten, indem sie selbst gebaute Vogelkäfige oder Armreifen und Kurzwaren vertreiben.
Sozial immobilisiert
Ehemalige Nomaden finden sich jedoch nicht nur in physisch-räumlicher Immobilität (aufgrund des Verlusts ihrer Einkommensmöglichkeiten durch Krieg und restriktive Politik gegenüber Afghan*innen in Iran und Pakistan), sondern auch in sozialer Immobilität gefangen. Wie alle anderen Campbewohner*innen sind sie von staatlicher Hilfe ausgeschlossen. Entwicklungsorganisationen unterstützen nur punktuell. Dies führt dazu, dass grundlegende Dienstleistungen wie Wasser- oder Gesundheitsversorgung, aber auch Schulzugang weitgehend fehlen. Zudem sind die Campbewohner*innen dem konstanten Risiko ausgesetzt, von dem Land, auf dem sich die irreguläre Siedlung befindet, vertrieben zu werden. Aufgrund ihrer sozialen Stellung als traditionelle Außenseiter in der afghanischen Gesellschaft sind verarmte pastorale und alle nicht-pastoralen Nomaden mit Stigmatisierung konfrontiert. Sie verfügen zudem meist nicht über Netzwerke, die eine lokale Integration mit Zugang zu Bildung, Jobs und Gesundheitsversorgung ermöglichen. Auch wenn unter den Kutschi einzelne Gruppen über solide Verbindungen zu politisch einflussreichen Individuen verfügen, trifft dies nicht auf alle zu und insbesondere die Gruppen der (ehemaligen) Wanderarbeitnehmer haben keine Fürsprecher*innen, keinen polizeilichen oder juristischen Beistand.
Dadurch werden viele von ihnen Opfer krimineller Landbesetzer, die regelmäßig versuchen, die Campbewohner*innen von dem Land zu vertreiben. In dem Bestreben, sich lukrative staatliche Grundstücke anzueignen, behaupten diese Landbesetzer, die rechtmäßigen Eigentümer zu sein; teilweise gehen sie mit Waffengewalt vor. Einige ehemalige Nomadengruppen (z.B. die Dschogi) geben sich manchmal auch als Angehörige einer anderen Volksgruppe aus (z.B. als Tadschiken), um so zu signalisieren, dass sie Zugang zu einflussreichen Beziehungsnetzwerken haben, denn die Tadschiken werden als ein Teil der afghanischen Regierung wahrgenommen. Ohne diese Netzwerkbeziehungen haben sie Schwierigkeiten, Personaldokumente zu erhalten bzw. diese im Alltag anerkennen zu lassen, beispielsweise um die eigenen Kinder in die Schule der unmittelbaren Nachbarschaft zu schicken. Die beschriebene Stigmatisierung, fehlende Netzwerke und Repräsentationsmöglichkeiten sowie mangelnder Zugang zu Rechtsprechung, mit denen sich die ehemaligen Nomaden konfrontiert sehen, behindern weitgehend den sozialen Aufstieg der Betroffenen. Außerdem halten sie das Ausmaß der Verwundbarkeit (Vulnerabilität) der Betroffenen auf einem hohen Niveau und verhindern erneute räumliche Mobilität,
Ausblick
Trotz gegenteiliger Wahlversprechen war die afghanische Regierung bis 2018 nicht in der Lage, die prekäre Situation der Campbewohner*innen zu verbessern. Die Kapazitäten und teilweise der Wille für die Ausarbeitung und Durchsetzung von sozialen und ökonomischen Programmen fehlen weitgehend. So mangelt es zum Beispiel an einem Landmanagementgesetz oder auf die Armen fokussierte politische Programme, die Zugang zu Land und Beschäftigung, sozialer Inklusion und wirksamer politischer Repräsentation ermöglichen. Solange sich dies nicht ändert, stellen räumliche und soziale Immobilität für viele Campbewohner*innen weiterhin ein Entwicklungs- und Integrationshindernis dar.
Zum Thema
Afghanistan im 19. und 20. Jahrhundert
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