Multikulturalismus
Als Kanada sich 1971 zum ersten Mal offiziell zum Multikulturalismus bekannte, war es das erste Land weltweit, das diesen Schritt tat. Zu jener Zeit wurde diese Grundsatzentscheidung als Ergänzung zur Zweisprachigkeit des Landes gesehen, nachdem 1969 Englisch und Französisch zu offiziellen Landessprachen erklärt worden waren. Dementsprechend wird auch von "Multikulturalismus innerhalb eines zweisprachigen Rahmens" gesprochen. Die Multikulturalismuspolitik zielt darauf ab, "die Würde aller Kanadier" zu achten, unabhängig von Abstammung, ethnischem und kulturellem Hintergrund, Religion, Familienzugehörigkeit oder Herkunftsort; Individuen sollen ihre kulturelle Identität wahren und Stolz auf ihre Abstammung sein können und gleichzeitig "ermutigt werden, sich in die Gesellschaft zu integrieren und aktiv teilzunehmen an gesellschaftlichen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Angelegenheiten".
Sowohl die Zweisprachigkeit als auch der Multikulturalismusgrundsatz waren ursprünglich darauf angelegt, dem in Quebec aufkommenden Nationalismus entgegenzuwirken und Spannungen zwischen französischen und britischen Mehrheiten und "anderen Europäern", die im Verlauf des 20. Jahrhunderts nach Kanada gekommen waren, zu vermeiden. Der Politikansatz macht deutlich, dass der Multikulturalismus in Kanada auf demokratischen Normen beruht, wie sie in der kanadischen Verfassung (Canadian Charter of Rights and Freedoms) verankert sind. Im Jahr 1988 wurde das kanadische Multikulturalismusgesetz erlassen, das die Bundesregierung beauftragte, "das Verständnis von Multikulturalismus als ein fundamentales Merkmal des kanadischen Erbes und der Identität Kanadas sowie als einen unbezahlbaren Schatz für die Zukunft Kanadas anzuerkennen und zu fördern".
Im Jahr 2008 wurde die Verantwortung für das Multikulturalismusprogramm vom Ministerium für Kanadisches Kulturerbe (Department of Canadian Heritage) an die kanadische Einwanderungsbehörde übertragen. Im Folgejahr reformierte die Regierung das Multikulturalismusgesetz und führte drei neue politische Ziele ein: (1) Aufbau einer integrierten Gesellschaft mit sozialem Zusammenhalt, (2) Unterstützung von Institutionen bei der Erfüllung der Bedürfnisse einer pluralistischen Gesellschaft und (3) Teilnahme an Diskussionen über Multikulturalismus und Diversität auf internationaler Ebene
Interkulturalismus in Quebec
Das Multikulturalismusgesetz von 1971 wurde in Quebec als Affront gegen das Bekenntnis zum englisch-französischen Bikulturalismus gesehen. Daher verfolgt die Provinz seit den 1970er Jahren ihren eigenen Ansatz, den sogenannten Interkulturalismus. Worin sich Multikulturalismus und Interkulturalismus genau unterscheiden, ist Thema philosophischer Debatten. Interkulturalismus, so heißt es, unterscheide sich vom Multikulturalismus durch seine stärkere Betonung der Integration des Einzelnen bzw. einzelner Gruppen in eine Gesamtheit statt Diversität als Ziel an sich aufrechtzuerhalten und zu feiern. Im Zentrum dieses Prozesses steht ein fortwährender Dialog zwischen der alteingesessenen Bevölkerung und Neuzuwanderern (obwohl letzteren nicht dieselbe Macht zugesprochen wird wie ersteren), der darauf zielt, nach und nach eine neue öffentliche Sphäre zu schaffen.
Diskriminierung
Trotz Kanadas Bekenntnis zum Multikulturalismus, bleiben Rassismus und die Diskriminierung von Minderheiten in der Arbeitswelt, am Wohnungsmarkt und bei Polizeikontrollen ein Thema. ″Sichtbare Minderheiten″ verdienen weniger, selbst noch in der dritten oder vierten Generation.
Von Zeit zu Zeit lassen hochmediatisierte Ereignisse Diversität, Diskriminierung und Multikulturalismus als umstrittene politische Themen erscheinen. Dies war der Fall als gegen Ende der ersten 2000er-Dekade in Quebec eine Debatte über die Grenzen einer angemessenen gesellschaftlichen Anpassung (reasonable accommodation) von und an Minderheiten entbrannte. Eine Reihe von Ereignissen schürte diese Diskussion, unter anderem ein Beschluss des Obersten Gerichts (Supreme Court) aus dem Jahr 2006, der einem Sikh Recht gab, der seinen kirpan (Zeremoniedolch) in der Schule tragen wollte; die von orthodoxen Juden vorgebrachte Forderung, die Fenster eines örtlichen Gemeindezentrums mit Milchglas zu versehen, um Sport treibende Frauen vor Blicken zu schützen sowie ein Bericht, dass Männer in einem Wohnbezirk von Geburtsvorbereitungskursen ausgeschlossen wurden, weil einige Migrantinnen sich in ihrer Gegenwart unwohl fühlten. Im Anschluss an diese Ereignisse veröffentlichte die kleine Stadt Hérouxville (Quebec), in der fast keine Minderheiten oder Einwanderer leben, ihre eigenen Regeln für eine angemessene Lebensweise. Wissenschaftlern zufolge zielen diese allein auf die (nicht-existierende) muslimische Einwohnerschaft der Stadt. Die am meisten zitierte dieser Regeln lautet: ″Wir denken, dass das öffentliche Totschlagen von Frauen oder das Verbrennen dieser bei lebendigem Leib nicht Teil unserer Lebensweise ist″.
Kurz nach diesem Vorfall beauftragte die Regierung der Provinz Quebec eine Kommission unter Vorsitz von Gerard Bouchard und Charles Taylor (auch Bouchard-Taylor Kommission genannt), Praktiken zur Anpassung an die kulturelle Diversität zu ermitteln und Empfehlungen für die Zukunft auszusprechen. Der Bericht der Kommission aus dem Jahr 2008 machte einige konkrete Vorschläge, betonte aber vor allem, dass die gesellschaftlichen Anpassungsprobleme, auf welche die Kommission reagieren sollte, vielmehr ein Problem der Wahrnehmung (u.a. Überreaktion auf Vorfälle, die von Medien und Politikern überdramatisiert worden waren) seien als ein tatsächliches Problem mit dem Umgang mit Diversität im Alltag.