Definition und Einschätzung migrantischer Ökonomien
Migrantische Ökonomien erfahren in Deutschland zunehmend Aufmerksamkeit, sowohl im öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs. Dies zeigt sich zum Beispiel an der regelmäßigen Berichterstattung über migrantische Gründer*innen in den Medien – jüngst mit einem Fokus auf das Gründerpaar des Mainzer Biotechnologie-Unternehmens Biontech, Özlem Türeci und Uğur Şahin. Doch was ist unter "migrantischen Ökonomien" überhaupt zu verstehen? Warum gründen Menschen mit
Im deutschsprachigen Kontext wird u.a. eine Definition verwendet, die migrantische Ökonomien als selbstständige Erwerbstätigkeit von Personen mit Migrationshintergrund sowie als abhängige Beschäftigung in Betrieben, die von solchen Personen geführt werden oder einem spezifischen migrantischen Milieu verbunden sind, bestimmt.
Migrantischen Ökonomien werden in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft sowohl Potentiale als auch Defizite zugesprochen.
Bedeutung für die Wirtschaft und Ursachen für die Gründung migrantischer Ökonomien
Die Bedeutung migrantischer Ökonomien für die deutsche Wirtschaft nimmt stetig zu. Die Zahl Selbstständiger mit Migrationshintergrund hat sich seit den 1990er Jahren nahezu verdreifacht und belief sich 2020 auf 822.000.
Mit der Frage, warum Menschen mit Migrationshintergrund die Selbstständigkeit anstreben, beschäftigen sich Wissenschaft und Politik gleichermaßen. In der Forschung existieren verschiedene Ansätze, eine solche Selbstständigkeit zu erklären. Frühe Untersuchungen verstanden sie oftmals als Reaktion auf Diskriminierung und Ausgrenzung z.B. auf dem Arbeitsmarkt. Daneben gab es Erklärungsansätze, die die Selbstständigkeit als Reaktion auf besondere Konsumbedürfnisse von migrantischen Communities verstanden, die bestehende Angebote nicht abdeckten. Lange Zeit wurde die Selbstständigkeit zudem über einen zugeschriebenen kulturellen Hintergrund gedeutet, der Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte mit besonderen Fähigkeiten zu selbstständigen Tätigkeiten ausstatte. Diese Erklärungsansätze gelten teilweise als veraltet. Beispielsweise hat sich die Vorstellung einer kulturell besonders ausgeprägten Innovations-, Risiko- und Gründungsbereitschaft als kaum haltbar erwiesen.
Auch in der Politik wird die Entstehung migrantischer Ökonomien multikausal erklärt. Die die Bundesregierung u.a. in der Entwicklungszusammenarbeit unterstützende "Kreditanstalt für Wiederaufbau" – besser bekannt als KfW-Entwicklungsbank – geht beispielsweise davon aus, dass Eingewanderte und ihre Nachkommen wegen schlechterer Chancen auf dem Arbeitsmarkt, einer höheren Risikobereitschaft sowie Rollenvorbildern in der Familie und im Bekanntenkreis gründen würden. Dabei würden allerdings Gründungen aufgrund von "fehlenden besseren Erwerbsalternativen" überwiegen.
Migrantische Ökonomien als Potential für die Stadt- und Quartiersentwicklung Migrantische Ökonomien sind räumlich ungleich verteilt: Insbesondere in
Migrantische Ökonomien tragen zur Stabilisierung lokaler Arbeitsmärkte bei, z. B. in den Quartieren, in denen eine hohe Zahl an Geringqualifizierten, Empfänger*innen von Transferleistungen und andere Personen in prekärer wirtschaftlicher Situation lebt.
Wichtig ist hier zudem die steigende Ausbildungsbereitschaft der migrantisch geführten Betriebe. Migrantische Ökonomien tragen zur Herausbildung von Wertschöpfungsketten auf verschiedenen räumlichen Ebenen bei. In Form von kleinen und mittelständischen Unternehmen können sie für die lokale Ökonomie insgesamt und insbesondere für die bestimmter Stadtteile außerordentlich wichtig sein. Generell können sie die kleinräumige Wirtschaftskraft stärken. Denn migrantische Ökonomien befriedigen häufig die lokale Konsumnachfrage bzw. spezielle Bedarfe, sie sichern die Nahversorgung ab. Ihr wirtschaftlicher Erfolg hängt dabei auch davon ab, wie gut es ihnen gelingt, sich an diese Bedarfe anzupassen.
Migrantische Ökonomien übernehmen gesellschaftspolitische Funktionen. Sie öffnen beispielsweise marginalisierten Personen den Zugang zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ressourcen, der diesen ansonsten verschlossen wäre. Der sichtbare berufliche Erfolg migrantischer Unternehmer*innen kann zudem eine positive Signalwirkung haben.
In innerstädtischen Nachbarschaften sind es häufig die kleinen Dienstleistungsun-ternehmen und Läden der migrantischen Ökonomie, die eine quartiersbelebende Funktion haben. Das gilt für die Lebensmittelmärkte – in der Nachfolge von traditionellen "Tante-Emma-Läden" –, das Gaststättengewerbe oder Reparaturbetriebe, nicht zuletzt für den Textil- und Telekommunikationsbereich. Vielerorts tragen migrantische Ökonomien demnach dazu bei, die Nahversorgung zu sichern und auf diese Weise den nachbarschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.
In letzter Zeit beginnen auch deutsche Metropolen die ethno-kulturelle Vielfalt, die Teile der migrantischen Ökonomie prägt, als Ressource für ihre eigenen Imagebildungs- und Marketingstrategien zu entdecken.
Unter Werbeslogans wie "Weltoffenheit", "Toleranz" und "multikulturelle Vielfalt" werden dann zum Beispiel räumliche Konzentrationen von migrantischen Ökonomien und speziell der Gastronomie wie in der Berliner Sonnenallee, der Kölner Keuppstraße oder Duisburg-Marxloh vermarket.
Die Relevanz dieser fünf Potentiale wird zunehmend von Seiten der (Stadt-)Politik betont, was die Bedeutung migrantischer Ökonomien für (Stadt-)Wirtschaft und (Stadt-)Gesellschaft noch deutlicher macht als bisher. Ein grundsätzliches Problem bleibt aus postmigrantischer Perspektive allerdings bestehen: Mit der Bezeichnung "migrantische Ökonomien" werden (ethnische) Differenzen (re-)konstruiert, ohne dass deutlich wird, zu welchem Zweck dies passiert und was genau mit der Bezeichnung markiert werden soll.
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