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Migrantische Ökonomien in Deutschland | Migration und Wirtschaft | bpb.de

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Migrantische Ökonomien in Deutschland

Charlotte Räuchle

/ 8 Minuten zu lesen

Migrantische Ökonomien: Dönerbuden, Asia Shops und Handyläden genauso wie IT- und Kommunikationsdienstleistungen. Ein Überblick über die Vielfalt migrantischer Ökonomien und ihrer Bedeutung für Wirtschaft und Stadtentwicklung.

Arabischer Supermarkt in Berlin-Neukölln. (© picture-alliance, Bildagentur-online/Schoening)

Definition und Einschätzung migrantischer Ökonomien

Migrantische Ökonomien erfahren in Deutschland zunehmend Aufmerksamkeit, sowohl im öffentlichen als auch im wissenschaftlichen Diskurs. Dies zeigt sich zum Beispiel an der regelmäßigen Berichterstattung über migrantische Gründer*innen in den Medien – jüngst mit einem Fokus auf das Gründerpaar des Mainzer Biotechnologie-Unternehmens Biontech, Özlem Türeci und Uğur Şahin. Doch was ist unter "migrantischen Ökonomien" überhaupt zu verstehen? Warum gründen Menschen mit Interner Link: Migrationshintergrund Betriebe bzw. Unternehmen? Welche Bedeutung haben sie für die Wirtschaft auf nationaler, Stadt- und Quartiersebene? Diesen Fragen geht der vorliegende Beitrag nach.

Im deutschsprachigen Kontext wird u.a. eine Definition verwendet, die migrantische Ökonomien als selbstständige Erwerbstätigkeit von Personen mit Migrationshintergrund sowie als abhängige Beschäftigung in Betrieben, die von solchen Personen geführt werden oder einem spezifischen migrantischen Milieu verbunden sind, bestimmt. Diese Definition beinhaltet die (informelle) Vernetzung und Beratung zwischen migrantischen Unternehmer*innen, die (koethnische) Zugehörigkeit der Kundschaft oder die Nutzung herkunftsspezifischen Wissens (über bestimmte Produkte, Handwerkstechniken, Zulieferbeziehungen etc.) – auch wenn diese Charakteristika migrantischer Ökonomien in Deutschland selten zu finden sind. Seit einigen Jahren wird in der Migrationsforschung zudem zunehmend hervorgehoben, dass mit dem Ausdruck "Migrant*in" die Andersartigkeit der damit bezeichneten Person erst geschaffen wird (Othering). Wenn also von migrantischen Ökonomien die Rede ist, wird ein Unterschied zwischen migrantischen und nicht-migrantischen Ökonomien konstruiert, den es "in der Realität" vielleicht gar nicht gibt. So sind die Gemeinsamkeiten von Betrieben innerhalb der migrantischen Ökonomie oft geringer als von Betrieben innerhalb der gleichen Branche und zwar unabhängig davon, von wem sie geführt werden.

Migrantischen Ökonomien werden in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft sowohl Potentiale als auch Defizite zugesprochen. Einerseits wird ihre Bedeutung für die Volks- und Stadtwirtschaft und für die Interner Link: Integration und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte positiv hervorgehoben. Andererseits wird unter dem Schlagwort der "Mobilitätsfalle" befürchtet, dass diese Betriebe die gesellschaftliche und wirtschaftliche Integration von Personen mit Migrationshintergrund wegen ihres "Nischencharakters" und teilweise prekärer Beschäftigungsverhältnisse erschweren. Migrantische Ökonomien seien immer noch durch tendenziell niedrigschwellige Gründungen gekennzeichnet, also durch wenig kapitalintensive Kleinst- und Kleinbetriebe, die aufgrund mangelnder Alternativen bei nicht-selbstständigen Beschäftigungen gegründet würden. Ob die potentialorientierte Sicht auf migrantische Ökonomien oder doch die defizitorientierte überwiegt, wird unterschiedlich beurteilt. Wissenschaftliche Studien sprechen sich deutlich gegen eine negative Wahrnehmung von migrantischen Ökonomien aus, da u.a. statistische Zahlen eine solche Sichtweise nicht rechtfertigten.

Bedeutung für die Wirtschaft und Ursachen für die Gründung migrantischer Ökonomien

Die Bedeutung migrantischer Ökonomien für die deutsche Wirtschaft nimmt stetig zu. Die Zahl Selbstständiger mit Migrationshintergrund hat sich seit den 1990er Jahren nahezu verdreifacht und belief sich 2020 auf 822.000. 2019 erfolgte jede vierte Existenzgründung durch Eingewanderte und ihre Nachkommen, absolut ca. 160.000 von insgesamt 605.000 Gründungen bundesweit. Migrantische Ökonomien boten 2017 mindestens 3,4 Mio. Personen eine Beschäftigung. Dabei hat sich das Unternehmens- und Tätigkeitsprofil im Laufe der Zeit erheblich ausdifferenziert. Heute bietet z.B. eine zunehmende Anzahl migrantischer Ökonomien humankapital- bzw. wissensintensive Dienstleistungen im IT-, Forschungs-, Kultur- oder Medienbereich oder Gesundheitsdienste, technische und wirtschaftliche Beratung bzw. Forschung sowie Finanzdienstleistungen an. In Deutschland nimmt die Forschung dabei in qualitativen Studien bislang vor allem Klein- und Kleinstunternehmen im Lokalraum, weniger aber große erfolgreiche Unternehmen in den Blick.

Mit der Frage, warum Menschen mit Migrationshintergrund die Selbstständigkeit anstreben, beschäftigen sich Wissenschaft und Politik gleichermaßen. In der Forschung existieren verschiedene Ansätze, eine solche Selbstständigkeit zu erklären. Frühe Untersuchungen verstanden sie oftmals als Reaktion auf Diskriminierung und Ausgrenzung z.B. auf dem Arbeitsmarkt. Daneben gab es Erklärungsansätze, die die Selbstständigkeit als Reaktion auf besondere Konsumbedürfnisse von migrantischen Communities verstanden, die bestehende Angebote nicht abdeckten. Lange Zeit wurde die Selbstständigkeit zudem über einen zugeschriebenen kulturellen Hintergrund gedeutet, der Menschen mit eigener oder familiärer Migrationsgeschichte mit besonderen Fähigkeiten zu selbstständigen Tätigkeiten ausstatte. Diese Erklärungsansätze gelten teilweise als veraltet. Beispielsweise hat sich die Vorstellung einer kulturell besonders ausgeprägten Innovations-, Risiko- und Gründungsbereitschaft als kaum haltbar erwiesen. Heute werden die verschiedenen Erklärungen kombiniert und individuelle bzw. gruppenbezogene Ressourcen von Menschen mit Migrationshintergrund genauso beachtet wie institutionelle und strukturelle Rahmenbedingungen. Zu letzteren zählen dann z.B. die lokale Verfügbarkeit von Produktions-, Lager und Verkaufsräumen oder die lokale Nachfrage, aber auch die Gestaltung der Zuwanderungspolitik oder die Nicht-Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Die entscheidenden Faktoren für den Schritt in die Selbstständigkeit sind dabei zwischen migrantischen und nicht-migrantischen Gründer*innen durchaus ähnlich, etwa die individuellen Ressourcen wie Bildung und Wissen. Nichtsdestotrotz können die strukturellen und institutionellen Hürden für migrantische Gründer*innen deutlich höher sein, was zu Forderungen aus Wissenschaft und Politik führt, Chancengleichheit bei der Generierung unternehmerischer Ressourcen herzustellen.

Auch in der Politik wird die Entstehung migrantischer Ökonomien multikausal erklärt. Die die Bundesregierung u.a. in der Entwicklungszusammenarbeit unterstützende "Kreditanstalt für Wiederaufbau" – besser bekannt als KfW-Entwicklungsbank – geht beispielsweise davon aus, dass Eingewanderte und ihre Nachkommen wegen schlechterer Chancen auf dem Arbeitsmarkt, einer höheren Risikobereitschaft sowie Rollenvorbildern in der Familie und im Bekanntenkreis gründen würden. Dabei würden allerdings Gründungen aufgrund von "fehlenden besseren Erwerbsalternativen" überwiegen. Letztlich sind die Ursachen für den Schritt in die Selbstständigkeit nur individuell und von Unternehmer*in zu Unternehmer*in zu bestimmen.

Migrantische Ökonomien als Potential für die Stadt- und Quartiersentwicklung Migrantische Ökonomien sind räumlich ungleich verteilt: Insbesondere in Interner Link: Großstädten machen sie einen bedeutenden Teil der lokalen Ökonomien aus. Allerdings sind auch in kleineren Kommunen zunehmend migrantisch geführte Betriebe zu finden. Aus systematischer Perspektive können für die Stadt- und Quartiersentwicklung folgende Potentiale unterschieden werden :

  1. Migrantische Ökonomien tragen zur Stabilisierung lokaler Arbeitsmärkte bei, z. B. in den Quartieren, in denen eine hohe Zahl an Geringqualifizierten, Empfänger*innen von Transferleistungen und andere Personen in prekärer wirtschaftlicher Situation lebt. Wichtig ist hier zudem die steigende Ausbildungsbereitschaft der migrantisch geführten Betriebe.


  2. Migrantische Ökonomien tragen zur Herausbildung von Wertschöpfungsketten auf verschiedenen räumlichen Ebenen bei. In Form von kleinen und mittelständischen Unternehmen können sie für die lokale Ökonomie insgesamt und insbesondere für die bestimmter Stadtteile außerordentlich wichtig sein. Generell können sie die kleinräumige Wirtschaftskraft stärken. Denn migrantische Ökonomien befriedigen häufig die lokale Konsumnachfrage bzw. spezielle Bedarfe, sie sichern die Nahversorgung ab. Ihr wirtschaftlicher Erfolg hängt dabei auch davon ab, wie gut es ihnen gelingt, sich an diese Bedarfe anzupassen.


  3. Migrantische Ökonomien übernehmen gesellschaftspolitische Funktionen. Sie öffnen beispielsweise marginalisierten Personen den Zugang zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ressourcen, der diesen ansonsten verschlossen wäre. Der sichtbare berufliche Erfolg migrantischer Unternehmer*innen kann zudem eine positive Signalwirkung haben.


  4. In innerstädtischen Nachbarschaften sind es häufig die kleinen Dienstleistungsun-ternehmen und Läden der migrantischen Ökonomie, die eine quartiersbelebende Funktion haben. Das gilt für die Lebensmittelmärkte – in der Nachfolge von traditionellen "Tante-Emma-Läden" –, das Gaststättengewerbe oder Reparaturbetriebe, nicht zuletzt für den Textil- und Telekommunikationsbereich. Vielerorts tragen migrantische Ökonomien demnach dazu bei, die Nahversorgung zu sichern und auf diese Weise den nachbarschaftlichen Zusammenhalt zu stärken.


  5. In letzter Zeit beginnen auch deutsche Metropolen die ethno-kulturelle Vielfalt, die Teile der migrantischen Ökonomie prägt, als Ressource für ihre eigenen Imagebildungs- und Marketingstrategien zu entdecken. Unter Werbeslogans wie "Weltoffenheit", "Toleranz" und "multikulturelle Vielfalt" werden dann zum Beispiel räumliche Konzentrationen von migrantischen Ökonomien und speziell der Gastronomie wie in der Berliner Sonnenallee, der Kölner Keuppstraße oder Duisburg-Marxloh vermarket.

Die Relevanz dieser fünf Potentiale wird zunehmend von Seiten der (Stadt-)Politik betont, was die Bedeutung migrantischer Ökonomien für (Stadt-)Wirtschaft und (Stadt-)Gesellschaft noch deutlicher macht als bisher. Ein grundsätzliches Problem bleibt aus postmigrantischer Perspektive allerdings bestehen: Mit der Bezeichnung "migrantische Ökonomien" werden (ethnische) Differenzen (re-)konstruiert, ohne dass deutlich wird, zu welchem Zweck dies passiert und was genau mit der Bezeichnung markiert werden soll.

Literatur

Bertelsmann-Stiftung (2016): Migrantenunternehmen in Deutschland zwischen 2005 und 2014. Ausmaß, ökonomische Bedeutung, Einflussfaktoren und Förderung auf Ebene der Bundesländer. Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung. URL: Externer Link: https://www.bertelsmann-stif-tung.de/ (Zugriff: 01.06.2021).

Goebel, Dorothea und Ludger Pries (2006): Transnationalismus oder ethnische Mobilitätsfalle? Das Beispiel des "ethnischen Unternehmertums". In: Florian Kreutzer und Silke Roth (Hrsg.): Transnationale Karrieren. Biografien, Lebensführung und Mobilität. Wiesbaden: Springer VS, S. 260–282.

IQ Fachstelle Migrantenökonomie (2020): Migrantenökonomie "Aktuell": Entwicklung der Migrantenökonomie 2005-2019. URL: Externer Link: https://www.netzwerk-iq.de/ (Zugriff: 01.06.2021).

Kloosterman, Robert, Joanne van der Leun und Jan Rath (1999): Mixed Embeddedness: (In)formal Economic Acivities and Immigrant Business in the Netherlands. In: International Journal of Urban and Regional Research 23 (2), S. 252–266.

Leicht, René, Ralf Philipp und Michael Woywode (2021): Migrantische Ökonomie. Berufliche Selbständigkeit und Unternehmen von Migrantinnen und Migranten in Deutschland. Expertise für die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Fachkommission Integrationsfähigkeit. Institut für Mittelstandsforschung, Universität Mannheim.

Leicht, René (2018): Die Bedeutung von Migrantenunternehmen für die Integrations- und Wirtschaftspolitik in Kommunen. In: Frank Gesemann und Roland Roth (Hrsg.): Handbuch Lokale Integrationspolitik. Wiesbaden: Springer VS, S. 525–547.

Leicht, René (2016): In einem gänzlich anderen Licht: Unternehmertum von Migrantinnen und Migranten. In: APuZ 66 (16-17), S. 32-38.

Leicht, René und Marc Langhauser (2014): Ökonomische Bedeutung und Leistungspotenzi-ale von Migrantenunternehmen in Deutschland. Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn (WiSo Diskurs). URL: Externer Link: https://library.fes.de/pdf-files/wiso/10948.pdf (Zugriff: 01.06.2021).

Metzger, Georg (2020): Wieder mehr migrantische Gründunge n. KfW Research / Volkswirtschaft Kompakt Nr. 205, 12. November 2020. URL: Externer Link: https://www.kfw.de/ (Zugriff: 01.06.2021).

Nuissl, Henning und Antonie Schmiz (2015): Die migrantische Ökonomie als Potential der räumlichen Entwicklung. In: Geographische Rundschau 67 (4), S. 26–32.

Schmiz, Antonie und Charlotte Räuchle (2019): Migrantische Ökonomie als Teil der lokalen Ökonomie. In: Sebastian Henn, Michael Behling und Susann Schäfer (Hrsg.): Lokale Ökonomie – Konzepte, Quartierskontexte und Interventionen. Wiesbaden: Springer, S. 59-75.

Schmiz, Antonie (2017): Staging a ‘Chinatown’ in Berlin: The Role of City Branding in the Urban Governance of Ethnic Diversity. In: European Urban and Regional Studies 24 (3), S. 290-303.

Schuleri-Hartje, Ulla-Kristina, Holger Floeting und Bettina Reimann (2005): Ethnische Ökonomie. Integrationsfaktor und Integrationsmaßstab. Darmstadt/Berlin: Schader-Stiftung, difu.

Statistisches Bundesamt (2021): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mit Migrationshintergrund – Ergebnisse des Mikrozensus 2020 (Erstergebnisse). Fachserie 1, Reihe 2.2. Wiesbaden.

Zum Thema

Fussnoten

Fußnoten

  1. Schuleri-Hartje et al. (2005), S. 21.

  2. Leicht (2016), S. 36.

  3. Schmiz und Räuchle (2019).

  4. Leicht (2018).

  5. Leicht und Langhauser (2014).

  6. Goebel und Pries (2006).

  7. IQ Fachstelle Migrantenökonomie (2020).

  8. Leicht (2016).

  9. Statistisches Bundesamt (2021), S. 413. Insgesamt wird das Gründungsgeschehen stark durch die sogenannte "Erste Generation" der Zugewanderten bestimmt, auch wenn sich viele Eingewanderte erst nach längerer Aufenthaltszeit selbständig machen (Leicht, Philipp und Woywode 2021, S. 7). Zudem ist hinzuzufügen, dass quantitative Daten zu migrantischen Ökonomien aus verschiedenen methodischen Gründen nur schwer zu erheben sind und häufig nur Näherungswerte darstellen.

  10. Metzger (2020).

  11. Leicht, Philipp und Woywode (2021), S. 19.

  12. Leicht, Philipp und Woywode (2021), S. 12ff., Leicht und Langhauser (2014), S. 39.

  13. Leicht (2016), S. 35.

  14. Kloosterman et al. (1999), S. 3.

  15. Leicht (2016), S. 35.

  16. Leicht (2016).

  17. Metzger (2020).

  18. Nuissl und Schmiz (2015).

  19. Bertelsmann-Stiftung (2016), S. 48f.

  20. Leicht und Langhauser (2014), S. 62ff.

  21. Schmiz und Räuchle (2019).

  22. Schmiz (2017).

Lizenz

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Weitere Inhalte

Dr. Charlotte Räuchle forscht seit acht Jahren u.a. als wissenschaftliche Mitarbeite-rin am Institut für Geographische Wissenschaften der FU Berlin und zuvor am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück zu Themen der geographischen Migrations- und Stadtforschung.