Die Agrarindustrie der andalusischen Region Almería erwirtschaftet jährlich 3,3 Milliarden Euro Gewinn. Im "Garten Europas" reiht sich auf 300 km² ein Treibhaus aus Plastikplanen an das andere. Von hier aus wird insbesondere Deutschland auch im Winter mit frischem Gartengemüse wie Gurken, Tomaten oder Zucchini versorgt.
Noch bis in die 1970er Jahre hinein emigrierten hunderttausende Spanier_innen in die reicheren Länder Europas. Emigrant_innen aus der Region Almería, die später dorthin zurückkehrten, investierten ihr im Ausland verdientes Geld in die aufkommende Agrarindustrie. Aus den ehemaligen Tagelöhner_innen der traditionellen Landwirtschaft wurden Agrarunternehmer_innen.
Bis in die 1980er Jahre waren es vor allem ihre Familien, die in den Treibhäusern arbeiteten. Doch die sehr schwere Arbeit in bis zu 50 Grad Celsius heißen Treibhäusern in oftmals pestizidverseuchter Luft und die extrem niedrigen Löhne waren so unattraktiv, dass dafür bald ausländische Arbeitskräfte rekrutiert wurden. Zunächst kamen Menschen aus Marokko als neue Tagelöhner_innen, später auch Menschen aus dem subsaharischen Afrika und Osteuropa, für die der Lohn aufgrund der großen Einkommensunterschiede zu ihren Herkunftsländern attraktiver war als für Spanier_innen.
In den 1990er Jahren wurden die Migrationsmöglichkeiten für Drittstaatsangehörige jedoch im Zuge des aufkommenden EU-Schengen-Regimes massiv eingeschränkt – vor allem für Menschen aus afrikanischen Ländern. Gleichzeitig stieg aber der Bedarf an billigen Arbeitskräften in der rasant wachsenden spanischen Agrarindustrie. So kamen Menschen aus Osteuropa und Afrika nun ohne gültige Papiere nach Spanien bzw. blieben auch nach Auslaufen ihrer Visa dort.
Die spanische Gesetzgebung reagierte darauf im Jahr 2004 insbesondere mit einer Regelung, dem arraigo social (Sozialverwurzelung) , welche bereits existierende Regelungen aus dem Jahr 2000 spezifizierte. Sie ermöglicht es (wenigen) Menschen ohne gültige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, ihren Aufenthalt zeitlich befristet zu legalisieren. Dazu müssen sie nachweisen, dass sie sich bereits seit drei Jahren in Spanien aufhalten und sich (zumindest formal) durch den Besuch von Sprachkursen oder auch die Mitgliedschaft in Vereinen integriert haben, vor allem aber müssen sie ein Angebot für einen Arbeitsvertrag vorweisen können.
In der Praxis bedeutet dies, dass Menschen erst einmal mindestens drei Jahre in der Illegalität versuchen müssen, einen Arbeitgeber zu finden, der ihnen einen Arbeitsvertrag anbietet. Daher gilt es – letztlich wie auf jedem anderen Arbeitsmarkt – sich im Betrieb unentbehrlich zu machen, um so Arbeitgeber_innen davon zu überzeugen, dass es sich für sie lohnt, das bis dahin illegalisierte Arbeitsverhältnis zu legalisieren und dementsprechend tarifgerecht zu entlohnen bzw. Steuern zu zahlen.
Der "illegale Arbeitsmarkt" von Almería kann somit vielmehr als Legalisierungsmarkt verstanden werden: Denn die Sozialverwurzelungsregelung sorgt dafür, dass undokumentierte Beschäftigungsverhältnisse nicht nur weitgehend (inoffiziell) geduldet, sondern vielmehr gefordert werden: Menschen müssen sich erst einmal als besonders fügsame und leistungsfähige Arbeiter_innen beweisen und über einen langen Zeitraum weitgehende Rechtlosigkeit, Ausbeutung und weit verbreiteten Interner Link: Rassismus ertragen, bevor sie (eventuell) die Chance erhalten, ihren Arbeits- und Aufenthaltsstatus zu legalisieren. Es gilt, sich Legalität wortwörtlich "zu verdienen". Die Frage der Legalisierung liegt damit in erster Linie in den Händen privater Unternehmer_innen. Die ausländischen Arbeitskräfte sind weitestgehend von ihnen abhängig. Weil sie sich (zunächst) illegal in Spanien aufhalten, können Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen leicht abgewehrt werden. Doch auch Menschen, die eine temporäre Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erlangen konnten, droht im Falle des Arbeitsplatzverlusts ein Rückfall in die Illegalität. All dies führt dazu, dass Arbeitskraft, wie in früheren Zeiten der traditionellen Tagelöhnerwirtschaft, so flexibel und kostengünstig wie möglich eingesetzt werden kann. Vor allem zu den Erntezeiten werden viele Arbeitskräfte benötigt. Da viele von ihnen keinen gültigen Aufenthaltstitel haben, können sie jederzeit wieder entlassen werden.
Seit den achtziger Jahren hat sich an den konkreten Arbeitsverhältnissen in der Region kaum etwas geändert. Die zunehmende Regulierung hat lediglich dazu geführt, dass nach verschiedenen Schätzungen aktuell zwischen 80.000 und 120.000 Menschen in Almería in verschiedenen Stadien der Entrechtung und entsprechend unter ganz unterschiedlichen Bedingungen leben: Diejenigen in relativ stabilen Arbeitsverhältnissen können sich mitunter durchaus annehmbare Wohnungen leisten und im besten Fall regelmäßig Geld an Angehörige in den Herkunftsländern schicken. Viele andere leben in selbstgezimmerten Hütten ohne Strom und Wasser im Labyrinth der Treibhäuser.
All dies ist Alltag in Almería – mitten in Europa. Was hier geschieht, ist global betrachtet alles andere als die Ausnahme: Vielmehr spiegeln sich in Almería die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Millionen Menschen weltweit wider, die in arbeitsintensiven Industrien tätig sind, die, um international konkurrenzfähig zu bleiben und niedrige Preise garantieren zu können, auf billige, ultraflexible (da weitgehend rechtlose und somit ausbeutbare) und extrem leistungsbereite Arbeitskräfte setzen.
Einfache Lösungen zur Verbesserung der Situation der migrantischen Arbeitskräfte in der spanischen Landwirtschaft gibt es nicht: Ein Boykott von Erzeugnissen aus Almerías Treibhäusern würde nicht nur Arbeitsplätze vernichten, sondern damit auch für viele Menschen eine der wenigen Chancen zunichtemachen, durch die Möglichkeit der (temporären) Legalisierung von Aufenthalt und Beschäftigung in Europa Interner Link: ihre Familie zu Hause versorgen zu können. Strengere Kontrollen und Sanktionen gegen Arbeitgeber_innen, die Migrant_innen ohne Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung beschäftigen, hätten den gleichen Effekt. Eine Legalisierung aller migrantischen Arbeitskräfte würde hingegen aufgrund der damit einhergehenden höheren Lohn(neben)kosten die ohnehin schon engen Gewinnmargen gerade der kleineren landwirtschaftlichen Betriebe weiter schmälern.
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Migration in städtischen und ländlichen Räumen.