Zu Beginn der Interner Link: Corona-Pandemie 2020 geriet die Situation von Menschen in die Schlagzeilen, die insbesondere aus osteuropäischen Ländern zum Arbeiten nach Deutschland kommen. Während zur Eindämmung der Pandemie von Home Office und Social Distancing die Rede war, waren diese Arbeitskräfte trotzdem am Fließband oder auf dem Feld. Auf einmal gerieten Arbeitsbedingungen ins öffentliche Blickfeld, in denen die Einhaltung der Hygieneregeln und Mindestabstände nicht möglich waren. Migrant*innen posteten Bilder von ihrer Anreise in überfüllten Bussen; kleine Videoclips machten die Runde, die zeigten, unter welchen prekären Bedingungen viele osteuropäische Arbeitskräfte in Deutschland wohnen und arbeiten müssen oder wie Lohnbetrug funktioniert. Initiativen kritisierten die Arbeitsbedingungen – insbesondere in der Fleischindustrie, wo in Schlachtung, Zerlegung und Verarbeitung oft fast sämtliche Beschäftigten keinen deutschen Pass haben. Verschärft wurde die Kritik nach den ersten festgestellten Masseninfektionen bei Müller-Fleisch in Pforzheim und Westfleisch in Coesfeld. Nachdem im Juni dann im größten deutschen Schlacht- und Zerlegebetrieb, Tönnies in Rheda-Wiedenbrück (Ostwestfalen), mehr als 1.500 Arbeitende positiv auf das Coronavirus SARS-CoV-2 getestet und eine vierwöchige Betriebsschließung verfügt wurde, beschloss das Bundeskabinett am 27. Juni den Entwurf eines Gesetzes, das Werkvertragsbeschäftigung und Arbeitnehmerüberlassung in großen Schlachtbetrieben verbieten soll, um die Beschäftigungsbedingungen zu verbessern. Was wird sich dadurch für die Menschen verändern, die nach Deutschland kommen, um in der Fleischindustrie zu arbeiten?
Das Geschäftsmodell
Die deutsche Fleischindustrie hat eine seit nahezu zwei Jahrzehnten anhaltende Expansions- und Konzentrationsbewegung hinter sich – eine Entwicklung, die dazu geführt hat, dass Produktion und Umsatz enorm gestiegen sind. Die Marktführer für Schweinefleisch und Geflügel (Tönnies, VION, PHW / Wiesenhof, Westfleisch, Danish Crown) haben gezielt kleine Unternehmen übernommen, ihre Marktanteile innerhalb der EU massiv zuungunsten anderer Wettbewerber ausgebaut und den Export von Fleischerzeugnissen insbesondere nach Südostasien kontinuierlich gesteigert. Die Fleischindustrie verbindet dabei eine permanente Interner Link: Rationalisierung mit einer zunehmenden ökonomischen Konzentration. Dieser Prozess geht mit einer Verschiebung unternehmerischer Verantwortlichkeit an Subunternehmen, Wohnungsgeber, Rekrutierungsagenturen usw. einher. Für die Beschäftigten hat das erhebliche Folgen. So liegen ihre Arbeitszeiten – nicht offiziell, aber in der Praxis – oft weit jenseits der Bestimmungen des Interner Link: Arbeitszeitgesetzes. Durch Veränderung der Arbeitszeiten (z.B. durch das Streichen von Pausen), erhobene "Gebühren" für Werkzeuge oder "Strafen" für angebliche oder tatsächliche Fehler drücken Subunternehmen zudem die Löhne. Auch der Arbeitsschutz leidet: Mangelnde Einweisung und ein hoher Arbeitstempodruck führen zu schwersten Arbeitsunfällen. Die Zahl der Arbeitsunfälle im Bereich des Schlachtens, des Zerlegens von Tieren und der Fleischverarbeitung ist deutlich höher als in anderen Bereichen der Nahrungsmittelindustrie. Darüber hinaus sind die Wohnbedingungen prekär: Wer von der Arbeit kommt, findet sich oftmals in einem Vierbettzimmer für 250 € Miete im Monat wieder, nicht selten aber auch in Baracken oder auf Campingplätzen, die zum Teil von denselben Subunternehmen verwaltet werden, die auch für die Belieferung der Fleischkonzerne mit Arbeitskraft zuständig sind. Häufig ziehen sie die (überhöhten) Kosten für die Unterbringung direkt vom Lohn ab.
Während der Pandemie haben sich die Arbeitsbedingungen noch einmal verschärft. Die Nachfrage nach Fleischerzeugnissen (insbesondere in China) stieg. Im ersten und zweiten Quartal kam es zu einem rasanten Anstieg der Umsätze – Indikator für eine weitere Ausdehnung von Arbeitszeiten und Produktionsdruck. In Interviews mit Beschäftigten, die wir im Rahmen einer durch das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen seit 2017 durchgeführten Externer Link: Studie in der Fleischindustrie gemacht haben, werden von allen während der Pandemie Befragten eine erhöhte Arbeitsbelastung und Forderungen nach Überstunden und Wochenendarbeit berichtet. Die Arbeitsbedingungen unter wachsendem Produktionsdruck ebenso wie die körperlich anstrengende Arbeit am Fließband in Räumen, in denen sich wegen der kalten Temperaturen das Coronavirus Sars-Cov-2 vermutlich schneller ausbreitet als in einer warmen Umgebung, können als unmittelbare Ursachen der Masseninfektionen in den Fleischbetrieben gelten. Infolge der Schließung einzelner Betriebe verschlechterte sich die Situation dort, wo die Produktion aufrechterhalten wurde, weil nun ein größerer Anteil zu schlachtender und zerlegender Tiere auf die noch geöffneten Betriebe entfiel.
QuellentextFleischindustrie in Deutschland
Deutschland ist der größte Schweinefleisch-, der zweitgrößte Rindfleisch- und der fünftgrößte Geflügelproduzent in Europa. 2018 wurden in Deutschland insgesamt 8,04 Millionen Tonnen Fleisch erzeugt, wovon rund vier Millionen Tonnen ins Ausland exportiert wurden, vor allem in andere EU-Staaten. Allein der Markführer Tönnies schlachtete und zerlegte 20,8 Millionen Schweine (16,6 Mio. davon in Deutschland) und 440.000 Rinder – 50 Prozent davon für den Export. Die Tönnies-Gruppe beschäftigt in ihren Betrieben 16.500 Menschen, davon mehr als 6.000 am Standort Rheda-Wiedenbrück.
Insgesamt arbeiten in Deutschland in den Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten nach unterschiedlichen Schätzungen mehr als 200.000 Personen. Da die Zahl der Werkvertragsbeschäftigten und Leiharbeiter*innen in den Daten des Statistischen Bundesamtes nicht vollständig erfasst wird, ist man hier auf Schätzungen angewiesen. Im Bereich von Schlachtung und Zerlegung liegt der Anteil eigener Beschäftigter zwischen 10 und (sehr selten bei bis zu) 50 Prozent. Einige wenige Betriebe haben bereits seit einigen Jahren auf Direktbeschäftigung umgestellt.
Mit einem Umsatzanteil von 27,5 Prozent ist die Fleischwirtschaft der umsatzstärkste Bereich der Nahrungs- und Genussmittelindustrie. Im Jahr 2019 erwirtschafteten die 563 Schlachterei- und Fleischverarbeitungsbetriebe mit mehr als 50 Beschäftigten rund 39,7 Milliarden Euro. Allein im März 2020 erzielte die Branche einen Umsatz von 3,9 Milliarden Euro. Das war der höchste jemals gemessene Monatswert. 56 Prozent des Branchenumsatzes entfielen 2019 auf die 15 größten Fleischbetriebe.
Die Umsatzsteigerungen der letzten Jahre waren vor allem auf die wachsende Nachfrage im Ausland zurückzuführen – insbesondere in China. Der Fleischkonsum in Deutschland ist in langfristiger Perspektive gesunken. 2018 wurden pro Kopf 60,2 Kilogramm Fleisch verzehrt.
Quellen: Hans Böckler Stiftung (2019): Branchenmonitor Schlachten und Fleischverarbeitung. Düsseldorf; Statistisches Bundesamt (2020): Fleischindustrie im März 2020 mit Umsatzrekord. Externer Link: Pressemitteilung vom 1. Juli; Statistisches Bundesamt (2020): Fleischproduktion 2019 um 1,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Externer Link: Pressemitteilung vom 5. Februar.
Arbeitsschutzkontrollgesetz für die Fleischindustrie
Wesentlicher Inhalt des Externer Link: Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zur Verbesserung des Vollzugs im Arbeitsschutz ist das Verbot der Beschäftigung mit Werkvertrag und nach Arbeitnehmerüberlassung (Leiharbeit). Dabei ist es nichts Neues, dass der Gesetzgeber in die Arbeitsbedingungen eingreift. So wurde 2014 in der Fleischindustrie ein Mindestlohn für allgemeinverbindlich erklärt (mittlerweile wieder abgeschafft). 2017 wurde das Gesetz zur Sicherung von Arbeitnehmerrechten in der Fleischindustrie (GSA) erlassen. Seitdem haften auftraggebende Unternehmen für die Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen und müssen die Arbeitszeiten aller Beschäftigten erfassen. Das Problem: Der informelle Charakter der Arbeitsverhältnisse unterläuft diese Regelungen. An den verschiedensten Stellen des Prozesses, von der Anreise, über die Unterkunft bis hin zum Arbeitsverhältnis selbst, ändert sich die Praxis bisher kaum: Auf dem Papier müssen Arbeitszeiten eingehalten werden, tatsächlich wird undokumentiert bis zu 16 Stunden am Tag und bis zu sieben Tage in der Woche gearbeitet. Oder es werden, wie in unserer Studie vielfach dokumentiert, "Eintrittsgelder" für Arbeitsverhältnisse verlangt oder horrende Fahrtkosten für den Transport zur Arbeitsstätte vom Lohn abgezogen.
Die Arbeitenden nehmen diese Bedingungen oft hin – auch, weil ihnen soziale Rechte fehlen. Hierzu gehört die Nichtanerkennung ausländischer Berufsabschlüsse, die kaum Alternativen zur Arbeit im Niedriglohnsektor lässt. Oder der Umstand, dass viele Unionsbürger*innen keinen arbeitsunabhängigen Anspruch auf Grundsicherung für Arbeitssuchende (nach SGB II) und Sozialhilfe (nach Interner Link: SGB XII) haben. Fast alle von uns Interviewten sagten, dass die dadurch hervorgebrachte Abhängigkeit einer der wesentlichen Gründe dafür sei, dass die Arbeitsbedingungen auf dem Papier und in der Wirklichkeit nicht übereinstimmen.
Das Verbot der Werkverträge ab 1.1.2021 ist insofern ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Es bleibt abzuwarten, wie sich darüber hinaus das Verbot der Leiharbeit ab 1.4.2021 auswirken wird: Hier hat der Gesetzgeber einige Ausnahmen zugelassen, die allerdings bspw. an Tarifierung und eine Quote gebunden sind. Aus dem Verbot von Werkverträgen und Leiharbeit ergeben sich aber nicht zwangsläufig langfristigere Arbeitsverhältnisse, so eine Erkenntnis aus unserem Forschungsprojekt: Betriebe, die Werkverträge unlängst abgeschafft haben, greifen in vielen Tätigkeitsbereichen vorrangig auf kurzzeitige Befristungen zurück.
Insgesamt ist die Möglichkeit, eigene arbeitsrechtliche Ansprüche, die formal durchaus bestehen mögen, auch faktisch durchzusetzen, eine Voraussetzung dafür, prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen in der Fleischindustrie und anderswo zurückzudrängen: Hierzu bedarf es erweiterter sozialer und politischer Rechte und handlungsfähiger Belegschaften, die auf die Unterstützung einer gut verankerten betrieblichen wie gewerkschaftlichen Interessenvertretung bauen können.
Dieser Artikel ist Teil des Kurzdossiers Interner Link: Migration in städtischen und ländlichen Räumen.