Unter "Diaspora" versteht man einen Typ ethnischer und/oder religiöser Minderheiten. Es handelt sich um Bevölkerungsgruppen mit meist über Generationen aufrechterhaltene Herkunftslandbezüge, deren Selbstverständnis von einer mitunter traumatischen Wanderungsgeschichte geprägt ist. Ihre grenzüberschreitenden Loyalitäten, Beziehungen oder Orientierungen unterscheiden Diasporagruppen von anderen Typen ethnischer und/oder religiöser Minderheiten.
Identitätsbezüge
Diasporische Identitäten bilden sich im Spannungsfeld zwischen (a) der Orientierung an einer realen oder mythischen Herkunftsregion, (b) einer spezifischen Migrationsgeschichte, (c) der Binnensolidarität innerhalb einer Diasporagruppe und (d) den Lebensrealitäten in den Zuwanderungsregionen. Personen, die sich einer Diaspora zurechnen, fühlen sich oft untereinander durch Abstammung, Geschichte, Religion und/oder Kultur verbunden. Zugehörigkeit wird in der Regel familienbezogen und generationsübergreifend verstanden. Der Inhalt, die Relevanz und die Reichweite dieses Zugehörigkeitsgefühls genauso wie die Merkmale, auf die es sich bezieht, unterliegen situativem und historischem Wandel.
Bedeutungswandel des Diasporabegriffs
Der Begriff Diaspora (altgriechisch διασπορά "Verstreutheit") verwies lange Zeit zentral auf die Erfahrung von
Der moderne Begriff der Diaspora greift diese Bedeutung auf, vollzieht aber eine semantische Öffnung. Er setzt Elemente der jüdischen Diasporaerzählung in Beziehung zu den historischen Erfahrungen anderer ethnischer und religiöser Gruppen. In den 1960er und 1970er Jahren stand dabei vor allem das Motiv der traumatischen Flucht- und Vertreibungsgeschichte im Vordergrund.
Der Aufstieg des modernen Diasporabegriffs hängt mit der Erschütterung der Vorherrschaft (Hegemonie) "weißer" Europäer*innen und Amerikaner*innen zusammen. In den 1960er und 1970er Jahren führte dies vor allem in den USA zu einer Abkehr vom Assimilationsparadigma, welches eine Anpassung von ethnisch und religiösen 'Anderen' an die sogenannte core culture (Kernkultur) der weißen anglosächsischen und protestantischen Amerikaner*innen vorsah.
Darüber hinaus rückten auch die gesellschaftlichen Verdienste und kulturellen Beiträge von Diasporagruppen wie Juden und Jüdinnen
Die Frage, wie es möglich sei, die wachsende Bedeutungsvielfalt des Begriffs aufzunehmen, zu ordnen und den Begriff trotzdem noch abgrenzbar zu halten, beschäftigte Sozialwissenschaftler*innen seit den frühen 1990er Jahren. William Safran (1991) formulierte eine Liste mit Kriterien, die eine Identifikation von Diasporagruppen ermöglichen sollten. Diese umfassten die Migrationsgeschichte einer Gruppe von Menschen und deren (traumatische) Bedingungen, die Herkunftslandorientierung, die Diskriminierungserfahrung in den Zuwanderungsregionen sowie die Solidarität und die Identität, die sich daraus für die Angehörigen einer Diaspora ableitet. Robin Cohen (2008) verfeinerte diese Liste und entwickelte eine Typologie von Diasporagruppen. Er unterscheidet Opferdiaspora, Arbeiterdiaspora, Händlerdiaspora, imperiale Diaspora und deterritorialisierte Diaspora. Als Beispiele nennt er u.a. Jüdinnen und Juden sowie Afroamerikaner*innen als Opferdiaspora, indische und türkische Vertragsarbeiter*innen als Arbeiterdiaspora, koloniale britische Siedler*innen z.B. in Südafrika als imperiale Diaspora, libanesische oder chinesischer Händlerinnen- und Händlerminoritäten als Händlerdiaspora und die karibischen Bevölkerungen, die zwar eine Erinnerung an eine Wanderungsgeschichte, aber keinen klaren Herkunftslandbezug haben, als deterritorialisierte Diaspora.
Kritik am Diasporabegriff
In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und in den frühen 2000er Jahren wurde der Diasporabegriff einer eingehenderen Kritik unterzogen.
Diese Kritik wiederum wurde von einer neuen Generation von Diasporaforscher*innen aufgenommen. In ihren Arbeiten wird die Existenz von Diasporagruppen nicht vorausgesetzt, sondern deren praktisches 'In-Erscheinung-Treten' im Hinblick auf Interessenkonstellationen, Repräsentationslogiken, Gelegenheitsstrukturen und institutionelle Voraussetzungen untersucht und erklärt. Wegeweisend war diesbezüglich ein Aufsatz des Soziologen Rogers Brubaker (2005), in dem er argumentierte: "Wir sollten im Fall von Diaspora in erster Linie als einer Kategorie der Praxis denken. (…) Sie beschreibt die Welt weniger, als dass sie zu verändern sucht. Als Idiom, Standpunkt und Anspruch ist Diaspora eine Art, Identitäten und Loyalitäten einer Bevölkerungsgruppe zu formulieren."
Dieser Agenda folgend untersuchte etwa Martin Sökefeld (2006) anhand des Falls der alevitischen Diaspora die politischen Mittel und Bedingungen, die dazu führten, dass Menschen sich als diese Diaspora mobilisieren ließen. Alan Gamlen (2014) sowie Kristine Krause und Katharina Schramm (2011) fragen nach der politische Relevanz des Diasporabegriffs für die Neuordnung von Politiken nationaler Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft. Insbesondere in Asien und Afrika wurden