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Was ist eine Diaspora?

Dr. Boris Nieswand

/ 5 Minuten zu lesen

Was unterscheidet Diasporagruppen von anderen Migrant*innengruppen? Wie hat sich der Diasporabegriff im Laufe der Zeit verändert? Ein Blick auf den Bedeutungswandel, die kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff und aktuelle Bezüge der jüngeren Diasporaforschung.

Die Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin.
Der Diasporabegriff wurde lange Zeit ausschließlich mit der traumatischen Flucht- und Vertreibungsgeschichte und der daraus resultierenden weltweiten Verstreuung von Menschen jüdischen Glaubens in Verbindung gebracht. (© dpa)

Unter "Diaspora" versteht man einen Typ ethnischer und/oder religiöser Minderheiten. Es handelt sich um Bevölkerungsgruppen mit meist über Generationen aufrechterhaltene Herkunftslandbezüge, deren Selbstverständnis von einer mitunter traumatischen Wanderungsgeschichte geprägt ist. Ihre grenzüberschreitenden Loyalitäten, Beziehungen oder Orientierungen unterscheiden Diasporagruppen von anderen Typen ethnischer und/oder religiöser Minderheiten.

Identitätsbezüge

Diasporische Identitäten bilden sich im Spannungsfeld zwischen (a) der Orientierung an einer realen oder mythischen Herkunftsregion, (b) einer spezifischen Migrationsgeschichte, (c) der Binnensolidarität innerhalb einer Diasporagruppe und (d) den Lebensrealitäten in den Zuwanderungsregionen. Personen, die sich einer Diaspora zurechnen, fühlen sich oft untereinander durch Abstammung, Geschichte, Religion und/oder Kultur verbunden. Zugehörigkeit wird in der Regel familienbezogen und generationsübergreifend verstanden. Der Inhalt, die Relevanz und die Reichweite dieses Zugehörigkeitsgefühls genauso wie die Merkmale, auf die es sich bezieht, unterliegen situativem und historischem Wandel.

Bedeutungswandel des Diasporabegriffs

Der Begriff Diaspora (altgriechisch διασπορά "Verstreutheit") verwies lange Zeit zentral auf die Erfahrung von Interner Link: Vertreibung und Versklavung der Juden und Jüdinnen nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Dieser historische Bedeutungskern war wichtiger Bezugspunkt für die Identität jüdischer Bevölkerungsgruppen.

Der moderne Begriff der Diaspora greift diese Bedeutung auf, vollzieht aber eine semantische Öffnung. Er setzt Elemente der jüdischen Diasporaerzählung in Beziehung zu den historischen Erfahrungen anderer ethnischer und religiöser Gruppen. In den 1960er und 1970er Jahren stand dabei vor allem das Motiv der traumatischen Flucht- und Vertreibungsgeschichte im Vordergrund. Dies betraf etwa die Erfahrungen von Interner Link: Versklavung und Zwangsmigration von Afrikaner*innen, die irische Massenauswanderung während der großen Hungersnot 1845-1852, die Externer Link: Vertreibung der Armenier*innen durch die osmanische Armee 1915-16 sowie die Interner Link: Flucht von Palästinenser*innen nach der Gründung Israels 1948.

Der Aufstieg des modernen Diasporabegriffs hängt mit der Erschütterung der Vorherrschaft (Hegemonie) "weißer" Europäer*innen und Amerikaner*innen zusammen. In den 1960er und 1970er Jahren führte dies vor allem in den USA zu einer Abkehr vom Assimilationsparadigma, welches eine Anpassung von ethnisch und religiösen 'Anderen' an die sogenannte core culture (Kernkultur) der weißen anglosächsischen und protestantischen Amerikaner*innen vorsah. In diesem Rahmen wurden auch die gewaltvollen Assimilations-, Kolonialisierungs- und Verfolgungserfahrungen von ethnischen Minderheiten sowie deren Widerstand gegen Assimilation und Unterdrückung stärker thematisiert.

Darüber hinaus rückten auch die gesellschaftlichen Verdienste und kulturellen Beiträge von Diasporagruppen wie Juden und Jüdinnen oder Afroamerikaner*innen in den Vordergrund. Die positivere Ausdeutung des Diasporabegriffs förderte wiederum die Übernahme dieses Begriffs durch andere, teilweise auch in jüngerer Vergangenheit migrierte Personengruppen.

Die Frage, wie es möglich sei, die wachsende Bedeutungsvielfalt des Begriffs aufzunehmen, zu ordnen und den Begriff trotzdem noch abgrenzbar zu halten, beschäftigte Sozialwissenschaftler*innen seit den frühen 1990er Jahren. William Safran (1991) formulierte eine Liste mit Kriterien, die eine Identifikation von Diasporagruppen ermöglichen sollten. Diese umfassten die Migrationsgeschichte einer Gruppe von Menschen und deren (traumatische) Bedingungen, die Herkunftslandorientierung, die Diskriminierungserfahrung in den Zuwanderungsregionen sowie die Solidarität und die Identität, die sich daraus für die Angehörigen einer Diaspora ableitet. Robin Cohen (2008) verfeinerte diese Liste und entwickelte eine Typologie von Diasporagruppen. Er unterscheidet Opferdiaspora, Arbeiterdiaspora, Händlerdiaspora, imperiale Diaspora und deterritorialisierte Diaspora. Als Beispiele nennt er u.a. Jüdinnen und Juden sowie Afroamerikaner*innen als Opferdiaspora, indische und türkische Vertragsarbeiter*innen als Arbeiterdiaspora, koloniale britische Siedler*innen z.B. in Südafrika als imperiale Diaspora, libanesische oder chinesischer Händlerinnen- und Händlerminoritäten als Händlerdiaspora und die karibischen Bevölkerungen, die zwar eine Erinnerung an eine Wanderungsgeschichte, aber keinen klaren Herkunftslandbezug haben, als deterritorialisierte Diaspora.

Kritik am Diasporabegriff

In der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und in den frühen 2000er Jahren wurde der Diasporabegriff einer eingehenderen Kritik unterzogen. An die sozialkonstruktivistische Ethnizitäts- und Nationalismusforschung anschließend wurde argumentiert, dass der Begriff der Diaspora Gruppenzugehörigkeiten essentialisiere. Die Diasporaforschung würde die Rhetorik der Diaspora zu unkritisch bestätigen. Dies, so die Kritiker*innen, mache blind für die internen Widersprüche und Ungleichheiten innerhalb diasporischer Gruppen, die politischen Agenden, die sich hinter Diasporadiskursen verbergen, die Bedeutung gruppenübergreifender Beziehungen und Solidarität in Migrationssituationen sowie die nicht-ethnischen Elemente von Widerstand gegen Ungerechtigkeit und Unterdrückung (z.B. in Form von Arbeiter*innenprotesten oder Interner Link: zivilgesellschaftlichen Protesten gegen Abschiebungen von Geflüchteten).

Diese Kritik wiederum wurde von einer neuen Generation von Diasporaforscher*innen aufgenommen. In ihren Arbeiten wird die Existenz von Diasporagruppen nicht vorausgesetzt, sondern deren praktisches 'In-Erscheinung-Treten' im Hinblick auf Interessenkonstellationen, Repräsentationslogiken, Gelegenheitsstrukturen und institutionelle Voraussetzungen untersucht und erklärt. Wegeweisend war diesbezüglich ein Aufsatz des Soziologen Rogers Brubaker (2005), in dem er argumentierte: "Wir sollten im Fall von Diaspora in erster Linie als einer Kategorie der Praxis denken. (…) Sie beschreibt die Welt weniger, als dass sie zu verändern sucht. Als Idiom, Standpunkt und Anspruch ist Diaspora eine Art, Identitäten und Loyalitäten einer Bevölkerungsgruppe zu formulieren." Für Brubaker geht demnach die Existenz einer Diasporagruppe nicht dem Gebrauch der Kategorie "Diaspora" voraus, sondern durch den Gerbrauch der Kategorie kann es überhaupt erst zur Bildung einer Diasporagruppe kommen.

Dieser Agenda folgend untersuchte etwa Martin Sökefeld (2006) anhand des Falls der alevitischen Diaspora die politischen Mittel und Bedingungen, die dazu führten, dass Menschen sich als diese Diaspora mobilisieren ließen. Alan Gamlen (2014) sowie Kristine Krause und Katharina Schramm (2011) fragen nach der politische Relevanz des Diasporabegriffs für die Neuordnung von Politiken nationaler Zugehörigkeit und Staatsbürgerschaft. Insbesondere in Asien und Afrika wurden Interner Link: Diasporagruppen in den Kontext von Entwicklungsdiskursen gerückt. Loyalitäten von Migrant*innen und die damit verbundenen Interner Link: Rücküberweisungen erscheinen diesbezüglich als Ressource für nationale Entwicklungsbestrebungen. Der Diasporadiskurs gibt sowohl den Staaten als auch den Migrant*innen eine Form, diese Beziehungen zu adressieren, emotional aufzuladen und zu institutionalisieren.

Mehr zum Thema

Quellen / Literatur

Anthias, Floya (1998): Evaluating ‘diaspora’: beyond ethnicity? Sociology 32 (3), S. 557-580.

Brubaker, Rogers (2005): The 'diaspora' diaspora. Ethnic and Racial Studies 28 (1), S. 1-20.

Clifford, James (1994): Diasporas. Cultural Anthropology 9 (3), S. 302-338.

Cohen, Robin (1996): Diasporas and the Nation-State. From Victims to Challengers. International Affairs 72 (3), S. 507-520.

——— (2008): Global diasporas: An introduction. London und New York:Routledge.

Gamlen, Alan (2014): Diaspora Institutions and Diaspora Governance. International Migration Review 48, S. 180-217.

Gilroy, Paul (1993): The Black Atlantic: Modernity and double-consciousness. London: Verso.

Glick Schiller, Nina, Ayşe Çağlar und Taddeus Guldbrandsen (2006): Beyond the Ethnic Lens. Locality, Globality, and Born-Again Incorporation. American Ethnologist 33 (4), S. 612-633.

Gordon, Milton (1964): Assimilation in American life. The role of race, religion and national origin. New York: Oxford University Press.

Hall, Stuart (1990): Cultural Identity and Diaspora. In: Jonathan Rutherford (Hrsg.): Identity. Community, Culture, Difference. London: Lawrence and Wishart, S. 222-237.

Krause, Kristine und Katharina Schramm (2011): Thinking through political subjectivity. African Diaspora 4 (2), S.115-134.

Nieswand, Boris (2011): Der Migrations-Entwicklungs-Nexus in Afrika. Diskurswandel und Diasporaformation. In: Tatjana Baraulina, Axel Kreienbrink und Andrea Riester: Potenziale der Migration zwischen afrikanischen Ländern und Deutschland.Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, S. 400-425.

Safran, William (1991): Diasporas in Modern Societies: Myth of Homeland and Return. Diaspora 1 (1), S. 83-99.

Sökefeld, Martin (2006): Mobilizing in transnational space: a social movement approach to the formation of diaspora. Global Networks 6 (3), S. 265-284.

Soysal, Yasemin Nuhoğlu (2002): Citizenship and Identity: Living in Diasporas in Post-War Europe? The postnational self: Belonging and identity 10, S.137151.

Van Hear, Nicholas, Frank Pieke und Steven Vertovec (2004):The contribution of UK-based diasporas to development and poverty reduction. COMPAS (Centre on Migration, Policy and Society), University of Oxford.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Cohen (2008).

  2. Gordon (1964).

  3. Hall (1990); Clifford (1994).

  4. Cohen (1996).

  5. Cohen (1996).

  6. Anthias (1998); Soysal (2002); Glick Schiller, Çağlar, Guldbrandsen (2006).

  7. Unter Essentialisierung versteht man in den Sozialwissenschaften den Fehlschluss, die Existenz und Relevanz von Gruppenkategorien ("die Deutschen", "die Frauen", "die Hipster") durch Eigenschaften zu erklären, die zu einem gegebenen Zeitpunkt in idealisierender Weise zur Feststellung von Mitgliedschaft herangezogen werden. Zum Beispiel: Die Deutschen formen eine Gruppe, weil sie dieselbe Sprache sprechen und eine Geschichte teilen. Stattdessen geht die sozialkonstruktivistische Ethnizitäts- und Nationalismusforschung davon aus, dass die Verbindungen zwischen Eigenschaften von Mitgliedern und Identitätskategorien historisch und situativ variieren. Sowohl Kategorien als auch Eigenschaften von Mitgliedern werden erst im Kontext von identitätspolitisch aufgeladenen historischen Prozessen hervorgebracht.

  8. Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche durch den Autor.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Dr. Boris Nieswand für bpb.de

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Weitere Inhalte

ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Migration und Diversität an der Universität Tübingen. Er ist Mitglied im DFG-Netzwerk "Grundlagen der Flüchtlingsforschung" und im "Rat für Migration".