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Von Kinokapellen und Klavierillustratoren Die Ära der Stummfilmmusik

Rainer Fabich

/ 14 Minuten zu lesen

Berlin, 1. November 1895, Varieté Wintergarten. Max und Emil Skladanowsky präsentieren vor ca. 1.500 Gästen bewegte Bilder als Schlussnummer ihres Varietéprogramms. Sie zeigen sie mit ihrem Projektor, dem Bioscop. Das 15-minütige Programm mit acht kurzen Streifen gefilmter Varieténummern wird begleitet von einem Orchester. Ein gewisser Herman  Krüger, Freund von Max Skladanowsky, hat die Musik dazu geschrieben. Paris, 28. Dezember 1895, Indischer Salon des Grand Café, Boulevard des Capucines. Die Brüder Lumière führen erstmals öffentlich zehn ihrer selbstgedrehten dokumentarischen Kurzfilme von 40 bis 50 Sekunden Dauer einem zahlenden Publikum vor. Dazu benutzen sie den Kinematographen, ein von ihnen selbst entwickeltes Aufnahme-, Kopier- und Projektionsgerät. Ein Pianist begleitet die Filme. Beide Ereignisse markieren den Beginn einer neuen Epoche, der Stummfilmzeit. In ihr wird der Film von einer Jahrmarktattraktion zum populären Massenmedium, zu einer neuen, eigenen Kunstform mit stumm agierenden Schauspielern. In ihr entstehen der Spiel- und Dokumentarfilm, eine eigene Filmsprache (Kamera und Montage) und nicht zuletzt eine neue musikalische Gattung, die Filmmusik.

Das Ende dieser Ära wurde in den späten 1920er Jahren eingeläutet, als der Interner Link: Tonfilm sich durchzusetzen begann. Dies bedeutete für jeden dritten Berufsmusiker in Deutschland den Verlust des Arbeitsplatzes. Nach einer mehrjährigen Übergangszeit, die mancherorts bis in die Mitte der 1930er Jahre dauerte, verschwand der nun retrospektiv so bezeichnete Stummfilm fast vollständig. Allerdings war es in den Kinos nur sehr selten "stumm" gewesen. Dafür gab es verschiedene Gründe. Traditionellen Vorbildern folgend, in denen die Musik Verbindungen mit Sprache, Drama oder Tanz eingeht, lag es nahe, dass die Musik mit dem Film zu einer untrennbaren Einheit verschmelzen würde. Diese "Vorläufer", wie Bühnen- und Programmmusik, Melodram, Oratorium, Oper und Operette, Musical und Revue, wurden immer wieder in der Stummfilmmusik adaptiert. Nicht nur wurden zahlreiche Theaterstücke und Opern verfilmt, sondern ihre musikdramaturgische Gestaltung wurde auch in den Originalkompositionen übernommen. Man griff Prinzipien wie Leitmotiv, Musiknummer, Rezitativ und durchkomponierte Sequenzen auf und passte sie den Besonderheiten des neuen Mediums an.

Musik sollte nicht nur das störende Projektorengeräusch übertönen, sondern auch dem stummen Mienen- und Gebärdenspiel der Leinwandakteure Leben einhauchen sowie die flimmernden Bilder musikalisch illustrieren, emotionalisieren oder kommentieren. Dieser akustische Subcode lieferte dem Zuschauer zusätzliche Informationen zu dem, was gerade auf der Leinwand passierte, und schuf einen Klangraum, der die projizierte Zweidimensionalität vergessen lassen sollte. Auch die "Steigerung des Kunstgenusses" durch Musik, wie es Brecht formulierte, war schon damals ein wichtiger Faktor. Nach einer Publikumsbefragung aus dem Jahr 1914 scheint die Musik im Kino, zumindest für Mädchen, ein zentrales Motiv für den Kinobesuch gewesen zu sein (Altenloh).

Live oder technisch reproduzierte Tonerzeugung

Innenansicht eines Kinos mit Wurlitzer-Orgel - Foto um 1920. (© picture-alliance, akg-images)

Bereits seit den frühesten Anfängen wurde der Ton (Musik, Geräusch und manchmal auch die Sprache) auf zwei verschiedenen Wegen realisiert: live oder durch Reproduktion mit technischen Hilfsmitteln. Den Live-Ton erzeugten im Kino anwesende Musiker und Geräuschemacher, zuweilen auch Sänger oder Sprecher. Schon zu Beginn der Stummfilmära, etwa beim Wanderkino, kommentierte ein Rezitator in der Art eines Moritatensängers das Bild bzw. die Rollen des Schauspielers, indem er mit jeweils veränderter Stimme sprach. Sänger und Chöre kamen zum Einsatz, als die in Mode gekommenen Opern- und Operettenverfilmungen live aufgeführt wurden. Wichtigster Interpret im Kino war jedoch zunächst der Piano-, Harmonium- oder Orgelspieler, der am leichtesten den schnellen Filmbildern folgen konnte.

Die Etablierung eigener Kinoensembles lief parallel mit der Entstehung ortsgebundener Kinos. Die Spanne reichte vom Duo, Trio, Salonorchester bis zum großen Sinfonieorchester samt Chor. Die Aufgabe des Geräuschemachers übernahm meist der Schlagzeuger oder der Organist, dessen spezielle Kinoorgel bestimmte Geräuscheffekte liefern konnte. Die orchestrale Live-Musik gelangte vor allem in den Kinopalästen der 1920er Jahre zur vollen Blüte und stellte den Höhepunkt einer bemerkenswerten Entwicklung dar.

Ein Problem war die Synchronität zwischen Film und Musik. Um dieses in den Griff zu bekommen, mussten die Musiker ihr Spiel entweder dem Film anpassen oder es wurde mit technischen Hilfsmitteln gearbeitet oder experimentiert. War es noch relativ einfach, die Bandgeschwindigkeit zwischen Vorführer und Dirigenten durch Handzeichen, Telefon oder Signallampen abzustimmen, mussten sich der Dirigent und sein Orchester beim Noto-Film-Verfahren am Notenband orientieren, das am unteren Rand des Films einkopiert wurde und von links nach rechts wanderte. Beim Beck-Verfahren agierten die Schauspieler während der Dreharbeiten zu einer Musik, die am Aufnahmeort erzeugt wurde. Die mit einer zweiten Kamera aufgezeichneten Bewegungen des Dirigenten wurden dann im Kino vor das Orchester projiziert. Bei einem anderen Verfahren steuerte ein Orchestermusiker die Vorführgeschwindigkeit des Projektors mithilfe des Messtronoms, eines Geräts des deutschen Filmpioniers Oskar Messter. Carl Robert Blums Musikchronometer schließlich ermöglichte eine ferngesteuerte Synchronisation zwischen einem Notenband am Pult des Dirigenten und dem Filmprojektor.

Bei reproduzierter Musik kamen Interner Link: Grammophon oder Tonrollen zum Einsatz, aber auch mechanische Musikinstrumente wie Pianola, mechanisches Klavier oder Orchestrion sowie speziell konstruierte Kinematographen-Instrumente. Die technischen Unzulänglichkeiten dieser Hilfsmittel hinsichtlich Aufführungsdauer, Lautstärke und vor allem Synchronität von Bild und Ton konnten letztlich jedoch erst mit Einführung des Tonfilms überwunden werden, mit dem sogenannten Lichttonverfahren, einer optischen Umsetzung der Tonspur auf dem Filmstreifen.

Live-Musik entstand in den einzelnen Kinos jeweils neu vor Ort und war somit eng an äußere Rahmenbedingungen (Größe und Qualität des Kinos bzw. des ausführenden Ensembles) gebunden. Art und Weise sowie Qualität der Live-Musik lagen in den Händen der dort Verantwortlichen. Sie divergierte deshalb sehr stark und konnte auch die Rezeption eines Films erheblich beeinflussen. Die reproduzierte Musik dagegen wurde meist vom Filmhersteller oder vom Verleiher in Form von Tonträgern zusammen mit dem Film vertrieben, sofern der Kinobetreiber nicht eigenes Material zur Tongestaltung verwendete.

Kompilationen und Illustrationen

Die Zusammenstellung der Live-Musik, damals Kompilation oder Illustration genannt, lag zunächst in den Händen eines Pianisten oder Dirigenten. Dabei konnte man auf bestehende Werke der Unterhaltungs- und Konzertmusik, auf Opern oder Operetten zurückgreifen. Oder man verwendete extra für diesen Zweck geschaffene kurze Musikstücke für filmische Standardsituationen, wie Spannung, Verfolgung, Flucht, Liebes- oder Trauerszenen. So enthält J. S. Zamecniks Sam Fox Moving Picture Music (Bd. 1, New York, 1913), eines der ersten seiner Art, u. a. folgende Genrestücke für Klavier: Cowboy-, Märchen-, Kriegs- und Sturmmusik, chinesische und orientalische Musik. In Deutschland veröffentlichte der Filmmusikpionier und Komponist Giuseppe Becce im Jahr 1919 den ersten Band seiner Kinothek (Kinobibliothek) mit Bearbeitungen existierender Werke für den filmischen Gebrauch und Genrestücken. Auch Arnold Schönbergs Begleitungsmusik zu einer Lichtspielscene (1930) spiegelt die damals übliche Vertonungspraxis wider. Sie hat sich vom Prinzip her bis heute erhalten, und zwar vor allem im Bereich des Fernsehens, im Einsatz einer nach Stichworten katalogisierten Archiv- oder Librarymusik.

Die Kunst des Illustrators lag darin, aus dem Mix verschiedenster Werke eine Art geschlossenes Ganzes herzustellen. Zeitzeuge Kurt London schildert den Arbeitsablauf eines Filmillustrators: Betrachten des Films, um einen Eindruck von Inhalt und Form zu bekommen; Stoppen der Dauer der Szenen, die er nach musikalischen Gesichtspunkten aufteilt; Auswahl der Musikstücke nach stilistischen und dramaturgischen Gesichtspunkten und ihre Bearbeitung und Anpassung an den Film; Komposition von Überleitungen; Instrumentierung der Musik für das jeweilige Ensemble.

Die Kompilationspraxis dominierte den filmmusikalischen Alltag und lieferte neben guten (vor allem in den 1920er Jahren) auch fragwürdige Ergebnisse, die für das damals teilweise schlechte Image von Filmmusik verantwortlich waren. Sie war letztlich Ausdruck der Arbeitsbedingungen der Kinomusiker (großer Zeitdruck, begrenztes Notenmaterial), offenbarte aber auch stilistische und dramaturgische Unsicherheit bzw. Inkompetenz einzelner Illustratoren, besonders in der Anfangsphase der Stummfilmmusik. Oskar Messter berichtet hierzu: "Noch im Jahre 1913 war der künstlerische Wert der Filmbegleitmusik selbst in manchen größeren Lichtspieltheatern recht mäßig. Die Kinokapellen spielten zu den Filmen eine Reihe von Musikstücken und Phantasien, die meistens an dem Inhalt des Films vorbeigingen."

Die Kompilation war jedoch notwendig, um den hohen Bedarf an Musik zu decken, den ein ständig wechselndes Kinoprogramm erzeugte. In den 1920er Jahren wurde diese Praxis derart verfeinert, dass durchaus künstlerische Ergebnisse erzielt wurden, gefördert durch Qualitätsdebatten in einschlägigen Filmmusikpublikationen. Dies gelang, wenn etwa stilistische Einheitlichkeit erreicht wurde oder ein erfahrener Kapellmeister das nötige Fingerspitzengefühl im Umgang mit der Musik bewies. Nicht selten beauftragten die Filmfirmen deshalb die Dirigenten der Uraufführungstheater, für ihre Kompilate sogenannte cue sheets, Musikaufstellungen, anzufertigen, die dann zusammen mit dem Film an die Kinos ausgeliefert wurden.

Autorenillustrationen und Improvisationen

Eine Verbesserung der Filmmusikpraxis bedeutete die damals als "Autorenillustration" bezeichnete Musik, eine Mischform von Kompilation und Komposition. Der kompositorische Anteil eines Illustrators konnte jedoch sehr stark variieren. Wichtigste Vertreter dieser Zunft in Deutschland waren Eduard Künneke, Hans May, Fritz Wenneis und Giuseppe Becce, der zahlreiche Filme, wie Komtesse Ursel von Curt A. Stark (1913) oder Der letzte Mann (1924) und Tartüff (1925) von F. W. Murnau, vertonte. Becce arbeitete auch eng mit Hans Erdmann (Musik zu Nosferatu von Murnau, 1922) zusammen und verfasste mit ihm das Standardwerk der Zeit, das Handbuch der Filmmusik (Berlin 1927).

In den USA hatte Joseph Carl Breil großen Erfolg mit seiner Autorenillustration zu D. W. Griffiths The Birth of a Nation (1915). "Seine" Musik zur New Yorker Uraufführung mit großem Orchester kombiniert eigene Werke mit populären Melodien und Werkfragmenten, u. a. von Grieg, Tschaikowsky und Wagner, und bereitete den Weg für amerikanische Kompiler wie Ernö Rapée, Hugo Riesenfeld oder Mortimer Wilson.

Eine Art musikalische Wiederbelebung erfuhr damals auch die Improvisationskunst. Vor allem Pianisten oder Organisten konnten am schnellsten improvisierend dem Gang der Bilder folgen. Berühmtes Beispiel hierfür ist der junge Dmitri Schostakowitsch, der mehrere Monate in Leningrader Kinos als Stummfilmpianist arbeitete, um Geld zu verdienen. Zuvor musste er jedoch eine Aufnahmeprüfung als Klavierillustrator absolvieren: "Diese Prüfung ähnelte sehr meinem ersten Besuch bei Bruni [seinem Konservatoriumslehrer, R. F.]. Zuerst sollte ich einen 'Blauen Walzer' spielen und danach etwas Östliches. Bei Bruni hatte ich nichts Östliches zustande gebracht, doch 1923 hatte ich inzwischen die Scheherazade Rimski-Korsakows kennengelernt und Orientale von César Cui. Die Qualifikation hatte ein positives Resultat und im November trat ich meine Arbeit im Kinotheater Goldenes Band an. Die Arbeit war sehr schwer […]. Der Dienst in den Kinos paralysierte meine Schaffenskraft. Komponieren konnte ich überhaupt nicht mehr."

1925: Plakat zu Fritz Langs Film "Metropolis". (© picture-alliance, ZB)

Originale Filmkompositionen

Erklärtes Ziel war jedoch die "originale" Filmkomposition, Filmmusik aus einem Guss, aus der Hand eines einzigen Komponisten. Diesem Ideal, zum Standard geworden beim Tonfilm, stand allerdings zunächst eine Reihe von Hindernissen im Weg: die fehlende Infrastruktur für die Vertonung einer großen Menge an Filmen; der enorme Zeitdruck, unter dem die Musik entstehen musste, man hatte oft nur wenige Wochen, um eine Musik im Umfang einer kleinen Oper zu schreiben und das Notenmaterial herzustellen; der hohe Zeit- und Ressourcenaufwand einer Neueinstudierung; unterschiedliche Voraussetzungen vor Ort, uneinheitliche Orchesterbesetzungen etc. Und aus Sicht der Verleger: die kürzere Verwertungsspanne beim Film im Vergleich zur Oper oder Operette, die rechtliche Lage sowie unklare Erfolgsaussichten in Kombination mit einem hohen finanziellen Zusatzaufwand. Zudem wurden zahlreiche Originalkompositionen von "ehrgeizigen" Dirigenten vor Ort boykottiert, die nur ihre eigenen, extra honorierten Kompilate aufführen wollten.

Hörbeispiel im Internet:Fritz Lang, "Metropolis" (Stummfilm D 1927)

Dennoch: Es gab trotz dieser besonderen Begleitumstände immer wieder Bestrebungen, originale Filmkompositionen zu realisieren. Die Gründe hierfür waren neben der Experimentierfreudigkeit jüngerer Komponisten und dem geänderten Verhältnis der Komponisten zu angewandter Musik die Erkenntnis der Filmschaffenden, dass eine Originalkompositionen den Erfolg eines Films deutlich erhöhen konnte. So nahm z. B. die Ufa in den Berliner Uraufführungskinos erhebliche Verluste in Kauf, um einen Film durch gute, eigens komponierte Musik besser vermarkten zu können. Die Musik wurde nun nicht mehr jeweils vor Ort neu ausgewählt und zusammengestellt, sondern in enger Zusammenarbeit und Abstimmung von Komponist, Regisseur und Produzent komponiert und ein für alle Mal festgelegt. Eine anspruchsvolle Kinokultur entstand, die sich mit etablierten Kunstformen wie Theater und Oper messen lassen wollte und konnte. Eine Reihe von originalen Filmmusiken entstanden so vor allem in Deutschland, Frankreich und Italien.

1910, 15 Jahre, nachdem Max und Emil Skladanowsky ihre bewegten Bilder im Berliner Wintergarten gezeigt hatten, komponierte Paul Lincke die Musik zu der "Filmpantomime" Der Glückswalzer. Eine der ersten umfangreicheren Filmmusiken in Deutschland war die des Liszt-Schülers Josef Weiss zu Der Student von Prag (1913) von Hanns Heinz Ewers und Stellan Rye. Der Klavierauszug – ein Konzentrat der wichtigsten Orchesterstimmen für Klavier – mit Hinweisen zur Filmhandlung und Instrumentation enthielt bereits typische Merkmale einer Stummfilmkomposition: Leitmotive, Zitate, musikalische Deskriptionen und reine Musikstellen. Der Klaviervirtuose Weiss konzertierte damit in verschiedenen deutschen Städten und wurde mit seiner ersten "Kino-Oper" gefeiert.

1922: Der Schauspieler Rudolf Klein-Rogge als König Etzel in Fritz Langs Film "Die Nibelungen" (© picture-alliance, akg-images)

Die wichtigsten Filmkomponisten im engeren Sinne im Deutschland der 1920er Jahre waren Gottfried Huppertz und Edmund Meisel sowie Marc Roland. Huppertz komponierte Stumm- und Tonfilmmusiken z. B. für Zur Chronik von Grieshuus (1925), Hanneles Himmelfahrt (1934) und Durch die Wüste (1936).- Vor allem aber ist sein Filmmusikschaffen mit Fritz Langs Werk verknüpft. Mit Lang und dessen Frau, der Drehbuchautorin Thea von Harbou, arbeitete er schon in der Entstehungsphase eines Films eng zusammen. Die beiden Klassiker Die Nibelungen (1924) und Metropolis (1927) sind positives Resultat eines intensiven Austauschs zwischen Regisseur und Komponist in einer Zeit, als der deutsche Film beeinflusst von der expressionistischen Malerei eine eigene Ästhetik entwickelte (z. B. starke Hell-Dunkel-Effekte, stilisierte Dekors) und internationale Bedeutung erlangte.

Ist Huppertz’ Partitur zu Die Nibelungen noch stark bildorientiert und von einer intensiven Verwendung von Leitmotiven und musikalischen Deskriptionen geprägt, agiert die Musik bei Metropolis trotz des erneuten Einsatzes dieser Mittel autonomer und großflächiger zum Bild. Von beiden Werken gibt es Fassungen für großes Orchester (Premiere), Salonorchester (normaler Kinobetrieb) und einen Klavierauszug (kleines Kino), der bei Metropolis insgesamt 1.028 Hinweise zum Film enthält. Solche Hinweise, ursprünglich gedacht als Hilfsmittel für die Aufführung, sind neben anderen musikalischen Merkmalen (Einsatz von Leitmotiven, Instrumentierungs-, Takt- und Tempowechsel) wichtige Informationen für die Rekonstruktion von Stummfilmen, wenn es darum geht, Teile eines Films wiederherzustellen, die bedingt durch Zensur, Beschädigung oder nachträgliche Bearbeitung fehlen. Ähnliches gilt für viele andere Stummfilmpartituren. In ihnen spiegelt sich ein bestimmter Status quo eines Films wieder, der einer Ur- bzw. Premierenfassung sehr nahekommt und deshalb eine wichtige Quelle darstellt.

Bemerkenswert sind auch die Arbeiten des Filmmusikpioniers Edmund Meisel, der sich zuerst als Theaterkomponist, vor allem für Erwin Piscator, sodann als Filmkomponist für Sergeij Eisensteins deutsche Fassung von Panzerkreuzer Potemkin (1925) einen Namen machte. Der Film rief in Deutschland heftige Reaktionen hervor. Er wurde als kommunistische Propaganda bzw. als Aufruf zur sozialistischen Revolution in einer Zeit instabiler politischer Verhältnisse verstanden. Man versuchte diesen "Agitations- und Zersetzungsfilm" – so die Oberste Heeresleitung – zu verhindern, Armeesoldaten wurde verboten, Vorführungen zu besuchen.

Plakat für den Film "Panzerkreuzer Potemkin" (UdSSR 1925) (© picture-alliance, akg-images / Erich Lessing)

Eine "niederschmetternde Wirkung" hatte Eisenstein zufolge vor allem die Musik. An einigen Stellen, etwa der berühmt gewordenen Szene Die Treppe von Odessa, gab sie mithilfe von Perkussionsinstrumenten den Zuschauern im Kino das Gefühl, die Brutalität der Militärs gegen die wehrlose Zivilbevölkerung am eigenen Körper zu erleben. Ähnliches gilt für die Szene Begegnung mit dem Geschwader, über die Eisenstein schrieb: "Für diese Stelle forderte ich vom Komponisten kategorisch den Verzicht auf die gewohnte Melodik und eine genaue Ausrichtung auf das nackte Klopfen der Kolben und mit dieser Forderung zwang ich, genau genommen, auch die Musik, an dieser entscheidenden Stelle in eine 'neue Qualität', in 'Geräusch' überzuspringen. Der Film sprengte an dieser Stelle stilistisch bereits die Grenzen des Aufbaus eines 'Stummfilms mit musikalischer Illustration' und ging in eine neues Gebiet über – in das Gebiet des 'Tonfilms' […]."

Filmbildung: Die Filmmusik im "Panzerkreuzer Potemkin" Manfred Rüsel, Autor und Filmdozent in der Lehrerfort- und Lehrerweiterbildung, über Meisels Kompositionen

Der Musiker Edmund Meisel (1894-1930), ein enger Freund des einflussreichen deutschen Theaterregisseurs Erwin Piscator (1893-1966), besprach im März 1926 mit Sergej Eisenstein das musikalische Konzept für die deutsche Fassung von PANZERKREUZER POTEMKIN. Eisenstein selbst war nicht besonders erfreut über die ursprüngliche Verwendung klassischer Versatzstücke (vgl. Kapitel Filmgeschichte) und unterstützte Meisels Vorhaben, eine völlig neue, effektvolle, zum Rhythmus der Montage passende Musik zu komponieren. So entstand in knapp zweiwöchiger Arbeit jener wirkungsvolle Klangteppich, der maßgeblich zum späteren Erfolg des Filmes beitrug.

Begleitende Filmmusik gab es schon seit den Anfangstagen des Films, aber erst durch die kongeniale Verbindung von Musik und Bild bei PANZERKREUZER POTEMKIN wurde ihre herausragende Funktion deutlich: Meisels Komposition wird von der Pauke und anderen perkussiven Instrumenten beherrscht. Sie illustrieren beispielsweise die Maschinengeräusche des Panzerkreuzers oder die stampfenden Stiefelschritte der Kosaken, verweilen kurz vor den Spannungshöhepunkten, um sich dann in wildem Crescendo zu entladen. Wenn der Schiffsmetzger das verdorbene Fleisch hackt (Min. 8), dann wird jeder Hieb mit einem Paukenakzent „hörbar“.

Dieses Mittel der akustischen Akzentuierung, das so genannte „Mickey-Mousing“, war zu dieser Zeit eher aus kürzeren Slapstick- und Zeichentrickfilmen bekannt. Derartige Betonungen finden sich auch in anderen Szenen. Das allmähliche Aufbegehren der Matrosen gegen die Verhältnisse an Bord wird immer wieder von starken musikalischen Rhythmuswechseln begleitet. In den ruhigeren Passagen signalisiert eine bedrohliche musikalische Grundstimmung die gespannte Lage. Meisel verwendet aber auch Versatzstücke aus anderen Werken. Wenn der Matrose den Teller spült (Min. 13), auf dessen Boden Weizen und Dreschflegel als Symbol des Bauernstandes eingeprägt sind, ertönt zunächst eine Melodie, die an klassische russische Folklore erinnert. Dann fällt der Blick des Matrosen auf die Beschriftung des Tellers: „Unser täglich Brot gib uns heute“. Der Duktus der Musik verändert sich schlagartig ins Bedrohliche. Die Paukenschläge illustrieren den Erkenntnisprozess des Matrosen, der den biblischen Spruch angesichts der Versorgungsssituation an Bord als zynische Botschaft entlarvt. Während ein Delegierter der Stadt Odessa sich mit den Matrosen solidarisch erklärt (Min. 40), sind leicht veränderte Zitatauszüge aus der „Internationale“ zu hören, dem dezidierten Kampflied der sozialistischen Bewegung. Wenig später – beim Hissen der roten Fahne – ertönen Sequenzen aus der „Marseillaise“, der französischen Nationalhymne, dem Freiheitslied der Französischen Revolution. Auch in anderen Szenen sind kurze Motive der „Marseillaise“ zu hören.

Auszug aus: Interner Link: Filmkanon-Filmheft zu "Panzerkreuzer Potemkin" , hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb, 2013

Beflügelt vom Erfolg setzte Meisel diese Kombination von Musik und Geräusch in Berlin. Interner Link: Die Sinfonie der Großstadt von Walter Ruttmann aus dem Jahr 1927 fort; er komponierte Maschinen-, Verkehrs-, Sport- und Nachtrhythmen und formulierte seine Intentionen als "Lautbarmachung des Films". Er kann somit in gewisser Weise als Vorläufer des heutigen "Sounddesigns" gesehen werden. Darüber hinaus vertonte er u. a. Der heilige Berg (1926), Oktober (1927 / 28) und nachträglich den Stummfilm Der Blaue Reiter (1930).

Hörbeispiel im Internet:Walter Ruttmann, Berlin. "Die Sinfonie der Großstadt" (Stummfilm D 1927)

E-Komponisten entdecken den Film

Auch Komponisten der sogenannten ernsten Musik beschäftigten sich mit dem Film. Paul Hindemith etwa schrieb im Jahre 1921 für den Dokumentarfilm Im Kampf mit dem Berge – In Sturm und Eis des Bergfilmers Arnold Fanck eine Partitur für Salonorchester. In dieser nimmt er eher großflächigen Bezug zum Film, eine Passacaglia erklingt zu verschiedenen Gletschereinstellungen. Die erste deutsche Filmoper Jenseits des Stroms (M.: Ferdinand Hummel) hatte im Jahre 1921 Premiere. Für die Filmfassung von Der Rosenkavalier (1926) ergänzte Richard Strauss seine Opernpartitur um einen Militärmarsch, eine Schlachtmusik sowie um einzelne Tanzszenen; die Uraufführung dirigierte er im Dresdener Opernhaus.

Musik von Paul Hindemith, Darius Milhaud, Ernst Toch, Walter Gronostay und Hanns Eisler erklang anlässlich der Baden-Badener Kammermusiktage im Jahre 1928, live oder mithilfe mechanischer Musikinstrumente, zu Kurz- und Experimentalfilmen von Hans Richter, Sascha Stone, Pat Sullivan und Walter Ruttmann.

In Italien komponierte Romolo Bacchini bereits im Jahre 1905 seine Musik zu La malia dell’oro von Filoteo Alberini. Zahlreiche Kompositionen entstanden vor allem in den Jahren 1910 bis 1920, der Blütezeit des italienischen Films, z. B. zu L’Histoire d´un Pierrot (M.: Pasquale Mauro Costa, 1914) oder Cabiria (M.: Manlio Mazza / Kompilation und Ildebrando Pizzetti / Komposition, 1914). Für wie wichtig eine originale Filmmusik gehalten wurde, zeigt Rapsodia Satanica (1917) von Nino Oxilia. Der Regisseur war bereit, Teile seines Films neu zu drehen, damit Pietro Mascagni – neben Puccini der bekannteste Komponist seiner Zeit in Italien – die Musik schuf. Mascagni hatte dies verlangt, damit die Musik mehr Gewicht bekam. Er schrieb für die Rapsodia Satanica quasi reine Opermusik, nur ohne Gesang. Er verwendete Leitmotive und griff auf klassische Formen wie Scherzo, Gavotte oder Menuett zurück.

Kinoplakat des französischen Films "Napoleon" (1927). (© picture-alliance, Mary Evans Picture Library)

Die erste umfangreiche Filmmusik Frankreichs schrieb der berühmteste Komponist seiner Zeit, Camille Saint-Saëns, zu L’Assassinat du Duc de Guise (1908) für die Film d’Art-Gesellschaft. Sie wollte den Film auf Theater- bzw. Opernniveau heben, indem sie die damals berühmtesten Künstler engagierte. Saint-Saëns’ Musik für Salonorchester beinhaltet Leitmotive (Herzog, Ermordung und Liebe), vereinzelte Deskriptionen und Musikszenen. Weitere Stummfilmmusiken waren u. a. die zu La Roue (1923) von Arthur Honegger, deren Teile sich in der berühmten sinfonischen Bewegungsstudie Interner Link: Pacific 231 wiederfinden, zu Salambô (M.: Florent Schmitt, 1925), L’Inhumaine (M.: Darius Milhaud, 1924), Napoléon (M.: Arthur Honegger, 1927) sowie zu den Experimentalfilmen Ballet Mécanique (M.: George Antheil, 1924) und Cinema. Entr’acte symphonique (1924), ein filmisch-musikalischer Zwischenakt von René Clair zum dadaistischen Ballet Relâche von Francis Picabia. Erik Saties pattern-orientertes Musikkonzept von sich wiederholenden Einzeltakten nach Baukastenart, das er musique d´ameublement nannte, begleitet nach Art einer musikalischen Tapete die schnellen Einstellungsfolgen des Films.

Ein weiteres Highlight der Stummfilmmusik war Schostakowitschs Orchesterpartitur zu Das Neue Babylon (1928 / 29). Der Film schildert Aufstand und Niederschlagung der Pariser Kommune von 1870 und wurde von Mitgliedern eines avantgardistischen Leningrader Künstlerkollektivs realisiert. Neben sinfonisch durchkomponierten Passagen verwendet Schostakowitsch zahlreiche Zitate (Revolutionslieder, Hymnen, Cancans aus Operetten J. Offenbachs), teils in verfremdeter Form oder auch als Leitmotiv. Er vollzieht den Kampf der Kombattanten (Bürgertum / Kommunarden) auf musikalischer Ebene nach und kommentiert auf parodistische Weise mit einer Technik bewusst "falsch" gesetzter Töne einzelne Filmszenen. Wie ein Karikaturist schildert er die Dekadenz des Bürgertums in z. T. grotesken musikalischen Überzeichnungen.

Hörbeispiel im Internet:Grigori Kosinzew / Leonid Trauberg, "Das Neue Babylon" (Stummfilm UdSSR 1928)

In der Stummfilmzeit, so lässt sich festhalten, wurden trotz aller Anfangsprobleme insbesondere mit den originalen Filmkompositionen zahlreiche Meisterwerke geschaffen und alle wesentlichen Elemente einer Filmmusik entwickelt, die die Grundlage der Musik zum Tonfilm bildeten. Mit dessen Einführung verlor die Musik zwar insofern etwas an Bedeutung, als ihre bisherige Aufgabe – die kontinuierliche Kompensation für das Fehlen von Sprache und Geräuschen – wegfiel und sie sich neu definieren musste. Dennoch lebt diese besondere Art der Filmmusik bis zur Gegenwart weiter.

Weltweit volle Konzertsäle bei Stummfilm-Aufführungen mit Live-Orchester ebenso wie ein vielfach prämiertes Beispiel aus der jüngeren Geschichte (The Artist, 2011) belegen: Der Stummfilm und seine Musik haben als nonverbale, interkulturell verständliche, audivisuelle Kunstform nichts von ihrer Faszination verloren.

Quellen / Literatur

Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kinos. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena 1914 

Giuseppe Becce / Hans Erdmann: Allgemeines Handbuch der Filmmusik, Berlin 1927 

Rainer Fabich: Musik für den Stummfilm. Analysierende Beschreibung originaler Filmkomposi­tionen, Frankfurt a. M. / New York 1993 

Oskar Messter: Mein Weg mit dem Film, Berlin 1936 

Friedrich P. Kahlenberg: Der wirtschaftliche Faktor "Musik" im Theaterbetrieb der Ufa in den Jahren 1927 bis 1930, in: Walther Seidler (Hrsg.): Stummfilmmusik. Gestern und heute, Berlin 1979, S. 51 – 71 

Kurt London: Film Music. A summary of the characteristics features of its history, aesthetics, technique and possible development, London 1936 

Enno Patalas: Metropolis in / aus Trümmern. Die Premierenfassung, nacherzählt von Enno Patalas (Film) und Rainer Fabich (Musik), Berlin 2001 

Dmitri Schostakowitsch: Avtobiografija, in: Sovetskaja Muzyka 9 / 1966

Fussnoten

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