Das Buch schlug ein wie eine Bombe: Im Dezember 1961 erschien zunächst im linken Pariser Verlag Maspéro Les damnés de la terre, zu Deutsch: Die Verdammten dieser Erde. Der Text, halb sozialpsychologische Analyse des Kolonialismus, halb politische Kampfschrift, avancierte zu einem zentralen Erweckungstext der antikolonialen Linken in vielen Teilen der Welt. In den zehn Jahren nach seinem Erscheinen erlebte das Buch acht Auflagen in Frankreich, vier in den USA und drei in Großbritannien. In Deutschland erschien es 1966 zuerst im renommierten Suhrkamp Verlag, drei Jahre darauf in der seinerzeit weit verbreiteten und von einem progressiven Geist umwehten Reihe "rororo aktuell".
Der Autor, Frantz Fanon, war, wie einer seiner Biografen schrieb, ein Mann "mit vielen Identitäten, vielen Talenten und vielen Betätigungen". 1925 auf der von Frankreich kolonial beherrschten Karibikinsel Martinique geboren, meldete er sich 1944 freiwillig zur französischen Armee, um gegen das nationalsozialistische Deutschland zu kämpfen, und musste erleben, dass er als schwarzer Soldat von den weißen Franzosen nicht als ebenbürtig behandelt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte er Medizin und Philosophie in Frankreich und ging zu Beginn der 1950er-Jahre nach Algerien, wo er einige Jahre als Chefarzt in einer psychiatrischen Klinik arbeitete. Nach dem Ausbruch des algerischen Unabhängigkeitskrieges schloss er sich 1956 der Partei Front de Libération Nationale (FLN/Nationale Befreiungsfront) an, für die er zeitweilig als Gesandter unterwegs war. Die Unabhängigkeit Algeriens erlebte er jedoch nicht mehr. Nur drei Tage nach der Publikation von Die Verdammten dieser Erde starb er in einem Washingtoner Krankenhaus an Leukämie.
Die Verdammten dieser Erde: Mobilisierung und Warnung zugleich
Niemals zuvor waren der Prozess der Dekolonisation und die Aufgaben der sich konstituierenden "Dritten Welt" so radikal auf den Punkt gebracht worden. Das Ziel der "Dritten Welt", so Fanon, "muss es sein, die Probleme zu lösen, die dieses Europa nicht hat lösen können … Also, meine Kampfgefährten, zahlen wir Europa nicht Tribut, indem wir Staaten, Institutionen und Gesellschaften gründen, die von ihm inspiriert sind. Die Menschheit erwartet etwas anderes von uns als diese fratzenhafte und obszöne Nachahmung … Für Europa, für uns selbst und für die Menschheit, Genossen, müssen wir eine neue Haut schaffen, ein neues Denken entwickeln, einen neuen Menschen auf die Beine stellen."
Der nahende Tod mag den gleichsam existenzialistischen, mahnenden und gehetzten Ton des Buches, das als eine Art Vermächtnis an Afrika konzipiert ist, ein Stück weit erklären. Den Titel entlieh Fanon der "Internationalen", dem Kampflied der sozialistischen Arbeiterbewegung: "Wacht auf, Verdammte dieser Erde, …". Die "Verdammten" waren nun jedoch nicht mehr die Arbeiter/innen Europas, sondern die unterdrückten Kolonisierten. Sie wollte Fanon mit seinem Buch mobilisieren und vor möglichen Fehlentwicklungen, vor Neokolonialismus und neuen Diktaturen warnen. Von den antikolonialen Parteien hielt er im Übrigen wenig. Ihre Aktivität erschöpfe sich, kritisierte er, "in einer Folge von philosophisch-politischen Abhandlungen über das Selbstbestimmungsrecht der Völker, über das Menschenrecht auf Würde und Brot und in der ununterbrochenen Beteuerung des Grundsatzes 'Eine Mensch – eine Stimme'. Die nationalistischen politischen Parteien bestehen nie auf der Notwendigkeit der Kraftprobe, weil ihr Ziel eben nicht die radikale Umwälzung des Systems ist." Die Arbeiterklasse war Fanon zufolge zu einer Arbeiteraristokratie geworden, die nur darauf aus war, die Privilegien der weißen Arbeiter/innen zu erlangen. Er argumentiert, dass allein die Bauern und Bäuerinnen sowie das Lumpenproletariat die wahren Freiheitskämpfer/innen seien; sie waren in seiner berühmten Formulierung die letzten, die die ersten sein würden.
Gewalt als Gegenmittel zum Kolonialismus
"Einen Europäer erschlagen, heißt zwei Fliegen auf einmal treffen … Was übrigbleibt, ist ein toter Mensch und ein freier Mensch." Nicht zuletzt solche Aussagen haben die Lektüre von Die Verdammten dieser Erde als Gebrauchsanweisung für den bewaffneten Befreiungskampf begünstigt. Die Ironie liegt allerdings darin, dass dieser Satz gar nicht von Fanon selbst stammt, sondern aus dem Vorwort zum Buch. Autor der vor Zorn bebenden Zeilen war niemand Geringerer als Jean-Paul Sartre. Viele sind offenbar, wie der Essayist Lothar Baier einmal spöttisch bemerkte, über die Lektüre von Sartres Vorwort nie hinausgekommen und haben sich die dort vorgenommene rigorose Zuspitzung von Fanons Thesen zu Eigen gemacht. Dessen Argumentation war zwar kompromisslos, aber doch nuancenreicher und subtiler als in der Sartreschen Verkürzung. Gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass Fanon letztlich die Gewalt als einzig wirksames antikoloniales Gegenmittel propagierte. Vom Gedanken der Menschenwürde, wie er im Westen vertreten werde, distanzierte er sich hingegen explizit: "Von jenem idealen Menschen hat der Kolonisierte niemals gehört. Was er auf seinem Boden gesehen hat, ist, dass man ihn ungestraft festnehmen, schlagen, aushungern kann." Der Glaube an Rechts- und Menschenrechtsversprechen war für ihn lediglich ein faules Arrangement mit den kolonialen Unterdrücker/innen.
Fanons Sicht von Gewalt als Gegeninstrument zur Kraft des Kolonialismus hat eine Reihe von anderen afrikanischen Intellektuellen inspiriert. Vor allem aber hat sie Intellektuelle im Westen angesprochen, die die Folgen dieser Gewalt nicht tragen mussten. Fanon zeichnete den Kolonialismus in diesem Zusammenhang als manichäische Welt: Einer der am häufigsten, auch im Film "Concerning Violence – Nine Scenes from the Anti-Imperialistic Self-Defence" (Schweden/USA/Dänemark/Finnland 2014, R: Göran Hugo Olsson) zitierten Sätze aus Die Verdammten dieser Erde lautet: "Die kolonisierte Welt ist eine zweigeteilte Welt." Doch entgingen ihm die Ambivalenzen der kolonialen Ordnung, die Versuche und Möglichkeiten der Kolonisierten, sich mit den Einmischungen der Kolonialherren auseinanderzusetzen, sie gar für sich zu nutzen. Sicher, Fanons Kritik an den nur ihre eigenen Interessen verfolgenden Nationalisten/innen seiner Generation erwies sich als durchaus weitblickend. Gleichwohl lieferten seine Vorstellungen nicht selten die Legitimation für staatliche Projekte, die keineswegs jenen libertären Zielen dienten, die Fanon vorschwebten. Die Regierung Guineas etwa nahm Fanons Ansatz, nur die wahren Antikolonialisten/innen hätten Platz in der politischen Arena, zum Anlass, Gewerkschaften, Parteien und zivilgesellschaftliche Gruppen zu verbieten.
Fanons Analysen heute
In den 1980er-Jahren weitgehend vergessen, erlebt Fanon seither ein großes Comeback vor allem im Feld der postkolonialen Studien. Doch bis heute wird sein Werk häufig aus dem historischen Kontext gerissen und zugespitzt entweder auf eine Rechtfertigung der Gewalt oder als Vorläufer postkolonialer Theorien gedeutet. Die jüngere Rezeption weist im Übrigen Fanons 1952 publizierten Erstling Schwarze Haut, weiße Masken (Peau noire, masques blancs) immer größere Bedeutung zu und deutet das Buch zunehmend als einen dem Nachfolgewerk Die Verdammten dieser Erde ebenbürtigen Referenztext. In Schwarze Haut, weiße Masken entfaltet Fanon eine Körper und Sprache mit einbeziehende, differenzierende Phänomenologie des Rassismus, die in der Tat – trotz problematischer Aspekte –weiterhin bedenkenswert ist. Und er bietet in diesem Buch keineswegs überholte Perspektiven auf den Kolonialismus, der auf höchst problematischen "Werten" beruhe: "Wiewohl man im Namen der Intelligenz und der Philosophie die Gleichheit der Menschen verkündet, beschließt man in ihrem Namen auch ihre Ausrottung."