Was ist die ICD und wozu dient sie?
Die "Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme", oft kurz auch als "Internationale Klassifikation der Krankheiten" (ICD) bezeichnet, ist der internationale Diagnosestandard der
Wie wurde Trans*identität bisher im WHO-Diagnoserahmen ICD eingeordnet?
Die Einordnung der Diagnosen rund um die Geschlechtsidentität hat sich im Laufe der Zeit innerhalb der ICD-Klassifikation verschoben. Die 1948 verabschiedete ICD-6 war die erste von der WHO veröffentlichte Version der ICD. Darin und in der nachfolgenden ICD-7 fanden sich keine Angaben zur Diagnose von Transsexualität. Die ICD-8 spiegelte veränderte klinische und theoretische Ansichten wider und führte erstmals eine Diagnose von Transvestitismus (302.3) ("transvestitism“) ein. In der ICD-8 wurden jedoch keine diagnostischen Kategorien definiert, sodass die beabsichtigte Bedeutung von Transvestitismus nicht ganz klar war. Historisch wurde allerdings [im englischen Sprachraum] die alternative Schreibweise "transvestism" als frühes Synonym für das verwendet, was heute als "Transsexualismus" bekannt ist. In der ICD-9 wurde dann die Diagnose Transsexualismus (302.5) neu eingeführt. In der ICD-10 wurde die Klassifizierung erheblich umgestaltet und es wurden neue Diagnosen für die Geschlechtsidentität eingeführt, um die gesammelte klinische Erfahrung und Forschung widerzuspiegeln. Unter den Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F60-F69) erschien die neue Kategorie der Störungen der Geschlechtsidentität (F64). Sie umfasst fünf Diagnosen: Transsexualismus (F64.0), Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen (F64.1), Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters (F64.2), sonstige Störungen der Geschlechtsidentität (F64.8) sowie Störung der Geschlechtsidentität, nicht näher bezeichnet (F64.9).
Wie sollte nach Meinung der Arbeitsgruppe zur Klassifizierung von Sexualstörungen und der sexuellen Gesundheit (Working Group on the Classification of Sexual Disorders and Sexual Health), der Sie angehören, Trans*identität in der neuen ICD klassifiziert werden?
Die diagnostische Einordnung von Geschlechtsidentitätsstörungen ist schon lange von Unwissen, Fehlannahmen und Kontroversen geprägt. Dies zeigt sich auch in der wechselhaften Zuweisung und ständigen Umbenennung dieser Diagnosen in den verschiedenen Ausgaben der ICD und dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM).
Die Arbeitsgruppe für die Klassifizierung sexueller Störungen und sexueller Gesundheit in der ICD-11 hält es für angemessen, die psychopathologische Sichtweise auf Trans*personen aufzugeben, welche auf einem Modell sexueller Devianz aus den 1940ern basiert. Stattdessen sollte ein Modell eingeführt werden, das aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und Best Practices einbindet. Es sollte die Bedürfnisse, Erfahrungen und Menschenrechte dieser schutzbedürftigen Gruppe anerkennen und mehr dafür tun, ihren Zugang zu hochwertiger Gesundheitsversorgung zu sichern.
Daher hat die Arbeitsgruppe zwei wichtige Empfehlungen ausgesprochen. Die erste Änderung betrifft die Benennung der Geschlechtsdiagnosen. "Transsexualismus" wird umbenannt in "Geschlechtsinkongruenz bei Heranwachsenden und Erwachsenen" (Gender incongruence of adolescence or adulthood (HA40)) und "Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters" wird umbenannt in "Geschlechtsinkongruenz des Kindesalters“ (Gender incongruence of childhood (HA41)).
Die zweite wichtige Empfehlung besteht darin, diese diagnostischen Kategorien aus dem ICD-Kapitel 5 "Psychische und Verhaltensstörungen2 in ein neues Kapitel namens "Zustände der sexuellen Gesundheit" (Conditions related to sexual health (17)) zu verschieben.
Warum sollten die Benennungen und die Klassifizierung geändert werden?
Die Stigmatisierung von Trans*personen kombiniert mit der Diagnose einer psychischen Störung schafft eine doppelt belastende Situation für diese Gruppe. Das schadet ihrer Gesundheit und hindert sie an der vollen Wahrnehmung ihrer Menschenrechte. Beispielsweise wird Trans*personen in medizinischen oder sozialen Einrichtungen viel eher die Behandlung verweigert, weil davon ausgegangen wird, dass sie psychiatrische Behandlung benötigen, auch wenn ihre Beschwerden gar nichts mit ihrer Transgeschlechtlichkeit zu tun haben. Aus Verzweiflung über den eingeschränkten Zugang zu Transitioning-Diensten setzen sich einige Trans*personen erheblichen Gefahren wie z.B. einer HIV-Infektion aus, indem sie auf dem schwarzen oder grauen Markt Hormone erwerben, die teilweise injiziert werden. Dadurch entsteht also ein viel weitreichenderes Gesundheitsproblem. Außerdem führen die Besonderheiten dieser Diagnose dazu, dass den Betroffenen oft die Fähigkeit abgesprochen wird, bestimmte rechtliche Entscheidungen selbst zu treffen. Behörden verschiedener Staaten zeigen Vorbehalte bei der Anerkennung einer Änderung des rechtlichen Geschlechts im Pass oder im Führerschein.
Zudem entscheiden Gerichte in Sorgerechtsfällen oft zu Ungunsten von Trans*personen, wenn ehemalige Partner*innen die diagnostizierte psychische Störung ins Feld führen, um deren elterliche Eignung in Zweifel zu ziehen. Mit Blick auf die allgemeinen Menschenrechte und die Mission der WHO, liefern diese Faktoren überzeugende Argumente dafür, die Kategorie aus dem Abschnitt "Psychische und Verhaltensstörungen" zu entfernen. Da die Mission der WHO die Verwirklichung des bestmöglichen Gesundheitsniveaus bei allen Menschen ist, muss die WHO erwägen, ob eine Richtlinie, welche augenscheinlich die Gesundheit und die Menschenrechtslage einer bestimmten Gruppe verschlechtert, ihrer Mission widerspricht. Der Weg zur Entfernung der Homosexualität per se aus dem medizinischen Klassifikationssystem zeigt sehr deutlich den Zusammenhang zwischen psychiatrischer Diagnose, Stigma und Menschenrechten. Infolge dieser Entscheidung trug die Psychiatrie nicht mehr zur offiziellen Stigmatisierung bei. Es entwickelte sich nach und nach eine nie dagewesene Akzeptanz homosexueller Männer und Frauen in weiten Teilen der Welt. Wenn auch nicht überall, so veränderten sich in vielen Ländern und Kulturen die Sichtweisen auf Homosexualität. Dies gipfelte in den anhaltenden weltweiten Bemühungen schwuler Männer und lesbischer Frauen um Gleichberechtigung, einschließlich Schutz vor Diskriminierung und der "Ehe für alle".
Warum empfahl die Arbeitsgruppe, Geschlechtsinkongruenz als Diagnose in der neuen ICD zu belassen?
Die Entfernung dieser stigmatisierenden Diagnose wurde erwägt. Damit wäre jedoch auch der Zugang zu wichtigen Gesundheitsleistungen entfallen. Zweifelsohne kann die Beibehaltung dieser Diagnosen, auch in modifizierter Fassung, die Stigmatisierung weiterführen. Diese Folge wäre jedoch weniger gravierend für anatomisch dysphorische Trans*personen, als die Verweigerung medizinischer und chirurgischer Leistungen. Das wäre wahrscheinlich die Folge einer Entfernung dieser Diagnose aus der ICD.
Welche Reaktionen haben die Empfehlungen Ihrer Arbeitsgruppe bei Forscher*innen und Trans*personen hervorgerufen?
Zwar wurde keine offizielle Erhebung durchgeführt, doch die Mehrheit scheint eine Entfernung der Diagnosen aus dem ICD-Abschnitt für psychische Störungen zu befürworten. Allerdings gab es Kontroversen um die Beibehaltung der Diagnose für Kinder. Einige Trans*interessenverbände sind der Meinung, dass diese Diagnose Kinder stigmatisiert, auch wenn sie nicht mehr als psychische Störung gilt. Die Arbeitsgruppe war jedoch anderer Meinung. Erstens glauben wir nicht, dass eine medizinische Diagnose mit einem signifikanten Stigma verbunden wäre. Zweitens wären die Präzedenzfälle "Spontangeburt eines Einlings“ (O80) und "Menopausensyndrom" (N95.1) zu nennen. Diese Diagnosen wurden schon lange "medikalisiert", um Zugang zu Gesundheitsleistungen zu ermöglichen, obwohl sie natürliche Lebensereignisse sind, die nicht im engeren Sinne "pathologisch" sind.