Der Weg der medizinischen Diagnose von trans* führte von einer unhinterfragten Pathologisierung - einer Bewertung als krankhaft – in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu der heute in Fachkreisen mehr oder weniger akzeptierten Auffassung, dass Trans*identität eine Normvarinate ist und nichts mit psychischer Gesundheit oder Krankheit zu tun hat.
Aus eigener Erfahrung schildert Annette Güldenring, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, diese Situation als ein Leben am Rande der Gesellschaft, in einem juristischen Niemandsland, da Trans*menschen in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Weg in eine bürgerliche Position meist unmöglich war.
Die Ablehnung vom Trans*erleben und von Trans*lebensformen hat ihre Ursache vor allem in der Vorstellung von binären Geschlechtern – eine Vorstellung, die das Denken in unserer Gesellschaft stark prägt und an der geradezu unerbittlich festgehalten wird.
Die Spannungen und das Leiden, die aus der Diskrepanz zwischen der Geschlechtsidentität einer Person und ihrem biologischen Körper resultieren, führen dazu, dass viele Trans*menschen eine körperliche Angleichung an das gewünschte Geschlecht anstreben. Dieses Leiden hat Krankheitswert (siehe unten Diagnose "Gender Dysphorie", DSM-5) und birgt die Gefahr schwerwiegender psychosozialer Beeinträchtigungen in sich. Aus diesem Grund werden die Kosten für die hormonelle und chirurgische Angleichung an das gewünschte Geschlecht von den Krankenkassen übernommen.
Medizinische Klassifikation von Trans*menschen
Die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD):
Die Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD, englisch International Classification of Diseases) ist ein internationales Diagnoseklassifikationssystem, das seit 1948 von der Weltgesundheitsorganisation (WHO, englisch World Health Organization) herausgegeben wird. Seitdem wurde die ICD mehrmals überarbeitet.
Die Diagnose "Transsexualität" (302.5) tauchte erstmals in der ICD-9 (1975) auf. Transsexualität wurde darin den "Sexuellen Verhaltensabweichungen und Störungen" zugeordnet. Die 1990 überarbeitete und bis zum 1. Januar 2022 gültige ICD-10 bezeichnet Transsexualismus (F64.0) als "Störungen der Geschlechtsidentität" (F64) und ordnet sie allgemein den Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen (F 60 - F69) zu.
Die ICD-10 unterscheidet insgesamt fünf Formen der "Störungen der Geschlechtsidentität":
Transsexualismus (F 64.0)
Transvestitismus unter Beibehaltung beider Geschlechtsrollen (F 64.1)
Störung der Geschlechtsidentität im Kindesalter (F 64.2)
Sonstige Störungen der Geschlechtsidentität (F 64.8)
Nicht näher bezeichnete Störungen der Geschlechtsidentität (F 64.9)
Die Diagnose "Transsexualismus" wird in der ICD-10 beschrieben als "der Wunsch, als Angehöriger des anderen Geschlechts zu leben und anerkannt zu werden. Dieser geht meist mit dem Unbehagen oder dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zum eigenen anatomischen Geschlecht einher. Es besteht der Wunsch nach chirurgischer und hormoneller Behandlung, um den eigenen Körper dem bevorzugten Geschlecht soweit wie möglich anzugleichen“. Durch die Zuordnung der "Transsexualismus" zu den "Störungen der Geschlechtsidentität" wird diese Identitätsform pathologisiert.
Im Zuge der Überarbeitung der ICD hat die zuständige Arbeitsgruppe (Working Group on Sexual Disorders and Sexual Health) empfohlen, die Kategorie Transsexualismus (F64.0) als Geschlechtsinkongruenz, d. h. als eine Nichtübereinstimmung der Geschlechtsidentität mit den Geschlechtsmerkmalen des Körpers, im Jugend- und Erwachsenenalter neu zu konzipieren. Auch die Kategorie Störung der Geschlechtsidentität im Kindesalters (F64.2) soll in Geschlechtsinkongruenz im Kindesalter umbenannt werden. Darüber hinaus hat die Arbeitsgruppe dafür plädiert, die Geschlechtsinkongruenz nicht länger den Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen zu zuordnen, sondern stattdessen in einem neuen Kapitel "Probleme/Zustände im Bereich der sexuellen Gesundheit " zu verorten. Am 18. Juni 2018 ist die finale Fassung der neuen Internationalen Klassifikation der Krankheiten, die ICD-11, vorgestellt worden. Im kommenden Jahr wird die World Health Assembly über diese neue ICD-11 abstimmen, die dann am 1. Januar 2022 in Kraft treten soll.
In der ICD-11 ist die Diagnose "Gender Incongruence" (Geschlechtsinkongruenz) dem neu geschaffenen Kapitel "conditions related to sexual health" (Probleme/Zustände im Bereich der sexuellen Gesundheit) zugeordnet worden. Damit ist ein wesentlicher Schritt in Richtung Entpathologisierung getan. Dies ist insofern von großer Bedeutung, als die bisherige Diagnose "Transsexualismus" in die Rubrik der Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen fällt und dadurch massgeblich zur Stigmatisierung und zur gesellschaftlichen Marginalisierung von Trans*menschen beigetragen hat. Ausserdem referiert die Diagnose Geschlechtsinkongruenz nicht auf ein Zweigeschlechtermodell und stellt auch insofern einen Fortschritt gegenüber der früheren Diagnose "Transsexualismus" dar.
Neben der "Gender incongruence of adolescence or adulthood" ist in der ICD-11 auch die Diagnose für Kinder verändert worden. Sie lautet jetzt "Gender incongruence of childhood".
Die Revision der Diagnosen in der ICD-11 ist von den Trans*-Organisationen im Allgemeinen sehr positiv aufgenommen worden. Kritisch ist allerdings angemerkt worden, dass die Genderinkongruenz-Diagnose auch für Kinder formuliert worden ist. Dem wird entgegengehalten, dass es für Kinder vor der Pubertät keine solche Diagnose braucht, da sie medizinisch nicht behandelt werden und deshalb nicht durch einen diagnostischen Prozess belastet werden sollten.
Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM):
Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorder (DMS) ist das US-amerikanische Diagnoseklassifikationssystem psychischer Störungen, das seit 1952 von der Amercian Psychiatric Assosiation herausgegeben wird.
Der Begriff "Transsexualismus" wurde erstmals im DSM III (1980) eingeführt und der Kategorie "Psychosexuelle Störungen" zugeordnet. Im DSM-IV (1994) wurde der Begriff "Transsexualismus" durch die Bezeichnung "Störungen der Geschlechtsidentität" ersetzt. Es blieb aber bei einer eindeutigen Pathologisierung. Erst das 2013 veröffentlichte DSM-5 ging einen Schritt weiter und hat den Störungsbegriff fallen lassen. Die Diagnose heißt nun "Geschlechtsdysphorie". Damit wird signalisiert, dass nicht die Identität krankhaft ist, sondern bei einer gegengeschlechtlichen Identifikation ein Unbehagen ("Dysphorie") mit dem eigenen Geschlecht besteht. Dies ist zumindest ein Schritt in Richtung Entpathologisierung, auch wenn dieses Ziel damit noch nicht voll erreicht ist. Denn immer noch figuriert die "Genderdysphorie" unter den psychischen Erkrankungen. Wenn am 1. Januar 2022 die ICD-11 mit der Diagnose "Gender Inkongruenz" im Kapitel "Probleme/Zustände im Bereich der sexuellen Gesundheit" in Kraft tritt, ist die Entpathologisierung damit allerdings deutlicher erfolgt worden als mit der DSM-5-Diagnose "Genderdysphorie".
Weitere Schritte auf dem Weg der Entpathologisierung der Trans*identität
Eine wichtige Rolle im Entpathologisierungsprozess haben die Yogyakarta Principles on the Application of International Human Rights Law in Relation to Sexual Orientation and Gender Identity (YP) (2006) gespielt. Diese von internationalen Menschenrechtsexpert*innen formulierten Leitlinien sind zwar nicht rechtsverbindlich, haben aber große politische und juristische Relevanz und wirkten sich positiv auf den Umgang mit Trans*menschen aus. Dies betrifft beispielsweise die Forderung, Trans*menschen selbst größere Entscheidungskompetenz zuzubilligen und den sogenannten "Alltagstest" – die Verpflichtung, bereits vor der hormonellen Behandlung und allfälligen Operationen im Allgemeinen während eines Jahres 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche in der angestrebten Geschlechtsrolle zu leben – nicht als obligatorisch zu erklären.
Ähnlich ist es mit der World Professional Association for Transgender Health (WPATH), die 2011 die 7. Version der Standards of Care (SoC7) publiziert hat. Hier sind wichtige Leitlinien für die Behandlung von Trans*menschen formuliert worden, die, wie bereits die Yogyakarta Principles, dafür plädieren, dass den Klient*innen wesentlich größere Selbstentscheidungskompetenzen zugebilligt werden müssen, z. B. frei entscheiden zu können, ob sie einen "Alltagstest" machen wollen oder nicht.
In Deutschland dienen die aus dem Jahr 1997 stammenden und bis heute gültigen Standards der Behandlung und Begutachtung von Transsexuellen (Becker et al. 1997) als Grundlage für den Umgang mit Trans*menschen. Diese Richtlinien gelten jedoch als veraltet, da sie von einer Pathologie der Trans*identität ausgehen und die Schritte der Transition – den Übergang zum gewünschten Geschlecht – festlegen, ohne die individuelle Situation der betreffenden Trans*menschen zu berücksichtigen. Seit 2012 befasst sich daher die Arbeitsgruppe "Geschlechtsdysphorie: Diagnostik, Beratung und Behandlung", an der Vertreter*innen aus verschiedenen deutschen Fachgesellschaften unter der Leitung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung (DGfS) beteiligt sind, damit, neue, zeitgemäße Leitlinien zu erarbeiten. Diese sollen dazu beitragen, die medizinische Entscheidungssicherheit und den Schutz vor willkürlichen Behandlungen sowie die Flexibilität im Behandlungsprozess zu erhöhen. Zudem sollen sie Vertrauen zwischen den Behandlungssuchenden und den Akteuren der Gesundheitsversorgung schaffen. Die Fertigstellung der Leitlinien ist für Herbst 2018 geplant.
In der Schweiz hat eine Arbeitsgruppe unter dem Titel Von der Transsexualität zur Gender-Dysphorie neue Beratungs- und Behandlungsempfehlungen bei Trans*personen erarbeitet und publiziert.
In Österreich liegen seit Anfang 2015 neue "Empfehlungen für den Behandlungsprozess bei Geschlechtsdysphorie bzw. Transsexualismus nach der Klassifikation in der derzeit gültigen DSM- bzw. ICD-Fassung" vor. Ausgearbeitet wurden diese von einer interdisziplinären Expert*innengruppe des Beirates für psychische Gesundheit. Sie hatte die seit 1997 bestehenden „Empfehlungen für den Behandlungsprozess von Transsexuellen“ überarbeitet und an aktuelle wissenschaftliche Kenntnisse angepasst. Trotz deutlicher Verbesserungen gegenüber dem früher üblichen Vorgehen (z. B. keine verpflichtende Psychotherapie mehr) sind nach wie vor etliche „konsensuelle Stellungnahmen“ der Fachpersonen notwendig, damit die Trans*person den Weg der Transition beschreiten kann. Eine andere Expert*innengruppe arbeitet derzeit an "Empfehlungen für den Behandlungsprozess bei Geschlechtsdysphorie von Kindern und Jugendlichen nach der Klassifikation in der derzeit gültigen DSM- bzw. ICD-Fassung".
Was brauchen Trans*menschen? Was ist in Zukunft nötig?
Die geschilderten Entpathologisierungen und die Formulierung neuer Behandlungs- und Beratungsleitlinien stellen nur erste Schritte in die richtige Richtung dar. Damit Trans*menschen aus der unhaltbaren Situation der extremen Fremdbestimmung befreit werden, sind aus meiner Perspektive die folgenden Veränderungen notwendig
Trans*identität sollte von Fachleuten der verschiedenen Disziplinen als Normvariante betrachtet werden, die nichts mit psychischer Gesundheit oder Krankheit zu tun hat.
Die Fachleute, mit denen Trans*menschen im Verlauf ihrer Transition zu tun haben (Endokrinologie, Plastische Chirurgie, Psychiatrie, Psychologie, Sozialarbeit, Jurisprudenz etc.), sollten den Trans*menschen ihr Fachwissen zur Verfügung stellen, damit diese selbstverantwortlich die Entscheidung über die von ihnen gewünschten Transitionsschritte treffen können.
Die Bestimmung der Ziele und des Vorgehens bei der Transition sollte allein bei den Trans*menschen selbst liegen.
Die Konsequenz daraus sollte sein, dass es keine Begutachtungen oder sonstige fachliche Stellungnahmen (z. B. für die hormonellen und operativen Interventionen oder für die Vornamens- und Personenstandsänderung) und keine sonstigen Forderungen (z. B. "Alltagstest" oder Verpflichtung zu einer begleitenden Psychotherapie) mehr gibt.
Jede Trans*person sollte die Empfehlung und die Möglichkeit erhalten, sich psychotherapeutisch und sozial begleiten zu lassen, aber nicht dazu verpflichtet werden. Art und Umfang eines solchen Angebots sind von der Trans*person selbst zu bestimmen.
Die Öffentlichkeit sollte vorurteilsfrei und umfassend über Trans*menschen informiert werden.
Die Gesamtgesellschaft sollte sich der Herausforderung, die Trans*menschen für sie darstellen, indem sie die dichotomen Vorstellungen von binären Geschlechtern hinterfragen, stellen und die Vielfalt von Identitätsentwürfen und Lebensformen als Bereicherung wahrnehmen.