Geschlecht bedeutet in unserer Gesellschaft eine vermeintlich selbstverständliche Unterscheidung zwischen zwei Gruppen: Männern* und Frauen*.
Geschlecht als funktionaler 'Platzanweiser'
Hilfreich ist hier zunächst ein Blick in die Geschichte. Beginnend im 18. Jahrhundert wurde Westeuropa von tief greifenden gesellschaftlichen Umbrüchen erfasst, die Strukturen, Institutionen und Verhältnisse, aber auch gesellschaftliche und individuelle Deutungsmuster umgestalteten und zu dem führten, was heute als moderne Gesellschaft bezeichnet wird. Auch die Vorstellungen über Männer* und Frauen* wandelten sich in diesen Transformationsprozessen: Der soziale Status und das Handeln von Individuen wird nun nicht mehr durch den gesellschaftlichen Stand definiert (etwa als Hausvater, Hausmutter, Magd oder Knecht), sondern als Ausdruck der individuellen Persönlichkeit wahrgenommen. Geschlecht wird in diesem Kontext zu einer individuellen Eigenschaft, die als Erklärung und Legitimation ungleicher gesellschaftlicher Positionen verstanden wird.
Treibende Kraft dieser neuen Begründung für gesellschaftliche Positionen, individuelle Handlungen und soziale Ungleichheiten waren die modernen Wissenschaften vom Menschen.
Im Verlauf der Industrialisierung löste sich die bis dahin vorherrschende Einheit der hauswirtschaftlichen Ökonomie, in der in erster Linie für den Verzehr der hauswirtschaftlichen Gemeinschaft produziert wurde, auf und es entwickelt sich eine funktionale Trennung zwischen berufsförmig organisierter Erwerbs- und unbezahlter Hausarbeit.
Eine der wichtigen Zukunftsfragen ist daher, wie Sorgearbeit zukünftig organisiert wird, wenn die heteronormative Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit in ihrer die Gesellschaft stabilisierenden Funktion brüchig geworden ist. Manche Kritiker*innen befürchteten, dass es dadurch zu einer Verwahrlosung von (Für-)Sorge käme.
Andere sehen darin jedoch die Möglichkeit einer transformatorischen Neuordnung gesellschaftlicher Prozesse, in denen (Für-)Sorge nicht als ein der Wirtschaft bei- oder gar untergeordnetes Subsystem erscheint und dementsprechend gesellschaftlich abgewertet ist, sondern als Kern und Zweck des gesellschaftlichen Miteinanders (care revolution
Zweigeschlechtlichkeit als Ordnung und Praxis
Um ihren Platz in der Gesellschaft zu finden, stehen Menschen in einer modernen Gesellschaft vor der Aufgabe, ihre individuelle Persönlichkeit zu ergründen, ihre Neigungen zu erkennen, ihre Potenziale optimal auszuschöpfen – und dies für andere erkennbar und plausibel zu machen. Geschlecht ist dabei eine zentrale Ressource, um Komplexität zu reduzieren: individuelle 'Potentiale' werden geschlechtlich kodiert und kanalisiert; individuell zuzurechnende Leistungen erscheinen so als Ausdruck der Geschlechtsidentität, die keiner weiteren Erklärung bedürfen. In den allermeisten sozialen Situationen müssen wir uns daher entweder als Mann* oder Frau* zu erkennen geben und von anderen als solche*r (an-)erkannt werden.
Im Prozess der Sozialisation werden wir zu solch kompetenten Akteur*innen, indem wir die Codes lernen, mit denen wir unser Geschlecht richtig darstellen und das Geschlecht anderer erkennen können – hier sprechen wir von doing gender.
Aufgrund dieser Grundgewissheit sind alle Individuen daher in der Regel gezwungen, sich als eins von beidem zu präsentieren und werden von Interaktionspartner*innen auch entsprechend wahrgenommen. Nach der erfolgreichen (wenn auch in den meisten Situationen unbewusst ablaufenden) Geschlechtszuschreibung wird im Folgenden alles entsprechend interpretiert. Die eindeutige Geschlechtsdarstellung und -zuschreibung ist eine (unreflektierte) Voraussetzung der gegenseitigen Anerkennung als Persönlichkeit (kompetente Subjekte). Treten bei der Zuschreibung Uneindeutigkeiten auf, wird diese Interaktion gestört, was zu Peinlichkeit und Irritationen, aber auch zu Wut und Gewalt führen kann.
Die Grundgewissheit einer angeborenen und stabilen binären Geschlechtlichkeit in modernen Gesellschaften ist jedoch nicht unangefochten. So finden wir durchaus kulturelle Kontexte, in denen undoing gender praktiziert wird, etwa wenn Akteur*innen der Drag-King-Szene, männlich codierte Symbole und Verhaltensweisen (wie angeklebte Bärte oder bestimmte Körperhaltungen) nicht als Ausdruck von Männlichkeit inszenieren oder 'weibliche' Körperformen (wie 'weibliche' Brüste) nicht unbedingt ihrer körperlichen Erfahrung, Mann zu sein, widersprechen.
Raum für Geschlechtervielfalt?
Die binäre Geschlechterordnung der Moderne war in ihrer Platzanweiserfunktion nie unangefochten. Frauen* (und andere Andere) haben Gleichheit, Teilhabe und überhaupt Daseinsberechtigung und körperliche Unversehrtheit eingefordert. Auch in den modernen Wissenschaften war die hegemoniale Praktik der Suche nach der Differenz und der Begründung von sozialen Differenzen in körperlichen Unterschieden historisch nie unumstritten. So stand im 18. Jahrhundert das Skelett im Fokus der Suche nach Differenzen: Aus Beckenweite und Schädelgröße etwa wurden weitgehende Schlussfolgerungen über individuelle Fähigkeiten und Eignungen gezogen. Es waren allerdings schon damals keineswegs alle Anatomen von den Befunden und deren Interpretation einer klaren Differenz 'männlicher' und 'weiblicher' Skelette überzeugt.
Eine andere Art der Fragestellung eröffnet sich dagegen, wenn 'Ausnahmen' nicht als Bestätigung der binären Regel begriffen werden, sondern als Hinweis auf deren Unzulänglichkeit. Da sich zeigen lässt, dass kulturelle Grundgewissheiten und Normen in unterschiedlichen Kontexten verschieden sind und historischen Veränderungen unterliegen, sind diese nicht in einer bestimmten Ausprägung notwendig. Sie können 'demokratisiert', zum Gegenstand von Auseinandersetzungen gemacht und in ihrer Funktionalität für gesellschaftliche Verhältnisse kritisch befragt werden.
Es könnte von Minderheitenkulturen, die andere (über die heteronormative Zweigeschlechtlichkeit hinausgehende) geschlechtliche Lebensweisen praktizieren, gelernt werden, dass dadurch weder jede soziale Ordnung noch individuelle Orientierung untergraben werden. Instabilität würde so von einem Krisenindikator zu einem Versprechen vielfältigerer Existenzweisen, neuer Lebensweisen und neuer (Für-)Sorgeverhältnisse.