Interessenvertretung ist von essentieller Bedeutung für unser politisches System. Dazu gehört auch die Expertise aus dem Bereich der Wirtschaft, findet Dominik Meier von der Politikberater-Vereinigung degepol.
Der über vier Jahre dauernde Entscheidungsprozess um die EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) zählt zu den größten Lobbyschlachten der jüngeren europäischen Geschichte. Durch die angestrebte Regulierung betraten die Entscheidungsträgerinnen und -träger politisches Neuland – mit einschneidenden Auswirkungen auf vielfältigste Lebens- und Wirtschaftsbereiche.
Die immense Bedeutung des Reformvorhabens mobilisierte unzählige Interessenvertreter aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Vor allem letztere, also Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen, führten von Beginn an eine hoch moralisierte Debatte. Gemeinsamer Tenor war die Abgrenzung von vermeintlich übermächtigen und gemeinwohlschädlichen Wirtschaftsinteressen. Am Ende der Verhandlungen steht nun jedoch eine Verordnung, die weder ausschließlich durch ökonomische noch durch zivilgesellschaftliche Interessen geprägt ist. Die DGSVO stellt im besten Sinne eine Aggregation der unterschiedlichen konkurrierenden Präferenzen dar.
Schadet Lobbying also der Demokratie in Europa?
Der Entscheidungsprozess um die DSGVO legt bereits eine klare Antwort nahe: Nein. Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Lobbying untermauert diese Schlussfolgerung. Jede Form von Interessenvertretung ist Lobbying. Dabei ist es unerheblich, ob Menschenrechtsorganisationen, Umweltverbände oder Firmen für ihre Interessen werben. Wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Interessen lassen sich inhaltlich voneinander abgrenzen. Aber wir tun gut daran, keine normative Unterscheidung in gute Interessen und schlechte Interessen vorzunehmen. Unsere pluralistische Gesellschaft lebt vom fairen Wettstreit der Ideen. Wer das Politische moralisiert und das Recht auf Teilhabe vom "richtigen“ moralischen Standpunkt abhängig macht, der stellt sich gegen den weltanschaulich neutralen Ordnungsrahmen der Demokratie.
Was das Gemeinwohl tatsächlich ist, das lässt sich nicht apriori und für alle Zeiten festlegen
Wer fordert, Lobbying müsse unterbunden werden, nimmt zudem verheerende Konsequenzen für die partizipative Politikgestaltung in Kauf. Außerhalb turnusmäßiger Wahlen dürften keine Interessen – egal ob wirtschaftliche, zivilgesellschaftliche, gewerkschaftliche oder kirchliche – in das politische System einfließen. Konkret heißt das: Alle vier bis fünf Jahre übertragen die Bürgerinnen und Bürger ihre Stimmen auf Bundes- und Landesebene an politische Repräsentanten und erteilen damit einen Blankoscheck für alle Entscheidungen in der kommenden Legislatur. Dieses Bild unserer Demokratie ist nicht nur sehr weit von unserer politischen Realität entfernt, sondern auch extrem unattraktiv.
Ausschnitt aus dem Film Dokumentarfilm "Democracy - Im Rausch der Daten". Eine fesselnde Geschichte über die Entstehung der Europäischen Datenschutzrichtlinie. Gleichzeitig ein spannender Einblick in den Gesetzgebungsprozess der Europäischen Union. Ab dem 1. Juli 2018 auf bpb.de/democracy
Wird Lobbying angeprangert, dann bemühen Kritiker wie der Verein LobbyControl oft den Begriff des Gemeinwohls. Derartige rhetorische Strategien dienen dazu, dem eigenen Anliegen einen Anstrich von moralischer Überlegenheit zu verleihen und konkurrierende Anliegen moralisch abzuwerten. Faktisch erheben sie jedoch das eigene Partikularinteresse zum Gemeinwohl. Denn: Was das Gemeinwohl tatsächlich ist, das lässt sich nicht apriori – also im Voraus – und für alle Zeiten festlegen.
Stattdessen muss – wie der Politologe Ernst Fraenkel in seinem Buch "Deutschland und die westlichen Demokratien“ treffend festhält – die Bestimmung des Gemeinwohls aposteriori erfolgen, also durch den ergebnisoffenen politischen Wettbewerb, in dem die faktischen Interessen der Bürgerinnen und Bürger berücksichtigt und umgesetzt werden. Gemeinwohlorientierte Interessenvertretung bedeutet demnach zuerst und vor allem Respekt vor den demokratischen Grundregeln, die Teilnahme am demokratischen Wettbewerb und die Einsicht, kein unanfechtbares Wissen über das Gute zu besitzen.Doch nicht nur die These von der Demokratieschädlichkeit des Lobbying ist falsch. Darüber hinaus gilt auch, dass Interessenvertretung von essentieller Bedeutung für unser politisches System ist.
Repräsentanten können nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum agieren
Gut abgewogene politische Entscheidungen sind der Motor demokratischer Gesellschaften. Damit dieser Motor reibungslos läuft, muss es Transmissionsriemen geben, die zwischen den unzähligen Partikularinteressen und Entscheidungsträgern vermitteln. Politikerinnen und Politiker sind keine Wahrsager, die durch Vorsehung wohlinformierte Entscheidungen treffen und Mehrheitsinteressen antizipieren. Realitätsfern ist daher auch die Idee, Repräsentanten könnten in einem gesellschaftlichen Vakuum agieren.
Politiker sind zudem keine allwissenden Experten. Die Komplexität der einzelnen Politikfelder ist enorm hoch, insbesondere auf europäischer Ebene. Daher sind politische Entscheidungsträger auf Informationen von Expertinnen und Experten angewiesen. Auch im Fall der DSGVO lieferten Interessenvertreter Knowhow - und damit einen großen Mehrwert für den Entscheidungsprozess.
Die Pluralität der Interessen ist unverzichtbar für eine hohe Qualität politischer Entscheidungen, und daraus erwächst gleichsam das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Demokratie. Der Wettbewerb der pluralen Interessen muss daher fair verlaufen. Dafür braucht es transparente Verfahren und eine Selbstverpflichtung der Interessenvertreter auf das Prinzip der Wahrhaftigkeit. Verantwortungsvolle Interessenvertretung ist keine Gefahr, sondern eine Chance für unser demokratisches Europa.
Dominik Meier ist Vorsitzender der de'ge'pol Deutsche Gesellschaft für Politikberatung e.V. und Geschäftsführer des Politikberatungsunternehmens Miller & Meier Consulting GmbH.
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