bpb.de: Frau Reding, Sie sind Konservative aus Luxemburg, Jan Philipp Albrecht ein deutscher Grüner. Dennoch nennen Sie ihn im Film „Democracy“ Ihren „Lieblingsberichterstatter“. Warum?
Viviane Reding: Jan Philipp Albrecht hat als Berichterstatter des EU-Parlaments bei der Datenschutzgrundverordnung eine hervorragende Arbeit geleistet. Da ging es nicht um Parteipolitik, da ging es um die Sache. Das hieß für uns beide, den Markt zu öffnen für kleine und mittlere Betriebe sowie für Start-Ups. Und das hieß, den Markt abzusichern, denn bislang agierte die Konkurrenz von außen auf dem europäischen Markt so, als gäbe es keine Gesetze. Und es ging uns darum, den Bürger abzusichern. Wir hatten also dieselben Ziele, deshalb war die Kooperation auch für zwei Menschen aus verschiedenen politischen Lagern und verschiedenen Parteien möglich.
Sie haben 2012 als die damals zuständige EU-Kommissarin eine Datenschutzreform auf EU-Ebene vorgeschlagen und auf den Weg gebracht. Sind Sie zufrieden damit, was heute daraus geworden ist?
Da muss ich ausholen. In den Neunzigerjahren wurde die Europäische Union vergrößert, viele der Menschen waren zudem von einer Kriegserfahrung oder von einem Leben unter einem totalitären Regime geprägt. Sie hatten ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Staat. Die EU-Datenschutzrichtlinie von 1995 war eine Antwort darauf. Nun ist aber 1995 für uns heute technische Steinzeit. 2011 hat mich eine Umfrage überrascht, nach der 70 Prozent der EU-Bürger glaubten, ihre persönlichen Daten werden von den Unternehmen missbraucht. Sie hatten kein Vertrauen darin, dass sie die Politik auf diesem Gebiet schützen kann. Da mussten wir handeln: Wir mussten die EU für den digitalen Binnenmarkt öffnen, wir mussten die EU-Firmen vor ausländischen Übernahmen schützen und wir mussten den Bürgern das Vertrauen in die Datensicherheit zurückgeben. Ohne Vertrauen nehmen die Bürger neue digitale Dienstleistungen nicht an.
Wie sind Sie das Problem angegangen?
Wir brauchten eine grundlegende Reform. Jeder EU-Staat hatte damals eigene Regeln. Für kleine und mittlere Betriebe war es unmöglich, für Start-Ups undenkbar, jenseits der Grenzen Fuß zu fassen. Sie benötigen ja fast einen juristischen Dienst, wenn sie in der gesamten EU agieren wollten. Also wollten wir 28 nationale Gesetze abschaffen - und durch eines für den gesamten Kontinent ersetzen. Außerdem wollten wir die Menschen so absichern, dass sie Vertrauen bekommen in den Schutz, den ihnen das Gesetz gewährt und in die Art und Weise, wie die Dienstleister sie behandeln. Das war wirklich nicht einfach. Jetzt aber haben wir die Grundverordnung, ein Meilenstein in der Geschichte der EU-Politik, weltweit die weitreichendste Datenschutzregelung überhaupt.
"Start-Ups benötigen ja fast einen juristischen Dienst, wenn sie in der gesamten EU agieren wollen."
Weltweit sagen Sie?
Kein anderes Land hat solch eine solide Datenschutzgesetzgebung. Das ist wichtig für die digitale Souveränität der EU. Und wichtig, wenn wir mit anderen Teilen der Welt verhandeln: Wir wollen doch die Regeln weltweit mitbestimmen, um das Potenzial neuer Technologien aus der EU voll ausschöpfen zu können. Auch deshalb müssen sich nun die großen US-amerikanischen Unternehmen an unsere Regeln halten. Falls nicht, drohen Strafen bis zu vier Prozent des weltweiten Umsatzes.
Was ist für Sie die wichtigste Regel in der Datenschutzgrundverordnung?
Dass es empfindliche Geldbußen gibt, ist auf jeden Fall ein Riesenfortschritt. Auch der beste Gesetzestext nützt wenig, wenn er nicht durch Strafen durchgesetzt werden kann. Gegen diese richtete sich ja auch der größte Teil der Lobbyarbeit bei der Verordnung.
Gibt es auch etwas, das Sie bis heute an der Verordnung stört?
Es wäre falsch, sich einen Punkt herauszupicken. Jedes Gesetz ist ein Kompromiss. Dass dieser Kompromiss Wirklichkeit wurde, ist allerdings fast unglaublich. Stellen Sie sich mal vor, EU-Kommissare und -Berichterstatter kämen nach Berlin und wollten hier ein deutsches Gesetz durch ein europäisches ersetzen. Der Aufruhr wäre riesengroß! Aber dann gab es die Snowden-Affäre. Da sind die Minister der Mitgliedsstaaten endlich aufgewacht. Da verstanden sie, dass etwas getan werden muss.
Im Mai 2018 soll die Verordnung sechs Jahre nach Ihrem ersten Vorstoß in den Staaten der EU in nationales Recht umgesetzt sein – dauert das nicht viel zu lange?
Die Unternehmen brauchen ja auch Zeit, um sich auf die Neuerungen einzustellen. Bis jetzt haben sich viele Firmen überhaupt nicht um Datenschutz gekümmert. Nun müssen sie möglicherweise sogar einen Datenschutzbeauftragten einstellen.