SchülerInnen bringen unterschiedliche Voraussetzungen und Interessen, Erfahrungen und Fähigkeiten mit in die Schule. Einige begeistern sich für das darstellende Spiel und erschließen sich so literarische Texte. Andere suchen die Herausforderung bei der Lösung von kniffligen Logikaufgaben. Einige Kinder benötigen Unterstützung und Motivation, um kognitiv anspruchsvollere Aufgaben zum Beispiel im Bereich der Naturwissenschaften zu lösen, überzeugen aber im sportlichen Wettkampf oder beim musikalischen Vortrag. Wieder anderen SchülerInnen fehlt es aufgrund persönlicher Erfahrungen an basalen Kenntnissen der deutschen Sprache, um dem Unterricht folgen zu können. All diesen unterschiedlichen Ausgangsfähigkeiten, Lernbedürfnissen oder Vorlieben muss und will Schule heute begegnen, um den Lernenden gerecht zu werden. Dies gilt für die Grundschule wie für die weiterführenden Schulen und auch für die Erwachsenenbildung. Eine heterogene SchülerInnenschaft braucht einen Unterricht, der die Vielfalt als Herausforderung und nicht als Hindernis begreift. Alle SchülerInnen sollten in ihrer Geschwindigkeit und auf ihrem Weg Kompetenzen erwerben können, die sie zu einem Schulabschluss führen und ihnen die volle Teilhabe an unserer Gesellschaft ermöglichen.
QuellentextHeterogenität im Klassenzimmer – immer schon Realität
"Sortiert man die Schüler/innen z. B. nach ihren aktuellen Leistungsständen, dann ist das lediglich eine eng definierte Momentaufnahme, nicht aber eine verlässliche Aussage darüber, welche Lernleistungen die betreffenden Schüler/innen auf längere Sicht freisetzen. Schülerleistungen sind bekanntlich höchst dynamisch und veränderbar.
[…] Außerdem besagen homogene Schülerleistungen noch lange nicht, dass auch andere Schülermerkmale übereinstimmen. So können kognitiv starke Schüler/innen z. B. sehr verhaltensschwierig sein, oder leistungsschwache Kinder können sich unter Umständen als sehr kreativ oder sozial erweisen. So gesehen ist das gängige Streben nach homogenen Schülergruppen ein höchst zweifelhaftes Unterfangen […]. Es ist längst an der Zeit, Heterogenität im Klassenzimmer als produktive Ressource für Bildung und Erziehung aufzufassen und zu nutzen. Das ist gleichermaßen gerecht wie zukunftsorientiert."
Heinz Klippert, Wirtschaftswissenschaftler und Pädagoge, in: Ders. (2012): Heterogenität im Klassenzimmer. Wie Lehrkräfte effektiv und zeitsparend damit umgehen können, 3. unveränd. Aufl., Weinheim und Basel, S. 24 f.
Konsequenzen der Vielfältigkeit von Lernvoraussetzungen für den Unterricht
Lange Zeit lag der Vorstellung von guter Schule die Idee zugrunde, dass im Unterricht bestimmte fachliche Inhalte durch die Lehrkraft vermittelt werden und die SchülerInnen diese aufnehmen, verstehen und anwenden. Fehlende Kenntnisse des Unterrichtsstoffs wurden in diesem Zusammenhang auf kognitive Defizite und/oder mangelnde Motivation der SchülerInnen zurückgeführt.
Dieses Verständnis des Lernens ist jedoch veraltet, wie zahlreiche Studien belegen, und entspricht auch nicht mehr den gesellschaftlichen Anforderungen, denen Kinder und Jugendliche, aber auch wir als Erwachsene heute in einer globalisierten und digitalisierten Welt begegnen. So ist die Fähigkeit, sich Inhalte selbstständig anzueignen und in einem selbstgesteuerten Lernprozess Kompetenzen zu erwerben, ein unverzichtbarer Bestandteil unserer individuellen Bildungsbiografie geworden. Dies gilt für Menschen aller Altersstufen. Täglich stehen wir vor der Herausforderung, eine Masse von Informationen zu sichten, zu überprüfen, zu bewerten, gegebenenfalls zu verwerfen, um uns ein fundiertes Urteil bilden zu können, das wir möglicherweise auch anderen präsentieren und das unser Handeln anleitet. SchülerInnen müssen diese Fähigkeiten erst trainieren. Sie müssen an ihre zunehmende Selbstständigkeit und Mündigkeit herangeführt werden. Diese Aufgabe übernimmt die Schule.
Zahlreiche Studien in der pädagogischen Psychologie, der empirischen Pädagogik und der Lehr-Lernforschung haben gezeigt, dass jeder Mensch – und damit auch jedes einzelne Kind und jeder einzelne Jugendliche – die Welt auf seine/ihre eigene Weise erfasst und versteht. Demnach vollzieht sich auch der Wissens- und/oder Kompetenzerwerb jedes Kindes unterschiedlich. Alle SchülerInnen einer Klasse erstellen, auch wenn sie sich mit denselben Inhalten im Unterricht befassen, individuelle "Konstruktionen". Das heißt, sie nehmen die Inhalte unterschiedlich auf, verarbeiten sie und betten sie individuell in ihre Denkstrukturen ein. Für den Unterricht haben diese Erkenntnisse weitreichende Folgen.
In der heutigen pädagogischen (Lehrkräfte-)Ausbildung dominiert die "konstruktivistische" Vorstellung, dass Lernen sinnvoll nur von einem Individuum auf Basis seiner eigenen Erfahrungen, Prägungen, Interessen, Fähigkeiten oder Fertigkeiten vollzogen werden kann. Eine Bedingung für guten Unterricht muss es folglich sein, dass die Lehrkraft das Lernen als einen individuellen Prozess der SchülerInnen betrachtet und deren individuelle Voraussetzungen in der Unterrichtsplanung berücksichtigt. SchülerInnen lernen also besser, wenn sie im Unterricht Aufgaben, Sozialformen oder methodische Zugänge wählen können, die zu ihren Fähigkeiten, Vorkenntnissen und Interessen passen. Individualisiertes Lernen setzt zudem darauf, die Motivation der SchülerInnen zu erhöhen und ihre Kompetenzen zum selbstgesteuerten Lernen zu verbessern, indem sie sich eigene Ziele setzen, diese verfolgen und ihre Leistungen und Kompetenzen realistisch einschätzen sowie sich an der Gestaltung der Lernwege und des Unterrichts beteiligen. Die Erziehungswissenschaftler Wischer und Trautmann formulieren es folgendermaßen: "Die Schule soll sich dem Kind anpassen, und nicht umgekehrt." Wie aber kann eine Lehrkraft gut 25 bis 35 SchülerInnen pro Klasse im typischen Sekundarschulalltag möglichst individuell unterrichten und fördern? Geht das überhaupt?
Binnendifferenziert unterrichten
Ein sinnvoller und gut dokumentierter Weg, um den individuellen Begabungen der Lernenden gerecht zu werden, ist binnendifferenziert zu unterrichten. Das bedeutet, dass die SchülerInnen von der Lehrkraft innerhalb der Lerngruppe auch individuell gefördert werden. Man spricht hier von einer inneren Differenzierung der Lernenden in einer prinzipiell heterogenen Lerngruppe im Gegensatz zur sogenannten äußeren Differenzierung, die darauf abzielt, möglichst homogene, das heißt nach bestimmten Kriterien einheitliche, Lerngruppen zu bilden und den Unterricht häufig am vorgestellten durchschnittlichen Leistungsniveau der SchülerInnen auszurichten (siehe Infobox).
QuellentextWas ist "äußere Differenzierung"?
Grundsätzlich basiert das deutsche Schulsystem auf dem Organisationsprinzip der äußeren Differenzierung. Dabei handelt es sich um ein Strukturierungskonzept, das SchülerInnen anhand bestimmter Kriterien wie Alter, Interessen oder kognitive Leistungsfähigkeit zu "homogenen" (d. h. möglichst ähnlichen) Gruppen zusammenfasst.
Im deutschen Schulsystem dominiert eine auch weltweit zu findende Form der äußeren Differenzierung, die Lernende je nach Alter bestimmten Jahrgangsstufen (auch "Klassen": 1, 2, 3 … 11, 12, 13) zuweist. Eine äußere Differenzierung anhand verschiedener Interessen oder kognitiver Leistungsfähigkeit der SchülerInnen kann hingegen auf unterschiedliche Weise organisiert werden. Traditionell erfolgt sie in Deutschland dadurch, dass SchülerInnen auf unterschiedlich anspruchsvolle weiterführende Schulformen verteilt werden (Hauptschule, Realschule, Gymnasium).
Aber auch in den "integrierten" Schulformen, die es heute in nahezu allen Bundesländern gibt (Gesamtschulen, Gemeinschaftsschulen, Sekundarschulen u. a. m.), findet zumeist eine äußere Differenzierung statt. In diesem Fall erfolgt sie innerhalb der einzelnen Schule durch die Einteilung der Kinder in Gruppen mit ähnlichen Lerngeschwindigkeiten, die als Niveaukurse bezeichnet werden. Viele Sekundarschulen in Berlin etwa teilen die Klassen der Jahrgänge bzw. den Klassenverband in bestimmten Fächern in GR-Kurse (Grund-) und ER-Kurse (Erweiterungskurse) auf. So wird der Klassenverband in einzelnen Fächern aufgelöst, und die SchülerInnen können in einem Fach gemeinsam mit ähnlich leistungsstarken SchülerInnen aus anderen Klassen lernen. Die Übergänge zwischen den Gruppen sind meist fließend; ein Wechsel zwischen den Kursen ist oft nach dem Halbjahr oder einem Schuljahr möglich, wenn die SchülerInnen entsprechende Leistungen zeigen.
Bei einem binnendifferenzierten Unterricht versucht die Lehrkraft, die individuellen Ausgangsbedingungen jedes Schülers und jeder Schülerin im Klassenverband zu berücksichtigen. Das heißt, als Lehrkraft konzipiere ich meinen Unterricht so, dass sich die eingesetzten Materialien, die Art, wie ich meinen Unterricht aufbaue, welche Methoden und Sozialformen ich verwende, möglichst eng an den Interessen und Voraussetzungen meiner SchülerInnen orientieren und im besten Fall auch mit den SchülerInnen selbst abgestimmt sind. Dies schließt jedoch – um bereits hier einem verbreiteten Missverständnis vorzubeugen – nicht aus, dass es stark auf die Lehrkraft zentrierte Phasen und "klassischen" Frontalunterricht geben kann. Wie differenzierter Unterricht innerhalb eines Klassen- oder Kursverbandes gelingen kann, auf welche Schwierigkeiten man bei der Konzeption von Materialien und deren Einsatz im Unterricht stößt und wie dabei als Voraussetzung für einen binnendifferenzierten Unterricht eine sinnvolle Diagnose über die individuellen Ausgangsbedingungen der SchülerInnen aussehen kann, möchte ich im Folgenden zeigen.
Diskussion um Binnendifferenzierung in der Praxis: typische Einwände und Einsichten
Grundsätzlich wird die Sinnhaftigkeit eines binnendifferenzierten Unterrichts heute nicht mehr infrage gestellt. In der Forschung und in der Praxis der Schulen herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass die SchülerInnen in Hinblick auf ihre individuellen Lernvoraussetzungen bestmöglich gefördert werden sollten, um die für die gesamte Bildungslaufbahn wichtige Fähigkeit, selbstgesteuert zu lernen, auf- und auszubauen und ihre Motivation durch die Partizipation im Lernprozess zu erhöhen. Die Lehrkräfteausbildung – sowohl an den Universitäten als auch begleitend zum Referendariat – vertieft in den Seminaren das Wissen um geeignete, fachspezifische Materialien und Methoden. Auch Gymnasien, die angesichts ihrer vergleichsweise leistungshomogenen SchülerInnenschaft zunächst eher nicht so geneigt waren, mit Formen der inneren Differenzierung zu arbeiten wie die Sekundarschulen mit ihrer leistungsgemischten SchülerInnenschaft, haben sich vielfach davon verabschiedet, einen Unterricht für alle SchülerInnen zu erteilen. Denn auch an den Gymnasien gilt, dass ein am "Durchschnittsschüler" ausgerichteter Unterricht manche SchülerInnen überfordern, andere unterfordern kann, für wiederum andere kann der Lernweg nicht passen und somit wenig motivieren, wodurch sich der Lernerfolg verringert. In der schulischen Praxis gibt es jedoch vor allem in zwei Punkten zur Binnendifferenzierung immer wieder Uneinigkeit und Diskussionsbedarf. Ich bringe sie im Folgenden jeweils mit einer typischen Aussage auf den Punkt und diskutiere sie kurz:
Kurz: Wie ist das Verhältnis von Aufwand und Nutzen im binnendifferenzierenden Unterricht?
Die größte Herausforderung für einen binnendifferenzierenden Unterricht besteht darin, als Lehrkraft allen SchülerInnen – und dies sind häufig mehr als 30 – gerecht zu werden. Es hilft jedoch, sich bewusst zu machen, dass es primär darum geht, umzudenken: Nicht eine "Einzelfallbehandlung" ist das Ziel, sondern vervielfältige Lernwege. Denn binnendifferenziert zu unterrichten bedeutet nicht, dass die Lehrkraft innerhalb einer Stunde ein Feuerwerk an Methoden und Sozialformen (Einzelarbeit, Arbeit mit dem Sitznachbarn, Gruppenarbeit) zünden muss. Binnendifferenzierter Unterricht bedeutet insofern auch nicht, den Frontalunterricht zu verteufeln und jeden Unterricht als Stationenlernen zu arrangieren.
QuellentextBinnendifferenzierung kann Bestandteil ganz unterschiedlicher Methoden, Sozialformen und Unterrichtskonzepte sein
"Binnendifferenzierung ist nicht zwangsläufig an bestimmte Methoden, Sozialformen und Unterrichtskonzepte gebunden; sogar ein Lehrervortrag kann Differenzierungsqualitäten aufweisen, wenn nämlich die thematisierten Gegenstände so vielperspektivisch, facettenreich und bildhaft dargeboten werden, dass sich für unterschiedliche Schüler ganz unterschiedliche Zugänge anbieten. Umgekehrt tritt Binnendifferenzierung nicht automatisch ein, wenn Frontalunterricht durch Gruppen- oder Einzelarbeit ersetzt wird."
Hans Werner Heymann, Mathematiker und Erziehungswissenschaftler, in: Ders. (2010): Binnendifferenzierung – eine Utopie?, in: Pädagogik (11/2010), S. 6 f.
Das Verhältnis von Aufwand und Nutzen bei der Planung und Umsetzung von individualisierten Lehr- und Lernprozessen sollte dabei jedoch im Rahmen bleiben und auch den Bedürfnissen, Vorlieben und Fähigkeiten der jeweiligen Lehrkraft entsprechen. Für den Anfang reicht es daher aus, sich vielleicht nur eine Unterrichtsstunde innerhalb einer Unterrichtseinheit für eine Jahrgangsstufe vorzunehmen und erste Materialien zu erproben, um schließlich – auch gestützt durch Kooperationen mit KollegInnen – umfangreichere Formen einzusetzen.
Binnendifferenzierung im Unterricht – ein Methodenbaukasten für Lehrkräfte
Dass ein binnendifferenzierter Unterricht nicht immer nur mit viel organisatorischem und personellem Aufwand zu realisieren ist, möchte ich im Folgenden mit einem Methodenbaukasten aus der Praxis zeigen. Dafür erläutere ich kurz wesentliche Varianten der Differenzierung und dazu einzelne, vielfach bewährte Instrumente (siehe Übersicht in der Infobox) und ergänze diese um Hinweise auf konkrete, praxiserprobte und dokumentierte Unterrichtsvorhaben. Die Instrumente sind dabei weder vollständig noch ist die Zuordnung zu den einzelnen Varianten starr. Für alle Instrumente gilt, dass die Lehrkräfte ausreichend Zeit für die Auswertung bzw. Besprechung und die Sicherung der erarbeiteten Ergebnisse der SchülerInnen einplanen sollten. Denn nur mithilfe einer zu Beginn umfangreicheren Reflexion des Lernprozesses lassen sich besonders nachhaltige Lerneffekte mit binnendifferenziertem Unterricht erzielen.
Differenzierung nach Anforderungsniveau und Umfang
Oft, aber nicht immer, hängt das Arbeitstempo der SchülerInnen mit ihren kognitiven Fähigkeiten zusammen; das heißt, dass leistungsfähige Kinder oft auch schneller die ihnen gestellten Aufgaben lösen. Aus diesem Grund habe ich beide Differenzierungsvarianten – Anforderungsniveau und Umfang – zusammen aufgeführt. Einzelne Instrumente können auch miteinander kombiniert werden. So ist es beispielsweise möglich, dass Schülerin X bei den "Aufgaben mit unterschiedlichen Schwierigkeiten" eine leichtere Aufgabe erhält und zusätzlich durch "Gestufte Hilfen" wie Formulierungsbausteine für ihre Antworten unterstützt wird.
Aufgaben mit unterschiedlichen Schwierigkeiten
Eine Lehrkraft kann für die Lernenden Aufgaben auf unterschiedlichen Anforderungsniveaus bzw. Schwierigkeitsgraden vorbereiten, wobei sie entweder Arbeitsblätter mit variierenden Aufgabenstellungen konzipiert oder im Schulbuch unterschiedliche zu bearbeitende Aufgaben vorgibt. Es ist möglich, den SchülerInnen Aufgaben zuzuweisen oder diese selbst wählen zu lassen. Die Arbeitsblätter auf unterschiedlichen Niveaustufen können mithilfe von Farben, Symbolen (Sterne, Emoticons, Ikons etc.), Buchstaben (A, B, C etc.) oder Zahlen markiert werden, sodass die Lernenden schnell eine Zuordnung vornehmen können. Die Markierung sollte nach Möglichkeit im Laufe eines Schuljahres nicht verändert werden, da dies zu Irritationen und Verwirrungen führt.
Unterschiedliche Aufgabenmenge bei gleicher Bearbeitungszeit
Die Lehrkraft kann ihren SchülerInnen einen Pool an Aufgaben zur Verfügung stellen, die innerhalb einer vorgegebenen Zeit zu bewältigen sind. Die Lernenden können dabei abhängig von ihren Interessen und ihrer Bearbeitungsgeschwindigkeit Aufgaben frei wählen, mit denen sie sich in der vorgegebenen Zeit beschäftigen wollen.
Pflicht- und Wahlaufgaben
Die sogenannten Pflichtaufgaben sind von allen SchülerInnen zu bearbeiten. Hier werden meist Niveaustufen und Lernzugänge gewählt, die eine Mehrheit der SchülerInnen bewältigen können. Die Pflichtaufgaben decken dabei nicht unbedingt den gesamten zu erarbeitenden Inhalt ab, sondern nur bestimmte, von der Lehrkraft zu definierende Bereiche. Die Wahlaufgaben bieten Zugänge, die die SchülerInnen je nach Neigung und Interesse wählen können. Die Bearbeitungszeit ist für alle Lernenden identisch. Ausreichend Zeit muss für die Besprechung und Sicherung der Ergebnisse eingeplant werden.
Basis- und Expertenaufgaben
Alle SchülerInnen müssen identische Basisaufgaben lösen, die die Kerninhalte eines Themenkomplexes abbilden. Danach steht es den Lernenden frei, sich schwierigeren Aufgaben – den Expertenaufgaben – zuzuwenden. Den SchülerInnen kann für die Bearbeitung der Aufgaben eine identische Zeit gegeben werden, wobei die "Schnelllerner" bereits die Expertenaufgaben bearbeiten können, während ihre MitschülerInnen sich noch die Basisaufgaben widmen.
Arbeit mit "Gestuften Hilfen"
Die SchülerInnen erhalten alle identische Aufgaben, bekommen aber je nach Bedarf unterschiedliche Formen der Unterstützung. Dies können beispielsweise Glossare bei schwierigeren (Fach-)Texten sein, Lernkarten mit Methodenerläuterungen, Hilfskarten mit Hinweisen zum Lösungsweg oder Textbausteine für die Formulierung von schriftlichen Antworten. Eine Variante, die im Zusammenhang mit Sprachbildung oft gebraucht wird, sind die sogenannten scaffolds, (sprachliche) Gerüste. Weniger kompetenten Sprechern und Schreibern werden Sprachbausteine vorgegeben, die sie nutzen können, um sich sprachlich auszudrücken. Die zentrale "Hilfsinstanz" im Unterricht bleibt die Lehrkraft. Grundsätzlich sollte es den SchülerInnen möglich sein, sich bei Fragen an ihre Lehrerin bzw. ihren Lehrer zu wenden. Zusätzlich kann als "Hilfselement" noch ein Stuhlkreis um das Lehrkräftepult aufgebaut werden, wo sich Lernende zusammenfinden können, um Fragen in kleinerer Runde zu besprechen und individueller angeleitet zu werden. Diese Förderung sollte leistungsschwächeren und leistungsstärkeren SchülerInnen offenstehen.
Lerntempoduett
Hierbei handelt es sich um eine kooperative Arbeitsform zum Austausch von Wissen, die in zwei Varianten bekannt ist. Die "Hilfsinstanz" beim Lerntempoduett ist bei beiden Varianten nicht die Lehrkraft, sondern eine Mitschülerin bzw. ein Mitschüler.
Variante 1: Die Klasse wird geteilt, wobei die eine Hälfte Aufgabenteil A und die andere Aufgabenteil B bearbeitet. Ist ein/e "A-SchülerIn" fertig mit der Bearbeitung des Aufgabenteils, steht sie/er auf und sucht eine/n ebenfalls stehende/n "B-SchülerIn", um die Aufgaben zu besprechen.
Variante 2: Es werden keine unterschiedlichen Aufgaben erteilt; es liegt also keine kooperative Arbeitsform vor. Die SchülerInnen suchen, wenn sie ihre Einzelarbeit beendet haben, ein/e gleichschnelle/n Lerntempo-PartnerIn, um die Aufgaben zu erörtern. Mit dieser Variante können die Abläufe für Variante A eingeübt werden.
Stolpersteine | Hinweise
Weise ich als Lehrkraft Aufgaben mit unterschiedlichen Niveaustufen zu, so kann dies zu einer Stigmatisierung von SchülerInnen führen. Erhält Schüler Y beispielsweise immer die einfacheren Aufgabenblätter, kann dies zum einen bewirken, dass dieser sich den geringeren Leistungserwartungen anpasst und seine Motivation sinkt. Zum anderen erhält er auch innerhalb des Klassenverbandes das "Label" eines nicht leistungsstarken Schülers. Lasse ich die SchülerInnen frei wählen, welche Aufgaben oder welche Aufgabenmenge sie bewältigen, kann dies zur Folge haben, dass sich Lernende aus Bequemlichkeit oder Angst eher leichtere Aufgaben aussuchen, als sie eigentlich lösen könnten. Hier muss eine Lehrkraft gegensteuern und die SchülerInnen im Gespräch ermutigen, sich auch mal zu fordern.
Ferner ist es mit viel Aufwand verbunden, durchgängig Arbeitsmaterialien mit Aufgaben unterschiedlicher Anforderungsniveaus auszuwählen oder zu erstellen. Dafür ist es hilfreich, wenn die Lehrkräfte verstärkt im Team arbeiten und/oder bereits existierende Materialien nutzen, die sich nach Bedarf an unterschiedliche Lernvoraussetzungen anpassen lassen.
Differenzierung nach Lernwegen, Neigung und Interessen
Aufgaben, die die Interessen, Neigungen und von den SchülerInnen bevorzugten Lernwege berücksichtigen, können natürlich auch unterschiedlich in Hinblick auf das Anforderungsniveau oder die Bearbeitungszeit sein. Sie werden hier aber separat aufgeführt, da der Fokus darauf liegt, den SchülerInnen unterschiedliche Wege zu einem "Ziel"– wie etwa die Analyse und Interpretation einer Dramenszene – zu ermöglichen.
Neigungs- und Interessenaufgaben
Hierbei können die SchülerInnen aus verschiedenen Aufgabenoptionen eine oder mehrere auswählen, die sie aufgrund ihrer persönlichen Interessen bearbeiten möchten. Ziel dieser Form der Differenzierung ist es, die SchülerInnen durch selbst gewählte Aufgabenformate zu motivieren und sie gemäß ihrer eigenen Stärken zu fördern. Wichtig ist, dass die Aufgaben unterschiedliche Zugangswege zum Unterrichtsgegenstand berücksichtigen, um den vielfältigen Interessen und Neigungen der SchülerInnen zu entsprechen. Die Zugänge können thematisch variieren (bei der Demokratieerziehung z. B. Parteien, Institutionen, Demokratietheorien etc.) oder auch in Hinblick auf den Kompetenzerwerb (z. B. eigene Umfrage zu schulischen Partizipationsmöglichkeiten an der Schule erstellen, Interviews mit BürgerInnengruppen führen, Statistiken auswerten, einen LeserInnenbrief zu einem politisch relevanten Thema verfassen). Die Neigungs- und Interessendifferenzierung kann gut mit den Pflicht- und Wahlaufgaben kombiniert, aber auch allein genutzt werden, indem sich SchülerInnen eine Wahlaufgabe aus unterschiedlichen Neigungsaufgaben aussuchen können. In der Trainingsphase sollte man mit wenigen Auswahlmöglichkeiten beginnen, um die SchülerInnen nicht zu überfordern. Die Optionen können im Verlauf erweitert werden. Älteren SchülerInnen kann man es überlassen, ihre eigenen Aufgabenoptionen zu wählen.
Unterschiedliche Lernwege berücksichtigende Aufgaben
Eine Differenzierung ist möglich, wenn den Lernenden unterschiedliche Wege angeboten werden, wie sie sich einem Unterrichtsgegenstand nähern. Die immer noch starke Fixierung auf das Medium "Text" überfordert viele, auch gerade jüngere SchülerInnen, abhängig vom Schwierigkeitsgrad des Textes und der Lesekompetenz der Lernenden. Ihnen fällt es oft leichter, sich einem Thema handlungsorientiert (szenisches Spiel), haptisch (Geschichte über Gegenstände, Arbeit mit geometrischen Figuren oder Modellen), visuell (Bilder, Fotografien, Verlaufsdiagramme) oder im dialogischen Austausch mit MitschülerInnen zu nähern.
Differenzierung nach Grad der Selbstständigkeit (binnendifferenzierende "Großformen")
An die im folgenden vorgestellten Formate müssen die Schülerinnen und Schüler herangeführt werden; dies bedeutet, dass eine gewisse Phase der Vorbereitung und Erklärung des Arbeitsprozesses mitgedacht werden sollte. Ferner ist es wichtig, sich bereits im Vorfeld über die Form der Ergebnissicherung mit den Schülerinnen und Schülern zu verständigen und dafür ausreichend Zeit einzuplanen.
(Wochen-)Planarbeit
(individualisierter Unterricht) Die SchülerInnen müssen innerhalb eines definierten Zeitraums Aufgaben bearbeiten, die individuell auf die Lernenden zugeschnitten sind und in Plänen festgehalten werden (klassisch ist hier die Wochenplanarbeit). Sie bestimmen – je nach Fähigkeiten und Sinnhaftigkeit – selbst über die Reihenfolge, die Methode und die Sozialform, in der sie die Aufgaben bearbeiten. Individuell können Phasen der intensiven Arbeit durch Momente der Entspannung gesteuert werden; die SchülerInnen rhythmisieren selbstständig die ihnen zur Verfügung stehende Zeit. Im regelmäßigen Austausch mit den Lehrkräften wird der Lernprozess reflektiert, werden Lernerfolge dokumentiert und Ziele vereinbart. Die Ergebnisse der Planarbeit halten die SchülerInnen schriftlich fest.
Stationenarbeit
(individualisierter Unterricht) Innerhalb einer Stationenarbeit haben die SchülerInnen vielfältige Möglichkeiten, sich mit einem Gegenstand auseinanderzusetzen. Sie können entweder in einer vorgeschriebenen oder frei wählbaren Reihenfolge – abhängig vom Grad der Selbstständigkeit der SchülerInnen – bestimmte Materialien mit themendifferenzierten Aufgaben bearbeiten. Sie entscheiden dabei weitestgehend selbstständig, wann sie welche Station mit welchen Hilfsangeboten und in welcher sozialen Form bearbeiten. Die Materialien befinden sich an festen Stationen, die von den Lernenden aufgesucht werden. Innerhalb der Stationenarbeit gibt es viele Möglichkeiten, Varianten der Differenzierung zu implementieren. So kann zwischen Pflicht- und Wahlstationen unterschieden werden; es können Expertenaufgaben bereitliegen oder Materialien, die unterschiedliche Lernwege berücksichtigen. Ferner kann die Lehrkraft unterschiedliche Hilfsangebote wie Methodenkarten oder Formulierungshilfen vorbereiten.
Freiarbeit
(individualisierter oder kooperativer Unterricht) Die SchülerInnen können sich über einen bestimmten Zeitraum mit einem Thema ihrer Wahl befassen. Sie sind dabei nicht an vorgegebene Sozialformen, Methoden oder Materialien gebunden. Ein Materialfundus kann von der Lehrkraft bereitgestellt werden, ohne die Materialien direkt Aufgaben oder Themen zuzuweisen. Sind die SchülerInnen in der Freiarbeit erfahrener, sollten sie auch die zur Bearbeitung notwendigen Inhalte selbst recherchieren und auswählen. In diesem Lehr-/Lernszenario fungiert die Lehrkraft als Begleiter, an den man sich bei Fragen o. Ä. wenden kann.
Stolpersteine | Hinweise
Alle in diesem Abschnitt vorgestellten Formen sind in ihrer Vorbereitung zeitintensiver, sie sind aufwendig umzusetzen und können nicht ad hoc von den SchülerInnen angewendet werden. Daher werden sie "Großformen" genannt. Stationenlernen oder Freiarbeit setzen einen gewissen Grad an Selbstständigkeit bei den Lernenden voraus. So müssen sie den Bearbeitungsprozess planen und sich eigenständig mit den einzelnen Aufgaben auseinandersetzen können. Über diese Fähigkeiten verfügen SchülerInnen nicht gleich zu Beginn ihrer Schullaufbahn. Dennoch ist bei diesen Formaten eine zielgerichtete, individuelle Förderung aller SchülerInnen über einen längeren Zeitraum möglich.
Als Lehrkraft empfiehlt es sich sehr, diese "Großformen" im Team – im Jahrgangs-, Klassen- und/oder Fachteam – gemeinsam zu erarbeiten. Dies ist nicht nur effizienter und schafft Synergien, sondern regt ebenso zum fachlichen Austausch an, macht individuelle Kompetenzen der LehrerInnen deutlich, nutzt sie und stärkt den Zusammenhalt im (Fach-)Kollegium.
Diagnoseverfahren und Hinweise zur differenzierten Leistungsbeurteilung
Damit Lehrkräfte sinnvoll binnendifferenziert unterrichten können, müssen sie bei der Vorbereitung des Unterrichts die einzelnen SchülerInnen, deren Vorerfahrungen, Fertigkeiten, Kenntnisse und Vorwissen im Blick haben, das heißt, es bedarf zunächst einer Diagnose der Ausgangslagen. Nur wenn aussagekräftige Informationen über die Leistungsstände der SchülerInnen, ihre Interessen und Fähigkeiten vorliegen, kann ich als Lehrkraft das notwendige Instrumentarium für eine innere Differenzierung auswählen. Gerade BerufsanfängerInnen fühlen sich jedoch oft überfordert, wenn von ihnen bereits detaillierte Diagnosen verlangt werden. In der universitären und schulischen Ausbildung werden zwar Materialien und Methoden für binnendifferenzierten Unterricht berücksichtigt, geeignete Diagnoseinstrumente jedoch weniger. Die Fähigkeit zu diagnostizieren lässt sich schwieriger vermitteln, zumal die angehenden Lehrkräfte in ihrer Ausbildung wenig direkten Kontakt mit den Lernenden haben.
Diagnoseinstrumente
Die zuständige Lehrkraft ist die zentrale Instanz, wenn es darum geht, die Fähigkeiten von SchülerInnen in einem Fach einzuschätzen. Lehrkräfte müssen im Vorfeld einer Unterrichtseinheit überlegen, welche individuellen Begabungen ihre SchülerInnen mitbringen und wo sie noch Unterstützung benötigen.
Das geläufigste Diagnoseinstrument sind schriftliche Lernstandserhebungen wie Tests, Klassenarbeiten oder Klausuren. Mit diesen kann der Leistungsstand der SchülerInnen primär in Hinblick auf die unmittelbar erarbeiteten Inhalte des Unterrichts erhoben werden. Die Inhalte können im Vorfeld geübt werden und zeigen den individuellen Kompetenz- und Wissensstand eine/r SchülerIn, sind jedoch vielfach auf den Nachweis bestimmter kognitiver Fähigkeiten beschränkt.
Seit vielen Jahren nutzen Schulen in den meisten Bundesländern als weiteres – ebenfalls schriftliches – Instrument verbindliche Vergleichsarbeiten in einzelnen Jahrgangsstufen. Im Rahmen des bundesweiten Projekts VERA (VERgleichsArbeiten) werden in den Fächern Mathematik und Deutsch im Jahrgang 3 und zusätzlich in Englisch und Französisch im 8. Jahrgang an zentral festgelegten Terminen die individuellen Leistungsstände ermittelt. Vergleichsarbeiten sind standardisierte und erprobte Instrumente, die nicht die Leistungen der SchülerInnen im Sinne einer zentralen Klassenarbeit bewerten. Sie werden nicht benotet, beziehen sich nicht auf konkrete, zuvor erarbeitete Inhalte und werden nicht im Vorfeld geübt. Sie diagnostizieren den Stand der Kompetenzentwicklung, das heißt, sie zeigen auf, welche Kompetenzen bei den SchülerInnen einer Klasse in einem Fach – unabhängig von konkreten Inhalten – gut entwickelt sind und wo sie noch Unterstützung benötigen. Die Rückmeldung der Ergebnisse erfolgt dabei individuell, aber auch klassen- und schulbezogen. Somit können sowohl die Ergebnisse der Klassen miteinander verglichen als auch die Ergebnisse der Schulen untereinander ausgewertet werden.
Möchte eine Lehrkraft zu Beginn einer Unterrichtseinheit erfahren, was ihre SchülerInnen bereits können und/oder wissen, kann sie mithilfe einer Einstiegsdiagnose die aktuellen Wissensstände abprüfen. Zahlreiche Lehrwerke verfügen in ihren Handreichungen (meist auch als Kopiervorlage) über sofort einsetzbare Einstiegsdiagnosen. Diese können Lehrkräfte direkt nutzen, aber auch den jeweiligen Anforderungen anpassen.
Möchte ich eine differenziertere, nach Möglichkeit auch von den SchülerInnen genutzte Einschätzung über ihren Lernstand und -prozess haben, können Kompetenzraster weiterhelfen. Kompetenzraster veranschaulichen die Kompetenzen in einer Tabellen-Matrix. Innerhalb dieser Matrix sind die unterschiedlichen Stufen der Kompetenzentwicklung als Standards ausformuliert und progressiv, das heißt mit ansteigendem Anforderungsniveau, dargestellt. Das Raster kann von den SchülerInnen und von den Lehrkräften zur Selbst- bzw. Fremdeinschätzung innerhalb des Lernprozesses genutzt werden. Solche Raster lassen sich für einzelne Fächer – online – finden, oft müssen jedoch Lehrkräfte auch selbst tätig werden und eine passgenaue Matrix für ihre SchülerInnen in ihrem Fach erstellen.
Ein noch differenzierteres und aufwendigeres Verfahren ist der individuelle Förderplan. Bei SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist er eine Routinemaßnahme, er kann jedoch auch gewinnbringend für alle SchülerInnen genutzt werden. Er sollte Angaben über die zu erwerbenden Kompetenzen und zu nutzenden Medien (Lehrbuch, Arbeitsblätter, Recherchequellen etc.) detailliert aufführen. In Hinweisspalten können der aktuelle Kompetenzstand, Schwierigkeiten und weitere Übungsoptionen vermerkt werden. Wenn SchülerInnen darüber hinaus die Möglichkeit erhalten, sich selbst Förderpläne zu erstellen, lernen sie, dass sie ProtagonistInnen ihres eigenen Lernprozesses sind, für diesen die Verantwortung zu übernehmen und die eigenen Leistungen zu reflektieren.
Grundsätzlich sollten SchülerInnen regelmäßig im Rahmen eines – schriftlichen und/oder mündlichen – SchülerInnen-Feedbacks die Gelegenheit erhalten, ihre Interessen zu äußern und ihre Leistungen selbst einzuschätzen. Einige Schulen nutzen das Instrument des Lernstands-Gesprächs. Jede Schülerin bzw. jeder Schüler einer Jahrgangsstufe stellt in einer geschützten Umgebung – meist in einem 30-minütigen Gespräch mit Klassenlehrkraft und Erziehungsberechtigten – anhand selbst gewählter Beispiele die eigenen Lernfortschritt über einen bestimmten Zeitraum vor. Sie können dabei Ergebnisse schriftlicher Aufgaben präsentieren oder auch ihre Eindrücke aus dem Unterricht, aus der Projektarbeit, aus Exkursionen mit Bildern, Fotos oder Ähnlichem schildern. Die Kinder und Jugendlichen können selbst entscheiden, wie sie die ihnen zur Verfügung stehende Zeit nutzen. Das Gespräch wird mit einer Lernvereinbarung dokumentiert, in der die Lernziele beispielsweise für das nächste Halbjahr festgehalten und die Unterstützungsbedarfe von den Lehrkräften und Erziehungsberechtigten formuliert werden.
Leistungsbeurteilung und -rückmeldung
Wenn sich der Unterricht an den individuellen Lernvoraussetzungen und -bedürfnissen der SchülerInnen orientiert, so ist es nur folgerichtig, dass die erreichten Lernstände der SchülerInnen ebenso differenziert geprüft und bewertet, das heißt an die jeweiligen Voraussetzungen der SchülerInnen angepasst werden. Wie kann das funktionieren? Wie lassen sich die Lernstände in einer Klasse bzw. einem Jahrgang dann noch miteinander vergleichen?
Da die Regelungen zur Leistungsbeurteilung im Kompetenzbereich der Bundesländer liegen, können die rechtlichen Vorgaben auch mit Blick auf differenzierte Leistungsbeurteilung von Bundesland zu Bundesland variieren. Ferner entscheiden die Schulen, beispielsweise in Berlin, eigenständig nach Vorschlag der Fachkonferenzen und Beschlusslage der Gesamtkonferenzen, ob und inwiefern schriftliche Leistungskontrollen differenziert gestaltet und bewertet werden. Daher möchte ich hier nur allgemeine Hinweise zur differenzierten Beurteilung von Leistungen der SchülerInnen geben und kursorisch auf Instrumente schriftlicher, differenziert angelegter Lernerfolgskontrollen wie Klassenarbeiten, Klausuren, schriftliche Kurzkontrollen eingehen.
Grundlage der Bewertung sind alle von dem Lernenden im Zusammenhang mit dem Unterricht erbrachten Leistungen sind. Die Leistungsbeurteilung beruht auf der regelmäßigen Beobachtung und Überprüfung der Lern-, Leistungs- und Kompetenzentwicklung durch die unterrichtende Lehrkraft. Diese berücksichtigt neben schriftlichen auch die mündlichen und sonstigen Leistungen, die ein Schüler bzw. eine Schülerin im Laufe eines Schuljahres erbracht hat. Der Beurteilung liegen dabei Kriterien zugrunde, die den Kindern und Jugendlichen bekannt sein sollten und die – sofern möglich – auch partizipativ erarbeitet wurden.
Ein wichtiger Aspekt für die Beurteilung der Leistung sollte die individuelle Lernentwicklung eines Kindes oder Jugendlichen sein. Eine individualisierte Leistungsbeurteilung dokumentiert den Entwicklungsstand der Kenntnisse, Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schülerin oder des Schülers. Dies gelingt über sogenannte Berichtszeugnisse besser, da dort mehr Raum für die individualisierte Rückmeldung gegeben wird, als über die doch sehr beschränkten Ziffernzensuren. Rückmeldungen zum Lern- und Leistungsstand eines Schülers oder einer Schülerin müssen verbunden werden mit der Planung der weiteren Lernschritte und zugleich die individuellen Bedürfnisse der Lernenden miteinbeziehen. Folgende Instrumente können im Zusammenhang mit differenzierten Klassenarbeiten genutzt werden:
nach Anforderungsniveau gestufte Klassenarbeiten;
von allen SchülerInnen zu bearbeitende Basisaufgaben mit zusätzlichen Expertenaufgaben, wobei eine mindestens gute Leistung auch erreicht werden kann, wenn nur der Basisteil gelöst wurde;
unterschiedliche Bearbeitungszeiten; dies ist oft Bestandteil des Nachteilsausgleichs bei SchülerInnen mit diagnostizierter Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS);
eine vielfältige Aufgabenkultur, die unterschiedliche Lösungsoptionen zulässt und die Möglichkeit, offene Fragen zu beantworten;
"gekaufte" Joker- oder Hilfskarten, die von den SchülerInnen während der Bearbeitung genutzt werden können, aber einen Punktabzug bedeuten.
Wichtig ist dabei für Lehrkräfte, die differenzierte Klassenarbeiten einsetzen wollen, die Kriterien der Benotung bzw. die Punktvergabe für die individuellen Leistungen mit den SchülerInnen und den Eltern zuvor abzusprechen und diese im Fachbereich zu dokumentieren. Nicht zuletzt die Eltern erleben die Rückmeldungen zu den Arbeiten gelegentlich als intransparent, weil ihnen die Kriterien der Notenvergabe nicht umfassend erläutert wurden.
Individuelle Lernwege, selbstgesteuertes Lernen und individualisierte Rückmeldungen stoßen jedoch dann an Grenzen, wenn es für die SchülerInnen um abschlussrelevante Leistungen geht und Bildungsabschlüsse erreicht werden sollen. Ein Zentralabitur stellt allen Jugendlichen die gleichen Aufgaben, der mittlere Schulabschluss verlangt von den SchülerInnen die Bearbeitung identischer Formate. Von den SchülerInnen werden schließlich umfassende Kompetenzen in den Bereichen Lesen, Schreiben und Rechnen erwartet, wenn sie eine Ausbildung oder ein Studium beginnen wollen. In diesem Zusammenhang haben sich länderübergreifende Vergleichsarbeiten wie PISA oder VERA als sinnvoll erwiesen. Die Vergleichsarbeiten geben eine gruppenbezogene Rückmeldung, zeigen aber auch auf, inwieweit die schulischen Leistungen der jeweiligen SchülerInnen den Anforderungen der nationalen Bildungsstandards entsprechen. Die Kinder und Jugendlichen erhalten somit im Verlauf ihrer schulischen Laufbahn mehrfach, u. a. mit VERA3 und 8, Rückmeldung darüber, welche Stärken und Schwächen sie haben und wo genau sie sich auf ihrem Weg – zu einem Schulabschluss – befinden.
Fazit
Guter Unterricht erkennt die Unterschiedlichkeit der SchülerInnen als Grundphänomen von Schule an und setzt sie positiv ein. Insofern nehmen Schulen, die mit ihrem Unterricht auf eine homogene SchülerInnenschaft abzielen, Kindern die Möglichkeit und das Recht auf freie Entfaltung und selbstbestimmtes Lernen. Aber: Guter Unterricht braucht Raum und Zeit für Lehrkräfte, damit diese bei der Vorbereitung, Planung, Evaluation und Reflektion von Unterrichtsvorhaben der heterogenen Schülerschaft bestmöglich gerecht werden können. Schulen müssen langfristig tragfähige Arbeits- und Kommunikationsstrukturen innerhalb des pädagogischen Personals sowie Kooperationen aller am Schulleben Beteiligten entwickeln.
Ein Unterricht, der durch binnendifferenziert organisierte Lehr- und Lernformate den Lernbedürfnissen und -fähigkeiten der SchülerInnen gerecht zu werden versucht, lenkt den Blick von der Vergleichbarkeit der Leistungen stärker auf die individuelle Lernentwicklung, etwa durch klassenbezogene, aber auch länder- und bundesweite Vergleichsarbeiten. Lehrkräfte beurteilen damit die Leistungen des Schülers bzw. der Schülerin weniger anhand der Ergebnisse der MitschülerInnen – also anhand der sozialen Bezugsnorm –, sondern sie überprüfen und bewerten den Entwicklungsstand der Kenntnisse, Kompetenzen und Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen stärker in Hinblick auf ihre persönliche Entwicklung – wählen also eine individuelle Bezugsnorm. Meine Aufgabe als Lehrkraft ist es dabei, jede Schülerin und jeden Schüler auf diesem schulischen Weg zu unterstützen, zu erklären, ihnen zu helfen und auch Leistungen einzufordern, damit sie die Chance auf einen bestmöglichen Schulerfolg haben.