Mädchen sind heute in der Schule erfolgreicher als Jungen: Sie bekommen häufiger eine Gymnasialempfehlung und machen häufiger das Abitur. Und dennoch verdienen Frauen weiterhin auf dem Arbeitsmarkt weniger als Männer. Werden Jungen in der Schule benachteiligt? Oder werden Frauen auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert? Antworten auf diese und viele andere Fragen gaben uns die Psychologie-Professorin Bettina Hannover und ihre Mitarbeiterin Karen Ollrogge in einem schriftlichen Interview.
Lange Zeit waren es die Mädchen, die in ihrem Bildungserfolg hinter den Jungen zurückblieben. Warum haben sich Bildungsungleichheiten zwischen den Geschlechtern in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Zunächst einmal muss man sich klar machen, dass Abitur und Hochschulzugang in Deutschland bis 1908 gänzlich dem männlichen Geschlecht vorbehalten waren – Mädchen und jungen Frauen war der Zugang zur höheren Bildung rechtlich verwehrt. Noch bis in die späten 1960er hinein wurden Mädchen und Jungen sowohl in der BRD als auch in der DDR teilweise an unterschiedlichen Schulen unterrichtet, die verschiedenen Lehrplänen folgten: während den Söhnen bildungsbewusster Eltern wie selbstverständlich die akademischen Kompetenzen für ein späteres Hochschulstudium vermittelt wurden, erhielten deren Töchter Unterricht in Handarbeiten, Religion und Hauswirtschaft. Sie sollten gute Ehefrauen werden und wissen, wie man einen Haushalt führt, ihre gleichrangige Partizipation am Arbeitsmarkt war selbst – oder gerade – in gut situierten Familien keineswegs die Norm.
In den 1950er- und 60er Jahren kam in Deutschland jedoch eine starke "Bildungsexpansion" in Gang, das Bildungsniveau der nachwachsenden Generation stieg kontinuierlich an. Ursache dieser Entwicklung war einerseits ein wachsendes Bildungsbewusstsein in der Bevölkerung, andererseits aber auch ein Interner Link: Wandel der Bildungspolitik: Da die Bedeutung von Bildung für die Wirtschaft des Landes nun deutlicher denn je hervortrat und sich ein größerer Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften abzeichnete, sollten gezielt mehr Menschen für die höherer Bildung gewonnen werden. Zudem sollten soziale Benachteiligungen abgebaut werden, aufgrund derer bestimmte Bevölkerungsgruppen – zu denen etwa Kinder aus der Arbeiterschicht oder vom Lande, aber eben auch Mädchen zählten – eine geringere Chance auf Beteiligung an höherer Bildung hatten. Dazu wurden das Bildungswesen ausgebaut: mehr Gymnasien und Realschulen entstanden, Gesamtschulen wurden geschaffen, die Kapazitäten der Universitäten erweitert und diese um Fachhochulen und Berufsakademien ergänzt.
Während insbesondere schichtspezifische Bildungsungleichheiten trotzdem bestehen blieben, glich sich die Bildungsbeteiligung von Mädchen aufgrund der Bildungsexpansion nach und nach an die der Jungen an. Machten 1965 noch fast doppelt so viele Jungen wie Mädchen das Abitur, zogen sie 1975 bereits mit den Jungen gleich und erlangen heute sogar deutlich häufiger die allgemeine Hochschulreife: Im Jahr 2018 waren es 154.455 Schülerinnen gegenüber nur 128.094 Schülern (Statistisches Bundesamt, 2019). Entsprechend besuchen Mädchen heute deutlich häufiger als Jungen einen gymnasialen Bildungsgang: Im Schuljahr 2017/2018 lernten beispielsweise 38.7% aller Neuntklässlerinnen an einem Gymnasium, jedoch nur 32.2% aller Neuntklässler. Umgekehrt besuchten 13.2% aller Neuntklässler eine Hauptschule, jedoch nur 10.4% aller Neuntklässlerinnen (Schipolowski et al., 2019, S. 239).
Gehört die Bildungsbenachteiligung von Mädchen also der Vergangenheit an?
Die Aufhebung möglicher Benachteiligungen von Mädchen in der Bildung war zwischen den späten 1960er und den späten 1980er Jahren ein wichtiges Ziel der Frauenbewegung in Deutschland. Tatsächlich hat sich angesichts der aktuellen Zahlen zum Bildungserfolg von Mädchen und Jungen die Debatte verschoben. Wenn wir heute über Geschlechterungleichheiten nachdenken, sind auch mögliche Benachteiligungen von Jungen in der Schule ein Thema (ein Überblick dazu bei Hannover & Kessels, 2011).
Es ist jedoch keineswegs so, dass Mädchen in Sachen Bildung heute durchweg die Nase vorn haben. Bis in die Mitte der 1990er Jahre hinein ließ sich der Bildungserfolg von Mädchen und Jungen einzig auf Basis der von ihnen erworbenen Schulnoten und Abschlüsse bemessen – hier sind Mädchen in der Tat klar im Vorteil. Durch internationale Schulleistungsstudien wie Interner Link: PISA und nationale Erhebungen wie die des Instituts für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) wissen wir inzwischen darüber hinausgehend, welche Kompetenzen Mädchen und Jungen tatsächlich in der Schule erwerben, d.h. welches Wissen und welche Fähigkeiten, akademische und alltagsbezogene Probleme zu lösen, sie in einer bestimmten Klassenstufe haben. Damit können wir differenzierter beschreiben, wie Geschlechterunterschiede in der Bildung konkret aussehen: nämlich einerseits in Bezug auf Kompetenzen und andererseits in Bezug auf Noten und auf diesen basierenden Abschlüssen, in die neben den Kompetenzen auch Bewertungen des Sozialverhaltens oder Einschätzungen des Potentials des Kindes oder Jugendlichen durch die Lehrkraft mit eingehen.
Studien zur Kompetenzmessung zeigen mit hoher Übereinstimmung, dass Mädchen den Jungen in ihrer Lesekompetenz überlegen sind. So ergab z.B. die PISA-Studie aus dem Jahr 2018, dass in allen teilnehmenden 79 Staaten (davon 37 OECD-Länder) Mädchen signifikant höhere Testergebnisse im Lesen erzielten als Jungen. Dabei offenbarte eine tiefergehende Analyse für Deutschland, dass die Gruppe der leseschwachen Schülerinnen (das sind diejenigen, die im PISA-Test die Kompetenzstufe II nicht erreichen) mit 16 Prozent deutlich kleiner war als die der leseschwachen Schüler, die 24 Prozent der getesteten 15-Jährigen umfasste. Umgekehrt waren die Mädchen unter den lesestarken Jugendlichen (das sind jene auf den Kompetenzstufen V und VI) mit 13 Prozent stärker vertreten als die Jungen mit 9 Prozent (Weis et al., 2019, S. 71). Der letzte IQB-Bildungstrend (2015) zu den sprachlichen Fächern am Ende der 9. Jahrgangsstufe zeigte, dass die Mädchen in allen gemessenen Teilkompetenzen in den Fächern Deutsch und Englisch den Jungen überlegen waren: nämlich im Lesen, Zuhören und in Orthographie im Fach Deutsch und im Leseverstehen und Hörverstehen im Fach Englisch (Böhme et al., 2016, S. 387).
Für den Bereich der Mathematik ist die internationale Befundlage weniger einheitlich. Hier zeigte sich in PISA 2018 für 13 der 37 OECD-Länder kein Geschlechtsunterschied und für drei Länder (Finnland, Norwegen, Island) eine Überlegenheit der Mädchen. In den übrigen 21 OECD-Ländern erzielten die Jungen signifikant höhere Testergebnisse, so auch in Deutschland. Dabei zeigt eine differenziertere Analyse, dass der beobachtete Geschlechtsunterschied in Deutschland darauf zurückgeht, dass Jungen häufiger der Gruppe der kompetenzstarken Jugendlichen (Kompetenzstufen V und VI) angehören als Mädchen (15 versus 11 Prozent der Getesteten). In der Gruppe der mathematikschwachen Jugendlichen (unter Kompetenzstufe II) fanden sich dagegen keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern (Reinhold et al., 2019, S. 204).
Gemischt ist die Bilanz auch in den Naturwissenschaften. Hier erzielten die Mädchen in PISA 2018 in zwölf OECD-Ländern signifikant höhere Testwerte als die Jungen, in 23 Ländern (darunter Deutschland) zeigten sich keine Geschlechtsunterschiede und in zwei Ländern hatten die Jungen signifikant höhere Testwerte (Mexiko, Kolumbien). Dabei zeigt eine Analyse der Verteilung der Jugendlichen auf die Kompetenzstufen, dass Jungen in fast allen Ländern sowohl in der Gruppe der leistungsstärksten als auch in der Gruppe der leistungsschwächsten Jugendlichen stärker vertreten waren als die Mädchen, deren Testleistungen folglich häufiger im soliden mittleren Kompetenzbereich lagen (Schiepe-Tiska et al., 2019, S. 229f).
Was sind die wichtigsten Ursachen für die bestehenden Geschlechterungleichheiten in der Bildung? Wodurch kommen sie zustande?
Vergleicht man die Geschlechtsunterschiede, die sich in den fachlichen Kompetenzen zeigen, mit den eingangs angesprochenen Unterschieden im Erwerb von Schulabschlüssen, so fällt Folgendes auf: Mädchen sind den Jungen zwar in der Lesekompetenz überlegen, jedoch keineswegs in sämtlichen fachlichen Domänen – wie die Befunde zur Mathematik und den Naturwissenschaften zeigen. Vor diesem Hintergrund erscheint es auf den ersten Blick überraschend, dass Mädchen in gymnasialen Bildungsgängen generell stärker vertreten sind. Der Grund dafür lässt sich jedoch leicht ausmachen: Mädchen erhalten über alle Fächer hinweg im Schnitt bessere Noten (z.B. Voyer & Voyer, 2014). Daraus folgt, dass Mädchen eher eine Empfehlung bekommen, ein Gymnasium (oder in anderen Ländern eine entsprechende Schule) zu besuchen und damit wahrscheinlicher als Jungen von einer kognitiv anregenden schulischen Lernumgebung profitieren, was wiederum günstige Auswirkungen auf ihren weiteren Bildungsverlauf hat. So zeigen Untersuchungen zur Kompetenzentwicklung, dass Lernende mit gleichen kognitiven Voraussetzungen am Gymnasium im Allgemeinen größere Lernfortschritte erzielen als an weniger anspruchsvollen Schulformen – die Forschung spricht in diesem Zusammenhang von Schulformen als "differenziellen Entwicklungsmilieus" (z. B. Baumert u.a. 2009).
Gründe für die besseren Benotungen von Mädchen liegen in ihrem Lern- und Sozialverhalten. So bescheinigen Lehrkräfte Schülerinnen im Vergleich zu Schülern eine höhere Kompetenz zum selbstgesteuerten Lernen (Kuhl & Hannover, 2012), eine höhere Selbstdisziplin (Duckworth & Seligman, 2006) und ein positiveres Arbeitsverhalten (Han et al., 2017), womit Geschlechterunterschiede in den Noten erklärt werden können.
Es ist immer wieder auch die Vermutung geäußert worden, dass das schlechtere Abschneiden der Jungen etwas damit zu habe, dass es deutlich mehr weibliche Lehrkräfte gibt als männliche. Sie würden die Jungen schlechter bewerten als die Mädchen. Dafür gibt es jedoch keine empirische Evidenz (Helbig, 2012; Neugebauer, Helbig & Landmann, 2011). Studien, in denen die Motivation oder Kompetenzentwicklung von Mädchen und Jungen in Abhängigkeit des Geschlechts ihrer Lehrkraft verglichen wurden, fanden eher Hinweise darauf, dass Mädchen und Jungen von einer weiblichen Lehrkraft stärker profitieren als von einer männlichen (Überblick: Hannover, 2011).
Schwieriger als die Frage nach den Ursachen der besseren Benotung von Schülerinnen ist die Frage danach zu beantworten, warum Mädchen und Jungen sich in ihren fachlichen Kompetenzen unterscheiden. Vieles deutet darauf hin, dass dabei sogenannte Geschlechtsstereotype eine bedeutende Rolle spielen. Dabei handelt es sich um gesellschaftlich verbreitete Annahmen darüber, wie männliche und weibliche Personen angeblich sind oder sein sollten. Schon lange bevor sie in die Schule kommen, nämlich bereits ab dem Alter von zwei Jahren, erwerben Kinder solche Stereotype. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass sie schon im Kleinkindalter Fragen danach beantworten können, welches Spielzeug (z.B. Autos, Puppen) zu Mädchen oder zu Jungen "passt". Kinder und Jugendliche wollen Geschlechtsstereotypen entsprechen, und zwar selbst dann, wenn ihre Eltern sie ermutigen, auch Interessen oder Aktivitäten nachzugehen, die eher ungewöhnlich für das eigene Geschlecht sind. Gründe dafür scheinen darin zu liegen, dass Kinder zunächst einmal ein Verständnis davon erwerben müssen, was Geschlecht als soziale Kategorie bedeutet, bevor sie auch einmal davon abweichen können. Zudem gehen Abweichungen von Geschlechtsstereotypen oft mit sozialen Sanktionen – insbesondere auch durch Gleichaltrige – einher (Überblick: Hannover et al., 2014): Verhalten sich Heranwachsende anders als ihre Geschlechtszughörigkeit erwarten lässt, müssen sie also z. B. damit rechnen, belächelt oder gar ausgegrenzt zu werden.
Aber wie genau können denn nun Geschlechtsstereotype dazu führen, dass die Leistungen von Mädchen und Jungen je nach Fach unterschiedlich gut sind?
Aufgrund von Geschlechtsstereotypen nutzen Mädchen und Jungen von klein auf unterschiedliche Lerngelegenheiten. Beispielsweise praktizieren Jungen (und Männer) lebenslang mehr Sport als Mädchen (und Frauen) oder verbringen Mädchen (und Frauen) mehr Zeit im sprachlichen Austausch mit anderen als Jungen (und Männer). Dies führt dazu, dass unterschiedliche Vorstellungen von den eigenen Fähigkeiten entwickelt werden. So halten sich beispielsweise Jungen für sportlich kompetenter als Mädchen, die sich wiederum für sprachlich kompetenter halten als Jungen. Gerade auch Eltern kommt als den engsten Bezugspersonen der Heranwachsenden in diesem Zusammenhang große Bedeutung zu. So zeigen Studien, dass Eltern ihren Söhnen höhere Fähigkeiten in der Mathematik zuschreiben als ihren Töchtern, die sie wiederum im sprachlichen Bereich für kompetenter halten. Die Folge sind entsprechende Selbstwahrnehmungen auf Seiten der Kinder, die sich in der jeweiligen fachlichen Domäne dann auch unterschiedlich stark engagieren. Denn schätzt man die eigene Kompetenz als hoch ein, so fördert dies die Motivation und Anstrengungsbereitschaft und führt in der Konsequenz auch zu besseren Kompetenzen im jeweiligen Bereich (z.B. Simpkins et al., 2015) – man kann hier von einer Art selbsterfüllender Prophezeiung sprechen.
Einen weiteren Beleg für die Wirkung von Geschlechtsstereotypen liefert die Forschung über sogenannte Stereotypenbedrohung. Sie zeigt: Menschen, die zu einer Gruppe gehören, über die ein negatives leistungsbezogenes Stereotyp existiert, sind in Leistungssituationen mental durch die Vorstellung belastet, das Stereotyp selbst bestätigen zu können (nämlich durch geringere Leistungen als sie eigentlich zeigen könnten; Steele, 1997). Viele Studien fanden, dass Mädchen nur unter Stereotypenbedrohung in mathematischen Kompetenztests schlechter abschnitten als ihre männlichen Peers, d.h. wenn zuvor das Stereotyp über die angeblich geringe Kompetenz des weiblichen Geschlechts in Mathematik aktiviert worden war (zusammenfassend Doyle & Voyer, 2016). Umgekehrt zeigt eine Studie der PsychologInnen Martin Latsch und Bettina Hannover (2014), dass Jungen durch das Stereotyp vom männlichen Schulversager in ihren Leistungen in weiblich konnotierten Fachdomänen (hier war es Deutsch) beeinträchtigt werden können.
Ein indirekter Beleg dafür, dass Geschlechtsstereotype Unterschiede im Bildungserfolg von Mädchen und Jungen begünstigen, stammt schließlich aus einer Studie der amerikanischen Psychologin Else-Quest und Kolleginnen (2010). Auf Grundlage von Daten der TIMSS- und PISA-Studien (aus dem Jahr 2003) aus insgesamt 69 Ländern konnten sie zeigen, dass das Ausmaß der Unterschiede in den Mathematikleistungen zwischen Mädchen und Jungen davon abhing, wie es um die Geschlechtergerechtigkeit in einer Gesellschaft insgesamt bestellt war: Je ausgeglichener die Bildungsbeteiligung zwischen den Geschlechtern und je höher der Anteil von Frauen in Forschungspositionen und im Parlament, desto kleiner waren die Geschlechtsunterschiede in der Mathematikleistung im jeweiligen Land.
Wenn Mädchen die Schule mit besseren Noten und Abschlüssen verlassen als Jungen, warum sprechen wir dann noch von Benachteiligungen von Frauen in der Arbeitswelt? Treten sie nicht mit besseren Ausgangschancen in den Arbeitsmarkt ein als ihre männlichen Peers?
Obwohl Mädchen und junge Frauen im Bildungssystem besser abschneiden als ihre männlichen Peers, verdienen weibliche Arbeitnehmer immer noch weniger Geld als männliche (z.B. Bishu & Alkadry, 2017). Dies liegt unter anderem daran, dass Frauen und Männer sich – aufgrund des Einflusses von Geschlechtsstereotypen – überwiegend für Berufe entscheiden, die zum eigenen Geschlecht "passen" und in vielen "weiblichen" Berufen (z. B. Pflege, Erziehung, Lehramt, Dienstleistung) weniger bezahlt wird als in typisch "männlichen" (z.B. Technik, Management, Wissenschaft, Handwerk). Geringeres Einkommen und berufliches Fortkommen sind aber auch dadurch bedingt, dass Frauen für eigene Kinder ihre Erwerbstätigkeit vorübergehend oder dauerhaft reduzieren. So gehen aktuell lediglich 20 % der Frauen, deren jüngstes Kind das sechste Lebensjahr noch nicht erreicht hat, einer Vollzeiterwerbstätigkeit nach, während der entsprechende Anteil bei den Männern 87 % beträgt (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020, S. 36f). Ein weiterer Grund dafür, warum der höhere Bildungserfolg von Mädchen und jungen Frauen bisher nicht zu einer Gleichstellung in der Arbeitswelt geführt hat, ist, dass Frauen häufiger als Männer in Jobs tätig sind, für die sie formal überqualifiziert sind (Bönke et al., 2019). So suchen arbeitslose Akademikerinnen häufiger nach einer Tätigkeit unterhalb ihres Qualifikationsniveaus als arbeitslose Akademiker, wohingegend arbeitslose Männer ohne Berufsabschluss eher als arbeitslose Frauen ohne Berufsabschluss nach einer Tätigkeit überhalb ihrem Qualifikationsniveaus suchen (Malin et al., 2019).
Auch wenn sich der höhere Bildungserfolg der Frauen nicht auf dem Arbeitsmarkt widerspiegelt, so zeigen sich jedoch zumindest Tendenzen dahingehend, dass der Unterschied zwischen Männern und Frauen geringer wird: so haben sich beispielsweise in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Erwerbstätigkeitsquoten von Männern und Frauen langsam angenähert und auch der Anteil von Frauen in den höchsten Entscheidungsgremien der größten börsennotierten Unternehmen der EU Interner Link: stieg in den Jahren von 2010 bis 2016 von 12 Prozent auf 24 Prozent.
Was sind aus Sicht der Forschung die vielversprechendsten Ansatzpunkte, um Bildungsungleichheiten zwischen den Geschlechtern abzubauen?
Eine Möglichkeit, dem geringeren Bildungserfolg von Jungen entgegenzuwirken, bestünde in der gezielten Förderung selbstgesteuerten Lernens. Das hieße, die Jungen noch gezielter darin zu unterstützen, sich schulische Ziele zu setzen, die Annäherung an diese Ziele kontinuierlich zu überwachen und das eigene Verhalten so zu steuern, dass sie erreicht werden können. Dazu gehört z.B. die Fähigkeit, kurzfristige Bedürfnisbefriedigung hintanzustellen oder eine als unangenehm erlebte Tätigkeit fortzusetzen, um ein übergeordnetes Ziel zu erreichen (z.B. Lernen für eine gute Klausurnote, statt Freizeit zu genießen). Es gibt Hinweise darauf, dass temperamentsbedingte Unterschiede mit dafür verantwortlich sind (Else-Quest et al., 2006), dass Jungen später und weniger wahrscheinlich selbstgesteuert lernen als Mädchen (Duckworth & Seligman, 2006). Maßgeblich ist aber auch hier der Einfluss von Geschlechtsstereotypen. So zeigen Jungen häufiger ein weniger gewissenhaftes Arbeitsverhalten, weil sie sich am Idealbild des "Effortless Achievers" ausrichten, das darin besteht, in Schule oder Beruf erfolgreich zu sein, ohne sich dafür (sichtbar) anstrengen zu müssen – während es für Mädchen sozial weniger nachteilig ist, wenn sie sich fleißig und gewissenhaft verhalten (Heyder & Kessels, 2017). Lehrkräfte und Eltern sollten daher insbesondere Jungen darin unterstützen, dass sie zu autonomen, selbstgesteuerten Lernern werden – z.B. indem sie Zwischenziele verdeutlichen, regelmäßig Feedback zum Lernprozess geben und dabei darauf achten, dass sie motivationale Faktoren (Fleiß, Anstrengungsbereitschaft) statt Begabung als Ursache für gute Leistungen hervorheben (sog. anstrengungsbezogene Attributionen). Auch sollten Jungen darin unterstützt werden, die eigenen Fähigkeiten realistischer einzuschätzen. Wenn beispielsweise der letzte IQB-Bildungstrend (Stanat et al., 2019) zeigt, dass Jungen ihre Kompetenzen in den Naturwissenschaften für höher halten als Mädchen es tun, obwohl es de facto keine Kompetenzunterschiede gibt, so verweist dies auf unrealistisch positive Selbsteinschätzungen der Jungen, die gewissenhaftem Lernen oder Vorbereitungen auf Prüfungen u.ä. entgegenstehen können.
Das Grundproblem scheinen also Geschlechtsstereotype zu sein. Können Pädagoginnen und Pädagogen etwas tun, um ihnen entgegenzuwirken?
Im vorschulischen oder schulischen Bereich Tätige sind oft der Meinung, dass die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung von Mädchen und Jungen quasi automatisch dazu führt, dass Geschlechtsstereotype nicht mehr wirken – und dass dennoch bestehende Unterschiede schlicht Ausdruck angeborener Fähigkeitsunterschiede oder eben auch des freien Willens der Kinder und Jugendlichen seien. Über 50 Jahre koedukativer schulischer Bildung (d. h. das Unterrichten von Jungen und Mädchen im gemeinsamen Klassenverband) zeigen jedoch, dass Geschlechtsunterschiede sich zwar teilweise in ihrer Ausprägung geändert haben, sie aber nach wie vor bestehen und Mädchen und Jungen davon abhalten, ihr individuelles Potential voll zur Entfaltung zu bringen. Geschlechtsstereotype führen nicht nur zur frühen Ausprägung unterschiedlicher Aktivitäten, Präferenzen, Selbsteinschätzungen und Kompetenzen bei Mädchen und Jungen. Diese sich früh herausbildenden Unterschiede kumulieren mit der Zeit und wirken so potenziell über den gesamten weiteren Bildungs- und Lebensverlauf fort.
Voraussetzung dafür, dass pädagogisch Tätige dem Einfluss von Geschlechtsstereotypen in der Bildung entgegenwirken können, ist, dass sie sich Unterschieden etwa in der Lernmotivation, der Selbsteinschätzungen und Kompetenzen von Jungen und Mädchen bewusst sind und ihre Ursachen kennen. Zur Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit können sie durch ihr eigenes pädagogisches und unterrichtliches Handeln in dem Maße beitragen, wie sie individuelle Interessen und Kompetenzen von Mädchen und Jungen erkennen und insbesondere dort fördern, wo diese mit Geschlechtsstereotypen inkonsistent sind. Wichtig ist auch, eigene Erwartungen und Einstellungen daraufhin zu überprüfen, ob sie von Geschlechtsstereotypen beeinflusst sind. Denn jeder Mensch erwirbt Stereotype im Laufe seiner Sozialisation und diese werden automatisch (d.h. ohne unser aktives Zutun oder Wollen) aktiviert und wirksam. Aber jeder Mensch kann die Motivation und die Kompetenz entwickeln zu erkennen, wann das eigene Denken, Fühlen und Handeln von einem Stereotyp beeinflusst ist – und diesem Einfluss dann gezielt entgegenwirken (Forscher & Devine, 2014).
Prof. Dr. Bettina Hannover, geb. 1959 in Bremen, ist Diplom-Psychologin und Leiterin des Arbeitsbereichs "Schul- und Unterrichtsforschung" am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Frage, wie das Bild, das Menschen von sich selbst sie in ihrem Denken, Tun und Handeln beeinflusst. Eine angewandte Forschungsfrage ist dabei, wie das Selbst mit der Entwicklung von Geschlechtsunterschieden in Interessen und Kompetenzen zusammenhängt.
Karen Ollrogge
Karen Ollrogge, geb. 1997 in Berlin, ist Psychologin (B.Sc.) und Mitarbeiterin am Arbeitsbereich "Schul- und Unterrichtsforschung" am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin. Ihr Forschungsinteresse gilt der Identifikation der Ursachen und Auswirkungen systematischer Benachteiligung von diskriminierten Bevölkerungsgruppen sowie der Konzeption und Evaluation möglicher Interventionsansätze.
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