Einleitung
In marktwirtschaftlich-liberalen Gesellschaften gilt das Versprechen, dass jeder Mensch aus eigener Kraft, mit Geschick, Fleiß und Talent seines Glückes Schmied werden kann. Die sogenannte Meritokratie – eine Gesellschaftsordnung, die auf dem Leistungsprinzip aufbaut – beruht auf zwei Voraussetzungen: Erstens soll der Status und der Erfolg jeder Person durch ihre eigenen Leistungen bestimmt werden, nicht aber durch ihre soziale Herkunft oder vererbte Privilegien. Zweitens sollen alle Personen – nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität – gleiche Chancen erhalten, ihre Fähigkeiten und Potenziale zu entwickeln. Auch wenn dieses Ideal bisher in keinem Land der Welt verwirklicht ist, stiftet es dennoch Legitimation für die Statusunterschiede in unserer Gesellschaft ("soziale Ungleichheiten"), solange erkennbar ist, dass sich die Gesellschaft dem Ideal annähert beziehungsweise sich erkennbar darum bemüht. Allerdings zeigen international vergleichende Studien, dass die Kluft zwischen Ideal und Wirklichkeit gerade in Deutschland besonders groß ist und sich sogar noch vergrößert. "Jeder ist seines Glückes Schmied" steht hierzulande in einem beharrlichen Spannungsverhältnis zu: "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm."
InfoboxMit welchen Ansätzen wird die anhaltende soziale Ungleichheit erklärt?
In den Sozialwissenschaften gibt es im Wesentlichen drei Bereiche, die als Ursachen für dauerhafte soziale Ungleichheit untersucht werden:
Zum einen nimmt man an, dass die Familie und das soziale Umfeld Kindern und Jugendlichen je nach sozialer Herkunft ungleiche Startbedingungen und Unterstützungen bieten, weshalb die Potenziale der Kinder nicht hinreichend ausgeschöpft werden. Eine weitere Benachteiligung können Kinder und Jugendliche im Bildungssystem insbesondere an den Übergängen zu weiterführenden Bildungseinrichtungen erfahren, wenn beispielsweise Schulen sie nicht genügend fördern, um ungleiche Startchancen auszugleichen, oder Lehrkräfte nicht leistungsgerechte Übergangsempfehlungen geben. Drittens trage auch das individuelle Entscheidungsverhalten der Kinder und ihrer Eltern zu sozialer Ungleichheit bei, wenn sie höhere Bildungsverläufe und Berufspositionen gar nicht erst anstreben, also geringere Bildungserwartungen haben oder sich höhere Ziele nicht zutrauen.
Wie die Forschung zeigt, hat die soziale Herkunft eines Menschen hierzulande auch langfristige Auswirkungen über mehrere Phasen in seinem Leben. Diese Folgen lassen sich auch auf allen Ebenen des Bildungswesens beobachten: Bereits in der Grundschule, aber insbesondere beim Übergang zu den weiterführenden Schulen, sind Kinder aus Arbeiter- und Unterschichtfamilien benachteiligt. Betrachtet man nur noch diejenigen Kinder, die es auf ein Gymnasium schaffen, stellt man fest, dass Kinder aus unteren sozialen Schichten seltener als Kinder aus mittleren und höheren sozialen Schichten das Abitur absolvieren. Die wenigen Jugendlichen aus unteren sozialen Schichten, die das Abitur schaffen, gehen deutlich häufiger nicht zur Hochschule – und ganz besonders selten an eine Universität, sondern eher auf eine Fachhochschule. Auch die Wahl eines Studienfachs, die Häufigkeit von Studienabbrüchen sowie der Übergang von der Hochschule in den Arbeitsmarkt, das Einkommen und die Karriereverläufe hängen noch immer messbar mit der sozialen Herkunft zusammen (vgl. Hartmann 2002; El-Mafaalani 2012). Junge Menschen aus benachteiligten Schichten haben selbst dann noch, wenn sie ein Studium erfolgreich abschließen, geringere Karrierechancen als ihre Kommilitonen, die in privilegierten Verhältnissen aufgewachsen sind. Dies gilt für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in vergleichbarer Weise. Deutlich wird damit, dass beruflicher Erfolg und sozialer Aufstieg nicht allein vom erreichten Bildungsniveau abhängen und die Bedingungen für soziale Ungleichheit somit nicht nur im Bildungswesen selbst zu finden sind.
Offenbar wirken hier "soziale Filter", also gesellschaftliche Strukturen, die einen Aufstieg erschweren oder sogar verhindern. Wenn man die Lebensgeschichten von Menschen untersucht, denen der Aufstieg trotzdem gelungen ist, lässt sich sowohl etwas über die Beschaffenheit der Barrieren zwischen den sozialen Schichten erfahren als auch darüber, wie sie überwunden werden können. Lebenswege von Menschen in Spitzenpositionen (Richter, Professoren, Manager, Politiker, Künstler etc.), deren Eltern nur über ein niedriges Bildungsniveau und geringes Einkommen – einen geringen Sozialstatus – verfügen, weisen erstaunlich viele Gemeinsamkeiten auf, und zwar unabhängig davon, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder nicht und unabhängig von der Branche, in der sie heute tätig sind. Die Bedingungen ihres Aufwachsens und die Art und Weise, wie sie schließlich die sozialen Barrieren überwunden haben, ähneln sich stark. Genau dies haben wir im Rahmen unserer Studie "BildungsaufsteigerInnen aus benachteiligten Milieus" (2012) untersucht. Wesentliche Ergebnisse dieser Studie werden in den folgenden Abschnitten vorgestellt.
InfoboxWie wurden die Aufstiegsprozesse untersucht? Zum Vorgehen der Studie
Insgesamt wurden für die Studie "BildungsaufsteigerInnen aus benachteiligten Milieus" (2012) und die Folgeuntersuchung "Vom Arbeiterkind zum Akademiker" (2014) Interviews mit 40 Aufsteigerinnen und Aufsteigern geführt. Ein Aufstieg wurde sehr streng definiert:
Die Eltern verfügen über keine oder einfache Schulabschlüsse und mindestens ein Kind hat über einen Hochschulabschluss eine berufliche Spitzenposition erlangt. In den Interviews wurden die Aufsteigerinnen und Aufsteiger gebeten, ihr gesamtes Leben (von der frühen Kindheit bis zum heutigen Tage) zu schildern, weshalb die Interviews durchschnittlich etwa 2 Stunden gedauert haben. Um ihre Biografien vergleichen zu können, wurden auch Interviews mit Personen in Spitzenpositionen geführt, die aus privilegierten Familien stammen, sowie mit Personen aus benachteiligten Familien, die nicht aufgestiegen sind. Durch dieses Vorgehen können Erfahrungen, die direkt mit einem Bildungsaufstieg zusammenhängen, herausgearbeitet werden. Eine solche qualitativ vorgehende Studie mit einer begrenzten Anzahl von befragten Personen und einem vergleichsweise offenen Interviewformat ist nicht im statistischen Sinne repräsentativ, mit ihr lassen sich also keine quantifizierbaren Aussagen über alle Aufsteigenden in Deutschland treffen. In Ergänzung zu groß angelegten repräsentativen Untersuchungen, die weitgehend berücksichtigt wurden, ermöglicht die viel offenere Herangehensweise aber, die jeweilige Frage möglichst genau zu verfolgen und ein besonders tief gehendes Verständnis für die Herausforderungen des Einzelnen im sozialen Aufstiegsprozess zu erreichen.
Wie Wahrnehmung, Denken und Handeln von den Bedingungen des Aufwachsens geprägt werden
In prekären Lebensverhältnissen aufzuwachsen bedeutet zugespitzt, dauerhaft mit vielfältigen Knappheiten umgehen zu müssen, sowohl in Bezug auf materielle als auch immaterielle Ressourcen und Bedürfnisse: Mangel an Geld und Besitz, aber womöglich auch an sozialen Beziehungen, Fürsorge, Handlungsoptionen, Entwicklungsimpulsen und sozialer Anerkennung stellen die Betroffenen tagtäglich vor Herausforderungen, die sie oft nur situativ, also kurzfristig bewältigen können. Dabei müssen sie mit den wenigen vorhandenen Ressourcen möglichst viele Bedürfnisse befriedigen. Das kann nur gelingen, wenn sie abwägen, ob eine Handlung unmittelbar nutzenstiftend beziehungsweise auch notwendig ist. Kurzfristigkeit und Nutzenorientierung sind typische Merkmale dieses Handlungsmusters, das als Management von extremer Knappheit (El-Mafaalani 2014) oder – mit dem Soziologen Pierre Bourdieu (1987) gesprochen – als Habitus der Notwendigkeit bezeichnet werden kann.
InfoboxWas bedeutet "Habitus"?
Der Begriff "Habitus" beschreibt eine dauerhafte verinnerlichte Grundhaltung, die die Art und Weise prägt, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen, wie sie fühlen, denken und handeln.
Diese Grundhaltung wird bereits sehr früh im Leben im jeweiligen sozialen Umfeld eines Menschen – der sozialen Schicht beziehungsweise des Milieus – ausgebildet und hilft ihm, sich darin zu orientieren. Für den Träger, aber auch für sein Umfeld, wirkt diese Grundhaltung natürlich, wie angeboren, das Wesen dieses Menschen charakterisierend und betrifft nicht nur einzelne Verhaltensweisen, sondern ist als ganzheitliches Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmuster zu verstehen. Mit dem Habitus-Begriff werden also jenseits ihrer individuellen Besonderheiten vor allem die Gemeinsamkeiten von Menschen, die in einem ähnlichen sozialen Kontext aufwachsen und leben, herausgestellt. Denn sie teilen gemeinsame Erfahrungen und handeln nach ähnlichen sozialen Logiken. Man kann daher auch von schichtspezifischen Milieus, Kulturen oder auch Subkulturen sprechen. In ihnen funktioniert der Habitus "reibungslos", denn alle denken auf eine ähnliche Weise und verstehen sich damit spielend. Mögliche Handlungssituationen sind allen bekannt und Routinen lassen jede Handlung "natürlich" erscheinen. Demgegenüber verursachen soziale Kontexte mit großer sozialer Distanz zum Herkunftsmilieu Unsicherheit, Unwohlsein und gar Vermeidungshan-deln. Hier fühlt man sich "fehl am Platz" oder hat das Gefühl, "das ist nichts für mich/uns", weil Intuition und Automatismen für das richtige Verhalten fehlen.
Demgegenüber begünstigt das Aufwachsen in privilegierten Verhältnissen ein entgegengesetztes Handlungsmuster: das Management des Überflusses (El-Mafaalani 2014) und damit den Habitus der Distinktion (Bourdieu 1987). Dieses Handlungsmuster ist verbunden mit Langzeitorientierung, Abstraktionsfähigkeit und einem Denken in Alternativen. Da keine kurzfristigen Probleme zu bewältigen sind, muss auch nicht jede Entscheidung auf ihren unmittelbaren Nutzen hin geprüft werden. Vielmehr üben diese Kinder tagtäglich ein, sich aus einer Fülle an Alternativen zu entscheiden und dabei auch ihre (langfristigen) persönlichen Ziele nicht aus dem Blick zu verlieren.
Solche typischen Wahrnehmungs- und Handlungsweisen werden auch in anderen sozialen Kontexten, etwa im Bildungswesen, wirksam und können sich dort als hinderlich oder förderlich erweisen – je nachdem, wie gut sie zu den dort erwarteten Wahrnehmungs- und Verhaltensmustern passen. Ein sozialer Aufstieg, wie ihn das meritokratische Ideal unserer Gesellschaft verspricht, ist daher eher unwahrscheinlich oder wird von Problemstellungen begleitet, die mit der Leistung einer Person wenig zu tun haben. Denn ein Aufstieg ist zumeist mit einem kompletten Wechsel des sozialen Umfelds und der verinnerlichten Wahrnehmungs- und Handlungsmuster verbunden: Wenn der eigene Habitus und der (neue) soziale Kontext dauerhaft nicht zueinander passen, kann dies bei den Personen zu Verunsicherung, Orientierungslosigkeit und Rückzug in das Herkunftsmilieu führen, oder aber zu einem kreativen, aber keineswegs leichten Lernprozess, kurz: einer Transformation des Habitus. Eine solche Transformation konnten wir in unserer Studie bei den Aufsteigern feststellen. Allerdings ist es wissenschaftlich noch umstritten, ob eine grundlegende Wandlung des Habitus wirklich möglich ist.
InfoboxWie die soziale Herkunft das Bildungsverständnis prägt
Menschen aus sogenannten "bildungsfernen Milieus" leben in Knappheitsverhältnissen. Sie verfügen häufig über einen niedrigen oder gar keinen Schulabschluss und arbeiten in schlecht bezahlte Jobs, die wenig angesehen sind.
Das, was fehlt – also zum Beispiel Geld und Anerkennung –, wird für sie umso erstrebenswerter. Das prägt auch das Bildungsverständnis: Bildung wird nur dann als sinnvoll erachtet, wenn sie einen unmittelbaren Nutzen bringt. In der Ausbildung zum Mechatroniker lernt man beispielsweise, wie ein Motor funktioniert, damit man ein Auto reparieren kann. Das ist logisch und nachvollziehbar. Im Zustand höchster Knappheit muss permanent gefragt werden, ob etwas auch wirklich notwendig ist, wofür man etwas macht, ob es "etwas bringt", welcher konkrete Sinn dahintersteckt. Ein Kind, das in diesen Verhältnissen aufwächst, entwickelt eine Mentalität, in der solche Nutzenabwägungen in allen Lebensbereichen handlungsleitend werden, auch in der Schule. So ist etwa der Zugang zu Bildung als Selbstzweck, zu Wissen, das keiner unmittelbaren lebenspraktischen Anwendung dient, sowie zur Kompetenzentwicklung und -ausweitung in Bereichen, die im Herkunftsmilieu keine Anerkennung finden, weitgehend habituell versperrt. Das bildungsbürgerlich-akademische Ideal – Bildung als Selbstzweck – ist bildungsfernen Familien nur schwer zugänglich.
Die Zugangshürden beim Studium werden beispielsweise als sehr hoch wahrgenommen. Einerseits ist dafür die Abiturnote entscheidend, die sich aus allen möglichen Fächern zusam-mensetzt – darunter wiederum solche, die als "sinnlos" empfunden werden. Insbesondere Sprachen und musisch-künstlerische Bereiche. Unsere Tradition humanistischer Gymnasialbildung führt zu einer unsichtbaren Diskriminierung unterer Milieus, die sich nur langsam auflöst, etwa durch die Einführung technische Gymnasien, die einem anderen Bildungsverständnis gerecht werden.
Andererseits spielt für ein Studium auch die Frage der Finanzierung eine wichtige Rolle. Denn man muss in Vorleistung gehen, ohne heutzutage noch sicher sein zu können, dass sich die Investition später auszahlt. Aus Sicht einer bildungsfernen Lebenswelt ist es eher rational, dieses Risiko nicht einzugehen, und eher überraschend, wenn es doch jemand wagt.
Welche Herausforderungen sind mit einem sozialen Aufstieg verbunden?
Eine wesentliche Herausforderung bestand für die Personen mit Aufstiegserfahrungen, die wir in unserer Studie befragt haben, darin, dass sie sich von ihrem Herkunftsmilieu distanzierten. Dieser Befund ist banal und komplex zugleich. Denn ein Aufstieg bedeutet, dass sich nicht nur die Statuspositionen und die Schichtzugehörigkeit der Menschen verändern, sondern auch die Menschen selbst. Drei miteinander verbundene Herausforderungen begleiten Aufsteigende dauerhaft:
Das permanente Arbeiten an sich selbst. Die Sozialisation in ihrer Familie hat Menschen aus unteren sozialen Schichtenhäufig nicht auf ein Leben in anderen sozialen Milieus vorbereiten können. Viele ihrer routinierten Handlungsweisen und intuitiven Regungen müssen sie nun kontrollieren. Im alltäglichen Leben, in Institutionen und sozialen Kreisen höherer Milieus ecken sie oft an und erleben regelmäßig, dass ihre Wahrnehmungen, Einstellungen und Verhaltensweisen nicht mit denen in ihrem neuen Umfeld übereinstimmen. Daher spiegeln Aufsteigende ihr Verhalten permanent und beobachten ganz genau, wie sich ihre Art, anderen zu begegnen, zu sprechen, zu gestikulieren von der ihres Umfelds unterscheidet. Diese habituelle Unsicherheit kann sich bis weit ins Berufsleben hinein ziehen. Insbesondere in sozialen Situationen, bei Verhandlungen oder Geschäftsessen, fühlen sich Aufsteigende eher gehemmt. Da sie diese Situationen nicht kennen und kaum realistisch einschätzen können, gehen sie bei allen Entscheidungen immer wieder Risiken ein. Häufig führt dies zu Selbstzweifeln. Wenn Schwierigkeiten auftreten, suchen sie die Gründe dafür eher bei sich und sind in der Regel sehr selbstkritisch.
Das Gefühl der Entfremdung vom Herkunftsmilieu und von der Herkunftsfamilie wird im Laufe der Zeit, meist in der Jugendphase, immer stärker. Es fehlen die gemeinsamen Themen, Interessen und Werte. Lebenssituationen und Lebensstile passen immer weniger zusammen. Konflikte mit der eigenen Familie und früheren Freunden und Bekannten werden wahrscheinlicher.
Sich vom Herkunftsmilieu distanzieren zu müssen, bringt Aufsteigende in eine Zwischenposition: Sie bewegen sich von etwas weg, ohne bereits anderswo angekommen zu sein. Sie entfernen sich von den Menschen, die ihnen in der Kindheit und Jugend viel bedeuteten, und finden aber keine neue soziale Heimat. Denn auch in ihrem neuen Umfeld gibt es nur wenige Menschen, die ähnliche Erfahrungen teilen. Entscheidend dabei ist das gefühlte Alleinsein. Das Gefühl und die Unsicherheit, nicht "anzukommen" oder nicht "angenommen zu werden", können über einen langen Zeitraum andauern, wodurch Rückzugs- oder Abbruchgedanken bei den Betroffenen wahrscheinlich werden.
Welche Fähigkeiten sind für den sozialen Aufstieg entscheidend?
Jenseits ihrer Leistungsfähigkeit und ihres Fleißes waren für die befragten Personen mit einem sozialen Aufstieg eine Reihe von Problemstellungen verbunden, für die sie bestimmte Fähigkeiten im Verlauf des Aufstiegs erst entwickeln mussten.
Erfolgreiche Aufstiegsbiografien hatten ihren Startpunkt – entgegen mancher Vermutung – gerade nicht in einem "klassischen Aufstiegsmotiv": Weder gab es einen vorgefassten Plan, noch wollten diejenigen, die es über den Bildungsweg geschafft haben, ursprünglich reich und berühmt werden. Genau das wollen sehr viele Menschen, insbesondere Kinder und Jugendliche aus unteren Schichten, gerade weil ihnen in besonderer Weise Geld und Anerkennung fehlen. Wer vornehmlich nach materiellem Reichtum und Ruhm strebt, wird eher vom Bildungsweg abgelenkt. Der Aufstiegstraum benachteiligter Kinder lässt sich mit der Formel "vom Ghettokid zum Gangsta Rapper oder Fußballprofi" fassen. Lukas Podolski oder Bushido wurden nicht nur zu Vorbildern, weil sie reich und berühmt sind, sondern auch, weil sie gleichzeitig ihre Sprache und ihr Auftreten beibehalten haben. Sie suggerieren, dass man es schaffen kann, ohne sich zu verändern. Letztlich erfolgreiche Bildungsaufsteiger strebten nicht nach Geld oder Macht, ja nicht einmal nach einem sozialen Aufstieg, sondern nach einer individuellen Veränderung, sie hatten den Drang sich weiterzuentwickeln. Ausgangspunkt war oft eine generelle Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben. Für den Aufstiegsprozess selbst hatten die Personen keinen langfristigen Plan, sondern stets nur die nächste biografische Etappe im Auge, bildlich gesprochen: die einzelne Sprosse einer späteren Leiter. Sie konnten sich dabei aber nicht sicher sein, dass sie diese auch tatsächlich bewältigen werden. Ihnen gelang der Aufstieg überwiegend aufgrund von Zufällen und gut genutzten Gelegenheiten. Dies erforderte zum einen eine hohe Flexibilität, weil sich diese Veränderungsprozesse weder an einem konkreten Ziel ausrichten ließen, noch durch eine Planung abgesichert werden konn-ten. Entsprechend sind sozial mobile Menschen vergleichsweise präferenzlos, müssen also jede Gelegenheit nutzen, die sich ihnen bietet.
Da sie sich von ihrem Herkunftsmilieu distanzieren und damit notwendig auch die Erfahrungen und Symbole, die in der Kindheit von besonderer Bedeutung waren, entwerten müssen, brauchen Aufsteiger ein hohes Maß an Trennungskompetenz, die Fähigkeit, den Verlust von sozialen Beziehungen und Werten produktiv zu verarbeiten. Wer aufsteigt, verändert sich selbst, seine Art zu reden und sich zu verhalten, und im Laufe der Zeit auch seinen Freundes- und Bekanntenkreis. Rückschläge und Brüche sind in ihren Biografien die Regel: die Suche nach einer neuen sozialen Heimat erfordert insbesondere Anpassungsfähigkeit und Frustrationstoleranz. Aufsteiger sind es in umfassender Form gewohnt, Unsicherheit auszuhalten und sich in unbekannten Kontexten zurechtzufinden. Ihre alten und neuen Erfahrungen müssen sie dennoch selbstständig produktiv zu einem "rote Faden" verknüpfen können (Synthetisierungsfähigkeit), damit der eigene Lebensweg und die eigene Identität trotz vieler Brüche und fehlender Zusammenhänge sinnstiftend bleiben. Nur dann erleben sie die Entfremdung vom Herkunftsmilieu nicht auch dauerhaft als Entfremdung von sich selbst.
Da den Aufsteigenden "vorgezeichnete Laufbahnen" – insbesondere soziale Modelle – fehlen, hängt der erfolgreiche Aufstieg nicht unwesentlich damit zusammen, dass an die Stelle der Eltern "Dritte" treten: Menschen aus höheren Milieus ("soziale Paten"), die den Aufsteigenden Wege eröffnen und durch Motivation und Feedback, als Vorbild und Mentor jene Funktionen übernehmen, die herkunftsbedingt von der Familie und dem sozialen Umfeld nicht erfüllt werden können. Jeder der von uns befragten Aufsteiger hatte einen "sozialen Paten". Das war in einem Fall die Mutter der besten Freundin. Ein anderes Mal ein Theaterregisseur, der einen jungen Mann mehr oder weniger zufällig für die Schauspielerei begeistert hat. Nur sehr selten waren in unserer Studie diese sozialen Paten Lehrkräfte oder andere pädagogische Fachkräfte.
InfoboxWelche Rolle spielt ein Migrationshintergrund?
Die bisher beschriebenen Zusammenhänge treffen auf Aufsteigende mit und ohne Migrationshintergrund gleichermaßen zu. Allerdings gibt es durchaus Unterschiede, wenn es um die Erwartungen vonseiten der Herkunftsfamilien geht.
In der internationalen Bildungsforschung konnte gezeigt werden, dass sich hohe Erwartungen der Eltern in Bezug auf den Bildungsabschluss ihres Kindes positiv auf den realen Bildungserfolg auswirken. Die Bildungserwartungen in Familien ohne Migrationshintergrund sind vergleichsweise gering. Diese Aufsteigenden müssen sich also deutlich stärker selbst motivieren und Erfolgserwartungen aufbauen. In Familien mit Migrationshintergrund wird von den Kindern eine erfolgreiche Bildungs- und Berufslaufbahn erwartet, gleichzeitig aber auch ein hohes Maß an Loyalität gegenüber der Lebensweise und den Werten der eigenen Familie beziehungsweise der "ethnischen Community" (El-Mafaalani 2013). Türkeistämmige Aufsteiger etwa wachsen in einem Umfeld auf, das von Loyalität und Solidarität geprägt ist. Das macht es ihnen zunächst einfacher, weil sie von zu Hause aus viel Unterstützung bekommen. Schwierig wird es, wenn sie sich emanzipieren wollen. Das kann zu massiven Konflikten und sogar zum Abbruch des Kontakts führen. Junge Menschen mit Migrationshintergrund werden also notwendig eine der beiden Erwartungen enttäuschen.
Festhalten lässt sich: Es gibt Unterschiede zwischen Aufsteigenden mit und ohne Migrationshintergrund. Allerdings wird die Bedeutung des Migrationshintergrunds häufig überschätzt. Denn es lässt sich keineswegs bestimmen, für welche der beiden Gruppen die Herausforderungen größer sind. Die soziale Herkunft begründet ungleich stärker die Mühen des Aufstiegs.
Fazit
Die vorgestellte Untersuchung zeigt, dass der Bildungsaufstieg aus der Perspektive der Betroffenen mit sozialen Risiken und mit Konsequenzen für ihre gesamte Biografie verbunden ist: Besonders problematisch ist, dass das Verhältnis zum Herkunftsmilieu und zur Herkunftsfamilie dauerhaft prekär bleibt. Werte, Handlungsmuster und Lebensstile, die die Kindheit und Jugend prägten, werden im Aufstiegsprozess weitgehend entwertet. Dadurch fehlen bei der Kommunikation mit den Eltern und früheren Freunden nicht nur die gemeinsamen Interessen und Themen, sondern auch eine habituelle Übereinstimmung. Sozialer Aufstieg ist ein steiniger, oft schmerzhafter Prozess. Das erklärt auch, warum viele irgendwann aufgeben oder umkehren. Man muss es aushalten können, Außenseiter zu sein. Dieser Distanzierungsprozess ist wesentlicher Bestandteil des Aufstiegsprozesses und kann zu einer so starken Entfremdung führen, dass Nostalgie und Sehnsucht starke biografische Themen werden. Diese einschneidenden und durchaus schmerzhaften Erfahrungen sind aber zugleich auch Motoren für Kreativität, indem sie die Motivation für den Aufstieg steigern können. Ein Bildungsaufstieg ist erstaunlich wenig durch kalkulierte Rationalität und überraschend stark durch emotionale Konflikte geprägt. Diese Ambivalenzen sind unmittelbar mit der Erfahrung von Knappheit, also Armut in vielerlei Hinsicht, verbunden.
Was bedeutet das zum Beispiel für die Schule? Es gibt Schulsysteme, in denen eine Ärztin, ein Psychologe, mehrere sonder- und sozialpädagogische Fachkräfte und ein umfangreiches Freizeitangebot zur Schule dazugehören. So entscheiden nicht mehr die finanziellen, sozialen und kulturellen Kapazitäten der Eltern über die Förderung, sondern alle Kinder und Jugendliche finden dieselben Möglichkeiten in der Schule vor. Genau diese Systeme sind nicht nur erfolgreich, sondern darüber hinaus auch egalitärer als unseres. Wir müssen einsehen, dass Bildung mehr ist als Vokabeln lernen und Hausaufgaben machen und auch Chancengleichheit nicht durch Nachhilfe allein erreicht werden kann. Darüber hinaus drückt sich Armut heute auch immer deutlicher durch die räumliche Trennung sozialer Schichten und Erfahrungswelten in segregierten Stadtteilen aus (El-Mafaalani/Strohmeier 2015). Es erscheint daher unrealistisch, allein in der Bildungspolitik geeignete Gegenmaßnahmen zu finden (El-Mafaalani/Kurtenbach 2014).
Was könnte also getan werden, um soziale Barrieren zu überwinden?
Zwar lassen sich aus unserer Studie noch keine konkreten Empfehlungen ableiten, wie Kinder und Jugendliche aus benachteiligten sozialen Milieus unterstützt werden können, um sozialen Barrieren für einen Bildungsaufstieg zu überwinden. Doch wenn man unsere Ergebnisse mit den ganz ähnlichen Ergebnissen aus anderen Studien zusammenzieht, lassen sich folgende, skizzenartige Schlussfolgerungen ziehen:
Stadtteilentwicklung und Schulformen. Eine stark sozial durchmischte Lebenswelt bereits in der Kindheit ist förderlich und erlaubt die Erfahrung von und einen spielerischen Umgang mit Milieu- und Habitusunterschieden.
Ausbau von Ganztagsschulen. Eine gezielte individuelle Förderung in den Bildungsinstitutionen würde dazu beitragen, die Fähigkeiten jedes Kindes optimal zu entwickeln. Eine solche präventive Förderung sollte nicht nur auf den Unterricht bezogen sein, damit auch darüber hinaus psychische und soziale Belastungen erkannt werden und entsprechend reagiert werden kann.
Interdisziplinarität. Um eine individuelle und präventive Förderung zu gewährleisten, ist es notwendig, dass verschiedene Professionen zusammenarbeiten, unter anderem Lehrkräfte, Sozialarbeiter, Mediziner und Psychologen.
Kunst- und Kulturprogramme. Kunst- und Theatererfahrungen und damit die Möglichkeit, "sich in einen anderen hineinzuversetzen", können eine biografisch bedeutsame Rolle spielen, neue Ideen für das eigene Leben zu entwickeln.
Lehrpläne und Unterrichtsmethoden. Ein generell stärker anwendungs- und spielorientiertes statt abstrakt-zielorientiertes Lernen, zumindest bis zum mittleren Abschluss, könnte Kindern, die ein ausgeprägtes Funktionsdenken haben (Habitus der Notwendigkeit), einen leichteren Zugang zu den Lerninhalten bieten und die Motivation steigern.
Elternarbeit und Frühförderung. Insbesondere – aber nicht nur – bei Kinder mit internationaler Geschichte (Migrationshintergrund) konnte deutlich herausgestellt werden, welche komplexen Syntheseleistungen zwischen den Lebenswelten Familie und Schule bereits in der Kindheit selbstständig vollzogen werden müssen, weil zwischen beiden Seiten kaum Kommunikation stattfindet. Deshalb sollte die Elternarbeit und Frühförderung ausgebaut werden.
Kommunale Bildungs- und Sozialpolitik. Schließlich sind die im unmittelbaren Sozialraum zur Verfügung stehenden Ressourcen – insbesondere in segregierten Stadtteilen – eine für Bildungserfolge zentrale Größe.