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Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern?

Kerstin Pohl

/ 9 Minuten zu lesen

In mehreren Bundesländern gibt es ein Schulfach „Sozialwissenschaften“, in dem mehr oder weniger gleichberechtigt Inhalte aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft unterrichtet werden. In anderen Bundesländern bildet dagegen Politik den Kern des Schulfaches zur politischen Bildung. Welcher Ansatz der bessere ist, ist in der Didaktik der politischen Bildung umstritten.

Kaum ein Fach tritt an deutschen Schulen in so zahlreich unterschiedlichen Kombinationen auf wie das Unterrichtsfach zur politischen Bildung. Schon die Fachbezeichnung differiert beträchtlich zwischen den Bundesländern, Schulformen und Schulstufen: „Sozialkunde“, „Sozialwissenschaften“, „Gemeinschaftskunde“, „Politische Bildung“, oder neuerdings vermehrt „Politik und Wirtschaft“ sowie in der Grundschule „Sachunterricht“, sind die gängigsten Bezeichnungen.

Hinter den verschiedenen Bezeichnungen verbergen sich auch unterschiedliche inhaltliche Zuschnitte der Fächer, die nicht immer offensichtlich sind. In diesem Text steht die Bezeichnung „Politische Bildung“ in Großschreibung für das betreffende Unterrichtsfach im Allgemeinen und „politische Bildung“ in Kleinschreibung für die zentrale Aufgabe dieses Unterrichtsfaches – unabhängig von seinem Schwerpunkt. „Sozialwissenschaft“ steht für einen Zuschnitt des Faches, in dem Politik, Wirtschaft und Gesellschaft prinzipiell gleichberechtigt vertreten sind, und „Politik“ für einen Zuschnitt, in dem Politik den Kern des Unterrichtsfaches bildet.

Worüber wird diskutiert?

Die Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker, die sich wissenschaftlich mit dem Lehren und Lernen in diesem Fach beschäftigen, sind sich einig, dass Inhalte aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Fach Politische Bildung thematisiert werden müssen. Aber es gibt kontroverse Auffassungen darüber, ob und wie eine Integration der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Aspekte im Unterricht gelingen kann und welcher Fachzuschnitt dafür am besten geeignet ist. (Besonders heftig wird darüber gestritten, welche Rolle die ökonomische Bildung spielen sollte. Diese Kontroverse ist im Text Interner Link: „Brauchen wir ein eigenes Fach Wirtschaft?“ dargestellt.)

Dabei plädieren einige Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker für ein Unterrichtsfach Sozialwissenschaften, andere für ein Unterrichtsfach Politik, in dem „Politik als Kern der politischen Bildung“ im Zentrum steht (Massing/Weißeno 1995). Wenn Politik als Kern gesetzt wird, sollen zwar auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen vorkommen, jedoch unter einer politischen Perspektive: Den Kern bildet dann immer die Frage, welche gesamtgesellschaftlich verbindlichen politischen Entscheidungen zur Gestaltung von Gesellschaft und Wirtschaft getroffen werden sollten (vgl. Pohl 2016, S. 524).

Argumente und Konzepte für ein Fach Sozialwissenschaften

Für ein Fach Sozialwissenschaft spricht die große Bedeutung gesellschaftlicher und ökonomischer Fragen: Individualisierung, Geschlechterverhältnisse, die soziale Schere, Integration und Inklusion, Arbeitsverhältnisse, die Rolle des Marktes oder auch Verbraucherbildung sind wichtige Fragen, die im Unterricht thematisiert werden sollten – nach Möglichkeit von Lehrkräften, die sich schon in ihrem Studium in soziologischen und ökonomischen Lehrveranstaltungen mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben.

Wie Sibylle Reinhardt im Podcast argumentiert (s.u.), bietet ein Fach Sozialwissenschaften die Möglichkeit, es von den Prioritäten der Schülerinnen und Schüler und auch vom konkreten Unterrichtsinhalt abhängig zu machen, welche Disziplin man – jeweils vorübergehend – in den Vordergrund stellt. Wenn die Lernenden sich unabhängig von internationaler Politik für das Thema Zölle interessieren, wäre demnach eine ökonomisch geprägte Unterrichtseinheit zu Zöllen möglich.

Externer Link: Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern? Interview mit Prof. Dr. Sibylle Reinhardt (zum Podcast mit Projektinformationen in der Mediathek)

Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern? Interview mit Prof. Dr. Sibylle Reinhardt

Obwohl sehr viele Fachdidaktiker/-innen für eine sozialwissenschaftliche Bildung plädieren, gibt es nur wenige Konzepte, die sich damit auseinandersetzen, wie genau die Integration der drei Teilbereiche im Unterricht aussehen könnte.

Sibylle Reinhardt hat schon sehr früh für die Sekundarstufe II ein sequenzielles Vorgehen mit steigender Komplexität als idealtypische Vorgehensweise vorgeschlagen (1997, S. 56-59): Nach einer additiven Betrachtung von Themen aus jeweils mehreren disziplinären Perspektiven folgt eine leitperspektivische Betrachtung, bei der eine Disziplin im Zentrum steht und dann „an geeigneten Problemstellen über ‚Brücken‘ mit einer der anderen Disziplinen verknüpft wird“ (ebd., S.57-59), gefolgt von einer interdisziplinären Herangehensweise in Form einer Verknüpfung der drei disziplinären Zugänge bei besonders komplexen Fragestellungen. Neben anderen haben auch Tilman Grammes (1998), Thorsten Hippe (2010) und Reinhold Hedtke (2019) Konzeptionen vorgelegt, die den Ansatz sozialwissenschaftlicher Bildung verfolgen.

Ein Blick in die curriculare Praxis offenbart auch hier unterschiedliche Vorgehensweisen, etwa für die Lehrpläne für Sozialwissenschaften in Nordrhein-Westfalen (NRW) und Berlin. Nach beiden Lehrplänen sollen im Fach Sozialwissenschaften Fachkenntnisse ausdrücklich aus den drei Disziplinen Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie erworben werden. In Berlin fokussieren allerdings die ersten drei Halbjahre jeweils einen disziplinären Schwerpunkt, während in Nordrhein-Westfalen interdisziplinäre Ansätze von Beginn an einen größeren Stellenwert haben.

Integration konkret: Lehrpläne NRW und Berlin

Für NRW heißt es: „Die Integration der drei Teildisziplinen erfolgt auf der Grundlage gemeinsamer disziplinübergreifender Paradigmen und eines gemeinsamen Grundrepertoires an Fach- und Forschungsmethoden. Im Unterricht wird die Besonderheit der Bereiche und Zugangsweisen ebenso deutlich wie auch ihre Verflochtenheit und die Notwendigkeit einer übergreifenden Betrachtungsweise. Die Inhaltsfelder sind so konstruiert, dass sich in ihnen die Fachperspektiven widerspiegeln bzw. sie diese integrieren und sich gleichzeitig die Möglichkeiten einer mehrperspektivischen Sichtweise eröffnen, um Gestaltungserfordernisse und Handlungsoptionen beschreiben, entwickeln und bewerten zu können (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2014, S. 13). Unter den sieben Inhaltsfeldern (vgl. ebd. S. 18-20) haben einige einen eindeutigen disziplinären Schwerpunkt, wie „Politische Strukturen, Prozesse und Partizipationsmöglichkeiten“ oder „Individuum und Gesellschaft“. Andere Inhaltsfelder wie „Europäische Union“ geben vor, aktuelle politische, soziale und ökonomische Entwicklungen zu betrachten.

In Berlin dagegen haben die drei ersten Halbjahre der Qualifikationsphase mit den Inhalten „Individuum, Gesellschaft und sozialer Wandel“, „Soziale Marktwirtschaft“ sowie „Recht, Staat und Politik in Deutschland und Europa“ eindeutig einen disziplinären Schwerpunkt und erst das vierte Kurshalbjahr mit dem Inhalt „Wirtschaft und Gesellschaft, Recht und Politik im internationalen System“ verlangt eine Integration der Perspektiven (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin 2006).

Argumente gegen ein Unterrichtsfach Sozialwissenschaften und für ein Unterrichtsfach Politik

Thomas Goll, Professor an der TU Dortmund, ist in Bezug auf die Möglichkeiten eines solchen Integrationsfaches hingegen skeptisch. Die „Gestalt von Unterrichtsfächern“ entspringe „einer administrativen Setzung“ und folge damit „nicht zwingend der fachdidaktisch am sinnvollsten erscheinenden Argumentation“ (Goll 2019, S. 113). Er kritisiert, dass eine empirische Basis für die vergleichende Beurteilung von mono- oder interdisziplinär ausgerichteten Fächerzuschnitten im Bereich der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften fehle. Seine Untersuchung zu Dortmunder Lehramtsstudierenden, die in Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie ausgebildet werden, deute jedoch darauf hin, dass diese für das Fach Sozialwissenschaften keine didaktischen Konzepte eines tatsächlich interdisziplinären Zugangs ausgebildet hätten. Externer Link: Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern? Interview mit Prof. Dr. Peter Massing (zum Podcast mit Projektinformationen in der Mediathek)

Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern? Interview mit Prof. Dr. Peter Massing

Um an Interdisziplinarität als Norm für das Unterrichtsfach Sozialwissenschaften festzuhalten, bedarf es nach Goll daher weitreichender Änderungen in der Lehramtsausbildung. Bisher, so schreibt er kritisch, lägen Anspruch und Wirklichkeit von Interdisziplinarität im Fach Sozialwissenschaften weit auseinander, und ohne empirische Studien bewege man sich in der Argumentation für oder gegen diese Integration „mehr im Bereich der Mythen als im Feld der Fakten“ (Goll 2019, S. 112).

Interner Link: Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern? Interview mit Prof. Dr. Karl-Heinz Breier (zum Podcast mit Projektinformationen in der Mediathek)

Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern? Interview mit Prof. Dr. Karl-Heinz Breier

Ähnlich skeptisch ist auch Peter Massing. Im Podcast-Interview (s.u.) spricht er sich klar für „Politik als Kern“ der politischen Bildung aus. Er fordert, alle Unterrichtsthemen mit einer „politikwissenschaftlichen Brille“ zu betrachten und immer zu fragen, was am jeweils betrachteten Problem für die politische Entscheidungsfindung relevant ist. Dies würde etwa eine Unterrichtseinheit zum Thema „Die Bedeutung von Zöllen im internationalen Handel“ ohne Bezug zur Frage der politischen Gestaltung internationaler Handlungsbeziehungen ausschließen.

Auch Karl Heinz Breier betont im Podcast-Interview (s.u.), der Politikunterricht solle primär dazu beitragen, dass „wir uns zu politischen Menschen entwickeln mögen“ und „dass der Raum des Politischen“ in unserer Republik „aufrechterhalten wird“.

Bezug zur Kontroverse über Kompetenzorientierung und Konzeptlernen

Die Frage nach dem Zuschnitt und der Perspektive des Unterrichtsfaches fließt auch in die Diskussion der Politikdidaktik über die konkrete Ausgestaltung der Wissensdimension in den verschiedenen Kompetenzmodellen ein. (siehe Beitrag „Kompetenzorientierung und die Vermittlung konzeptionellen Deutungswissens“ im Dossier politische Bildung). Das Modell von Georg Weißeno und anderen stellt die drei Basiskonzepte „Entscheidung“, „Ordnung“ und „Gemeinwohl“ ins Zentrum. Damit folgt das Modell dem von Werner Patzelt und Thomas Meyer formulierten Politikbegriff, wonach Politik jenes menschliche Handeln sei, „das allgemein verbindliche und am Gemeinwohl orientierte Entscheidungen und Regelungen in und zwischen Gruppen von Menschen vorbereitet und herstellt“ (Patzelt 1993, S. 14; Meyer 2006, S. 41 – zitiert nach Weißeno u. a. 2010, S. 29). In einem entsprechend durchgeführten Unterricht, soll unverkennbar Politik den Kern der politischen Bildung darstellen.

Demgegenüber haben die Autorinnen und Autoren einer kritischen Gegenposition zum genannten Modell, die alle für einen breiteren, sozialwissenschaftlichen Ansatz stehen, den Vorschlag von Wolfgang Sander für ein Set von sechs Basiskonzepten, nämlich „System“, „Akteure“, „Bedürfnisse“, „Grundorientierungen“, „Macht“ und „Wandel“, aufgenommen. Mit dem Basiskonzept „Bedürfnisse“ wird hier ein wichtiges ökonomisches und mit den Basiskonzepten „System“ und „Wandel“ werden zwei zentrale soziologische Konzepte für das Unterrichtsfach gesetzt. Die Autorinnen und Autoren begründen diese Auswahl ausdrücklich damit, dass eine Liste an Basiskonzepten für die politischen Bildung „Offenheit für die Pluralität der Sozialwissenschaften und für die Komplexität des Phänomens des Politischen“ verlange (Autorengruppe 2011, S.171).

Was muss man studieren, um Politik oder Sozialwissenschaften zu unterrichten?

Nicht nur der Zuschnitt des Schulfaches, sondern auch die Inhalte des Lehramtsstudiums unterscheiden sich in verschiedenen Bundesländern stark. Das Studium soll laut den „Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen“ der Kultusministerkonferenz (KMK 2019) politikwissenschaftliche, soziologische und wirtschaftswissenschaftliche Kompetenzen vermitteln. Auch in der Fachdidaktik ist unstrittig, dass Lehrerinnen und Lehrer der Politischen Bildung fachwissenschaftliche Kenntnisse über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft benötigen. Kontrovers diskutiert wird allerdings, ob sie diese Kenntnisse im Rahmen eines möglichst breit angelegten Studiums der Politikwissenschaft erwerben, oder besser alle drei Wissenschaftsdisziplinen – Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie – studieren sollten. Tatsächlich studieren die künftigen Lehrkräfte an den meisten Universitäten Politikwissenschaft.

Dabei enthält das politikwissenschaftliche Studium fast immer auch Lehrveranstaltungen zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen – aber je nach Universität in unterschiedlichem Maße. Andere Universitäten wiederum kombinieren Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft oder „Sozialwissenschaften“ mit Anteilen an Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft. Dabei erfolgt die Ausbildung nicht immer kongruent zum jeweiligen Fachzuschnitt an den Schulen des entsprechenden Bundeslandes.

Vor- und Nachteile der verschiedenen Varianten des Studiums

Für die Studierenden, die später Politische Bildung unterrichten wollen, haben alle Varianten Vor– und Nachteile: Entweder müssen Studierende für nur ein Unterrichtsfach zwei oder gar drei sozialwissenschaftliche Disziplinen an zwei oder drei Instituten studieren – die Komplexität der einzelnen Disziplinen kann dann nur sehr begrenzt durchdrungen werden. Studieren die angehenden Lehrkräfte dagegen „nur“ Politikwissenschaft fehlen ihnen – je nach Studienort – unter Umständen soziologische oder ökonomische Kenntnisse.

Die Problematik der unterschiedlichen Studienfächer stellt sich verstärkt für den Sachunterricht, in dem die politische Bildung an der Grundschule beheimatet ist, sowie für das Fach „Gesellschaftslehre“, das an nicht-gymnasialen Schulformen immer üblicher wird und neben dem Fach Politische Bildung auch Geographie und Geschichte umfasst.

Dieses Problem beschäftigt natürlich vor allem angehende Lehrerinnen und Lehrer für Politische Bildung, wie die Studierenden der Universität Mainz, die in ihren Podcast-Interviews mit Prof. Dr. Sibylle Reinhardt eine Befürworterin eines Unterrichtsfaches Sozialwissenschaften sowie mit Prof. Dr. Peter Massing und Prof. Dr. Karl-Heinz Breier zwei Befürworter eines Unterrichtsfaches Politik interviewt haben (s. Podcast-Interviews oben).

Deren Positionen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Konzeption des Unterrichtsfaches, sondern auch hinsichtlich der Vorstellungen zur Lehrerbildung: Peter Massing hält eine politikwissenschaftliche Ausbildung – sofern sie breit genug angelegt ist und wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Themen einschließt – für ausreichend.

Karl-Heinz Breier spricht sich zwar wie Peter Massing für Politik als Kern der politischen Bildung aus, folgert daraus aber nicht, dass ein politikwissenschaftliches Studium notwendig besser sei als ein sozialwissenschaftliches.

Sibylle Reinhardt ist der Auffassung, die Studierenden könnten die Inhalte der drei Sozialwissenschaften selbst integrieren und überdies seien individuelle Präferenzen in Bezug auf die Disziplin, von der aus man sich die Welt primär erschließen möchte, denkbar und möglich. Sie plädiert deshalb ausdrücklich für ein Studium aller drei sozialwissenschaftlichen Disziplinen.

Einen nicht nur additiven, sondern integrierten sozialwissenschaftlichen Bildungsgang für Lehramtsstudierende halten alle Interviewten angesichts der Ausdifferenzierung der Wissenschaftsdisziplinen für nicht realisierbar.

Fazit

Die überwiegende Mehrheit der Didaktikerinnen und Didaktiker der Politik- und Sozialwissenschaften ist sich einig, dass wir ein gemeinsames Unterrichtsfach für die Inhalte aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik brauchen. In dieser Gemeinsamkeit liegt ein zentraler Unterschied zur Debatte über das Verhältnis von politischer und ökonomischer Bildung, in der zwar ähnliche Argumente vorgebracht werden, zusätzlich aber die Frage im Raum steht: „Brauchen wir ein eigenes Unterrichtfach Wirtschaft?“ (siehe auch Beitrag Interner Link: „Brauchen wir ein eigenes Unterrichtsfach Wirtschaft?" im Dossier). Demgegenüber würden nicht nur Peter Massing und Karl-Heinz Breier, sondern auch alle anderen hier genannten Autorinnen und Autoren Sibylle Reinhardt zustimmen, wenn sie zum Ende des Podcast-Interviews resümiert: Wir brauchen für die Sozialwissenschaften ein gemeinsames Fach, „weil das Leben komplex ist und weil wir Menschen nicht in Scheibchen leben. Das machen die Wissenschaften und sie haben gute Gründe dafür. Das hat zum internen Fortschritt der Fächer sehr viel beigetragen. Aber für Bildungsprozesse, noch dazu jüngerer Menschen, darf es nicht sein, dass wir die unterteilen wollen in einzelne Sektoren“.

Einzelne Passagen dieses Textes im Umfang von ca. 2500 Zeichen sind übernommen aus: Oberle, Monika/Pohl, Kerstin 2020: Politik in der Lehrerbildung – Professionalisierung für ein vielgestaltiges Unterrichtsfach, in: Cramer, Colin/König, Johannes/Rothland, Martin/Blömeke, Sigrid (Hrsg.): Handbuch Lehrerbildung (Neuausgabe). Bad Heilbrunn/Stuttgart (i.E.). Ich danke Monika Oberle für ihr Einverständnis zur Übernahme der Textpassagen.

Quellen / Literatur

Autorengruppe Fachdidaktik (2011): Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift, Schwalbach/Ts.

Detjen, Joachim (2013): Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in Deutschland (2. Aufl.), München.

GPJE (Hrsg.) (2004): Nationale Bildungsstandards für den Fachunterricht in der Politischen Bildung an Schulen. Ein Entwurf, Schwalbach/Ts.

Goll, Thomas (2019): „Darf‘s noch etwas mehr sein?“ – Anspruch und Wirklichkeit von Interdisziplinarität im Fach Sozialwissenschaften, in: Lotz, Mathias/Pohl, Kerstin (Hrsg.): Gesellschaft im Wandel, Frankfurt/M., S. 113-122.

Grammes, Tilman (1998): Kommunikative Fachdidaktik. Politik, Geschichte, Recht, Wirtschaft, Opladen.

Hedtke, Reinhold (2019): Das Konkordanzprinzip als domänendidaktische Leitidee der gesellschaftlichen Bildung, in: Lotz, Mathias/Pohl, Kerstin (Hrsg.): Gesellschaft im Wandel, Frankfurt/M., S. 105-112.

Hippe, Thorsten (2010): Wie ist sozialwissenschaftliche Bildung möglich? Gesellschaftliche Schlüsselprobleme als integrativer Gegenstand der ökonomischen und politischen Bildung, Wiesbaden.

KMK (2019): Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung. Beschluss vom 16.10.2008 i. d. F. vom 16.05.2019 Externer Link: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2008/2008_10_16-Fachprofile-Lehrerbildung.pdf(zuletzt abgerufen am 21.01.2020)

Kuhn, Hans-Werner/Massing, Peter/Skuhr, Werner (1993): Politische Bildung in Deutschland, 2. Aufl., Opladen. Lotz, Mathias/Pohl, Kerstin (Hrsg.) (2019): Gesellschaft im Wandel. Neue Aufgaben für die politische Bildung und ihre Didaktik. Frankfurt a.M.

Massing, Peter (2015): Die Bedeutung der Politikwissenschaft für die politische Bildung – eine Einführung, in: Bieling, Hans-Jürgen u.a. (Hrsg.): Kursbuch Politikwissenschaft. Einführung – Orientierung – Trends. Schwalbach/Ts., S. 165-184.

Massing, Peter/Weißeno, Georg (Hrsg.) (1995): Politik als Kern der politischen Bildung, Opladen.

Meyer, Thomas (2006): Was ist Politik? Wiesbaden.

Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen (2014): Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen: Sozialwissenschaften und Sozialwissenschaften/Wirtschaft, Düsseldorf, Externer Link: https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/sw/KLP_GOSt_SoWi.pdf (zuletzt abgerufen am 21.01.2020)

Patzelt, Werner J. (1993): Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriss des Faches und studiumbegleitende Orientierung, 2. Aufl., Passau.

Pohl, Kerstin (Hrsg.) (2016): Politikdidaktik im Jahr 2015. Ein Resümee, in: Dies. (Hrsg.): Positionen der politischen Bildung. Interviews zur Politikdidaktik, Schwalbach/Ts. S. 514-555.

Reinhardt, Sibylle (1997): Didaktik der Sozialwissenschaften, Gymnasiale Oberstufe. Sinn, Struktur, Lernprozesse, Opladen.

Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin (2006): Rahmenlehrplan für die gymnasiale Oberstufe: Sozialwissenschaften, Externer Link: https://www.berlin.de/sen/bildung/unterricht/faecher-rahmenlehrplaene/rahmenlehrplaene/mdb-sen-bildung-unterricht-lehrplaene-sek2_sozialwissenschaften.pdf (zuletzt abgerufen am 21.01.2020)

Weißeno, Georg/Detjen, Joachim/Juchler, Ingo/Massing, Peter/Richter, Dagmar (2010): Konzepte der Politik – ein Kompetenzmodell, Schwalbach/Ts.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Diese Vielfalt der Fachbezeichnungen hat ihren Ursprung in einer Empfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK) zur bundesweiten Einführung des Faches aus dem Jahr 1950, die den Ländern dessen Benennung freistellte (vgl. Kuhn et al. 1993, S. 151). Die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) sieht darin ein Hindernis für die Profilierung des Faches und schlägt für die Sekundarstufen und die berufliche Bildung die einheitliche Bezeichnung „Politische Bildung“ vor (GPJE 2004, S. 12).

  2. In einer 2016 veröffentlichten Interviewstudie haben 28 Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker die Frage beantwortet, ob Politik der Kern der politischen Bildung sein sollte, oder ob Inhalte aus Wirtschaft, Gesellschaft und Recht gleichberechtigt neben politischen Inhalten stehen sollten. Eine knappe Mehrheit der Befragten befürwortet es, Politik zum Kern der politischen Bildung zu machen. Zwei Autoren sehen die Priorität bei gesellschaftlichen Fragen, alle anderen heben keine der drei Sozialwissenschaften als prioritär hervor und plädieren für eine Integration der Inhalte und Perspektiven der drei Sozialwissenschaften (vgl. Pohl 2016, S. 523-525). Die Gegenüberstellung von „Sozialwissenschaften“ und „Politik“ ist eine Kontroverse, die immer wieder an verschiedenen Stellen der fachdidaktischen Diskussion eine Rolle spielt, wie beispielsweise auf der 19. Jahrestagung der GPJE (vgl. Lotz/Pohl 2019).

  3. Dies ist auch historisch bedingt durch das Selbstverständnis der sich nach dem II. Weltkrieg neu etablierenden Politikwissenschaft als „Demokratiewissenschaft“ und die Beteiligung damals führender Politikwissenschaftler an der Konzeption des neuen Unterrichtsfaches (Detjen 2013, S. 126 ff.; Massing 2015, S. 9 ff.).

  4. Einen solchen Vorschlag hat aber hat aber mittlerweile Reinhold Hedtke unterbreitet (vgl. Hedtke 2019).

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Dr. Kerstin Pohl ist Professorin für Didaktik der Sozialkunde/Politik in Mainz. Promotion und Schuldienst in Berlin. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Unterrichtsplanung, gesell-schaftstheoretische Grundlagen und Konzeptionen der politischen Bildung.