Kaum ein Fach tritt an deutschen Schulen in so zahlreich unterschiedlichen Kombinationen auf wie das Unterrichtsfach zur politischen Bildung. Schon die Fachbezeichnung differiert beträchtlich zwischen den Bundesländern, Schulformen und Schulstufen: „Sozialkunde“, „Sozialwissenschaften“, „Gemeinschaftskunde“, „Politische Bildung“, oder neuerdings vermehrt „Politik und Wirtschaft“ sowie in der Grundschule „Sachunterricht“, sind die gängigsten Bezeichnungen.
Hinter den verschiedenen Bezeichnungen verbergen sich auch unterschiedliche inhaltliche Zuschnitte der Fächer, die nicht immer offensichtlich sind. In diesem Text steht die Bezeichnung „Politische Bildung“ in Großschreibung für das betreffende Unterrichtsfach im Allgemeinen und „politische Bildung“ in Kleinschreibung für die zentrale Aufgabe dieses Unterrichtsfaches – unabhängig von seinem Schwerpunkt. „Sozialwissenschaft“ steht für einen Zuschnitt des Faches, in dem Politik, Wirtschaft und Gesellschaft prinzipiell gleichberechtigt vertreten sind, und „Politik“ für einen Zuschnitt, in dem Politik den Kern des Unterrichtsfaches bildet.
Worüber wird diskutiert?
Die Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker, die sich wissenschaftlich mit dem Lehren und Lernen in diesem Fach beschäftigen, sind sich einig, dass Inhalte aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Fach Politische Bildung thematisiert werden müssen. Aber es gibt kontroverse Auffassungen darüber, ob und wie eine Integration der politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Aspekte im Unterricht gelingen kann und welcher Fachzuschnitt dafür am besten geeignet ist. (Besonders heftig wird darüber gestritten, welche Rolle die ökonomische Bildung spielen sollte. Diese Kontroverse ist im Text
Dabei plädieren einige Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktiker für ein Unterrichtsfach Sozialwissenschaften, andere für ein Unterrichtsfach Politik, in dem „Politik als Kern der politischen Bildung“ im Zentrum steht (Massing/Weißeno 1995). Wenn Politik als Kern gesetzt wird, sollen zwar auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen vorkommen, jedoch unter einer politischen Perspektive: Den Kern bildet dann immer die Frage, welche gesamtgesellschaftlich verbindlichen politischen Entscheidungen zur Gestaltung von Gesellschaft und Wirtschaft getroffen werden sollten (vgl. Pohl 2016, S. 524).
Argumente und Konzepte für ein Fach Sozialwissenschaften
Für ein Fach Sozialwissenschaft spricht die große Bedeutung gesellschaftlicher und ökonomischer Fragen: Individualisierung, Geschlechterverhältnisse, die soziale Schere, Integration und Inklusion, Arbeitsverhältnisse, die Rolle des Marktes oder auch Verbraucherbildung sind wichtige Fragen, die im Unterricht thematisiert werden sollten – nach Möglichkeit von Lehrkräften, die sich schon in ihrem Studium in soziologischen und ökonomischen Lehrveranstaltungen mit diesen Fragen auseinandergesetzt haben.
Wie Sibylle Reinhardt im Podcast argumentiert (s.u.), bietet ein Fach Sozialwissenschaften die Möglichkeit, es von den Prioritäten der Schülerinnen und Schüler und auch vom konkreten Unterrichtsinhalt abhängig zu machen, welche Disziplin man – jeweils vorübergehend – in den Vordergrund stellt. Wenn die Lernenden sich unabhängig von internationaler Politik für das Thema Zölle interessieren, wäre demnach eine ökonomisch geprägte Unterrichtseinheit zu Zöllen möglich.
Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern? Interview mit Prof. Dr. Sibylle Reinhardt
Obwohl sehr viele Fachdidaktiker/-innen für eine sozialwissenschaftliche Bildung plädieren, gibt es nur wenige Konzepte, die sich damit auseinandersetzen, wie genau die Integration der drei Teilbereiche im Unterricht aussehen könnte.
Sibylle Reinhardt hat schon sehr früh für die Sekundarstufe II ein sequenzielles Vorgehen mit steigender Komplexität als idealtypische Vorgehensweise vorgeschlagen (1997, S. 56-59): Nach einer additiven Betrachtung von Themen aus jeweils mehreren disziplinären Perspektiven folgt eine leitperspektivische Betrachtung, bei der eine Disziplin im Zentrum steht und dann „an geeigneten Problemstellen über ‚Brücken‘ mit einer der anderen Disziplinen verknüpft wird“ (ebd., S.57-59), gefolgt von einer interdisziplinären Herangehensweise in Form einer Verknüpfung der drei disziplinären Zugänge bei besonders komplexen Fragestellungen. Neben anderen haben auch Tilman Grammes (1998), Thorsten Hippe (2010) und Reinhold Hedtke (2019) Konzeptionen vorgelegt, die den Ansatz sozialwissenschaftlicher Bildung verfolgen.
Ein Blick in die curriculare Praxis offenbart auch hier unterschiedliche Vorgehensweisen, etwa für die Lehrpläne für Sozialwissenschaften in Nordrhein-Westfalen (NRW) und Berlin. Nach beiden Lehrplänen sollen im Fach Sozialwissenschaften Fachkenntnisse ausdrücklich aus den drei Disziplinen Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie erworben werden. In Berlin fokussieren allerdings die ersten drei Halbjahre jeweils einen disziplinären Schwerpunkt, während in Nordrhein-Westfalen interdisziplinäre Ansätze von Beginn an einen größeren Stellenwert haben.
Integration konkret: Lehrpläne NRW und Berlin
Für NRW heißt es: „Die Integration der drei Teildisziplinen erfolgt auf der Grundlage gemeinsamer disziplinübergreifender Paradigmen und eines gemeinsamen Grundrepertoires an Fach- und Forschungsmethoden.
In Berlin dagegen haben die drei ersten Halbjahre der Qualifikationsphase mit den Inhalten „Individuum, Gesellschaft und sozialer Wandel“, „Soziale Marktwirtschaft“ sowie „Recht, Staat und Politik in Deutschland und Europa“ eindeutig einen disziplinären Schwerpunkt und erst das vierte Kurshalbjahr mit dem Inhalt „Wirtschaft und Gesellschaft, Recht und Politik im internationalen System“ verlangt eine Integration der Perspektiven (Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin 2006).
Argumente gegen ein Unterrichtsfach Sozialwissenschaften und für ein Unterrichtsfach Politik
Thomas Goll, Professor an der TU Dortmund, ist in Bezug auf die Möglichkeiten eines solchen Integrationsfaches hingegen skeptisch. Die „Gestalt von Unterrichtsfächern“ entspringe „einer administrativen Setzung“ und folge damit „nicht zwingend der fachdidaktisch am sinnvollsten erscheinenden Argumentation“ (Goll 2019, S. 113). Er kritisiert, dass eine empirische Basis für die vergleichende Beurteilung von mono- oder interdisziplinär ausgerichteten Fächerzuschnitten im Bereich der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften fehle. Seine Untersuchung zu Dortmunder Lehramtsstudierenden, die in Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie ausgebildet werden, deute jedoch darauf hin, dass diese für das Fach Sozialwissenschaften keine didaktischen Konzepte eines tatsächlich interdisziplinären Zugangs ausgebildet hätten. Externer Link: Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern? Interview mit Prof. Dr. Peter Massing (zum Podcast mit Projektinformationen in der Mediathek)
Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern? Interview mit Prof. Dr. Peter Massing
Um an Interdisziplinarität als Norm für das Unterrichtsfach Sozialwissenschaften festzuhalten, bedarf es nach Goll daher weitreichender Änderungen in der Lehramtsausbildung. Bisher, so schreibt er kritisch, lägen Anspruch und Wirklichkeit von Interdisziplinarität im Fach Sozialwissenschaften weit auseinander, und ohne empirische Studien bewege man sich in der Argumentation für oder gegen diese Integration „mehr im Bereich der Mythen als im Feld der Fakten“ (Goll 2019, S. 112).
Sozialwissenschaftliche Bildung oder Politik als Kern? Interview mit Prof. Dr. Karl-Heinz Breier
Ähnlich skeptisch ist auch Peter Massing. Im Podcast-Interview (s.u.) spricht er sich klar für „Politik als Kern“ der politischen Bildung aus. Er fordert, alle Unterrichtsthemen mit einer „politikwissenschaftlichen Brille“ zu betrachten und immer zu fragen, was am jeweils betrachteten Problem für die politische Entscheidungsfindung relevant ist. Dies würde etwa eine Unterrichtseinheit zum Thema „Die Bedeutung von Zöllen im internationalen Handel“ ohne Bezug zur Frage der politischen Gestaltung internationaler Handlungsbeziehungen ausschließen.
Auch Karl Heinz Breier betont im Podcast-Interview (s.u.), der Politikunterricht solle primär dazu beitragen, dass „wir uns zu politischen Menschen entwickeln mögen“ und „dass der Raum des Politischen“ in unserer Republik „aufrechterhalten wird“.
Bezug zur Kontroverse über Kompetenzorientierung und Konzeptlernen
Die Frage nach dem Zuschnitt und der Perspektive des Unterrichtsfaches fließt auch in die Diskussion der Politikdidaktik über die konkrete Ausgestaltung der Wissensdimension in den verschiedenen Kompetenzmodellen ein.
Demgegenüber haben die Autorinnen und Autoren einer kritischen Gegenposition zum genannten Modell, die alle für einen breiteren, sozialwissenschaftlichen Ansatz stehen, den Vorschlag von Wolfgang Sander für ein Set von sechs Basiskonzepten, nämlich „System“, „Akteure“, „Bedürfnisse“, „Grundorientierungen“, „Macht“ und „Wandel“, aufgenommen. Mit dem Basiskonzept „Bedürfnisse“ wird hier ein wichtiges ökonomisches und mit den Basiskonzepten „System“ und „Wandel“ werden zwei zentrale soziologische Konzepte für das Unterrichtsfach gesetzt. Die Autorinnen und Autoren begründen diese Auswahl ausdrücklich damit, dass eine Liste an Basiskonzepten für die politischen Bildung „Offenheit für die Pluralität der Sozialwissenschaften und für die Komplexität des Phänomens des Politischen“ verlange (Autorengruppe 2011, S.171).
Was muss man studieren, um Politik oder Sozialwissenschaften zu unterrichten?
Nicht nur der Zuschnitt des Schulfaches, sondern auch die Inhalte des Lehramtsstudiums unterscheiden sich in verschiedenen Bundesländern stark. Das Studium soll laut den „Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen“ der Kultusministerkonferenz (KMK 2019) politikwissenschaftliche, soziologische und wirtschaftswissenschaftliche Kompetenzen vermitteln. Auch in der Fachdidaktik ist unstrittig, dass Lehrerinnen und Lehrer der Politischen Bildung fachwissenschaftliche Kenntnisse über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft benötigen. Kontrovers diskutiert wird allerdings, ob sie diese Kenntnisse im Rahmen eines möglichst breit angelegten Studiums der Politikwissenschaft erwerben, oder besser alle drei Wissenschaftsdisziplinen – Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie – studieren sollten. Tatsächlich studieren die künftigen Lehrkräfte an den meisten Universitäten Politikwissenschaft.
Dabei enthält das politikwissenschaftliche Studium fast immer auch Lehrveranstaltungen zu gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fragen – aber je nach Universität in unterschiedlichem Maße. Andere Universitäten wiederum kombinieren Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft oder „Sozialwissenschaften“ mit Anteilen an Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaft. Dabei erfolgt die Ausbildung nicht immer kongruent zum jeweiligen Fachzuschnitt an den Schulen des entsprechenden Bundeslandes.
Vor- und Nachteile der verschiedenen Varianten des Studiums
Für die Studierenden, die später Politische Bildung unterrichten wollen, haben alle Varianten Vor– und Nachteile: Entweder müssen Studierende für nur ein Unterrichtsfach zwei oder gar drei sozialwissenschaftliche Disziplinen an zwei oder drei Instituten studieren – die Komplexität der einzelnen Disziplinen kann dann nur sehr begrenzt durchdrungen werden. Studieren die angehenden Lehrkräfte dagegen „nur“ Politikwissenschaft fehlen ihnen – je nach Studienort – unter Umständen soziologische oder ökonomische Kenntnisse.
Die Problematik der unterschiedlichen Studienfächer stellt sich verstärkt für den Sachunterricht, in dem die politische Bildung an der Grundschule beheimatet ist, sowie für das Fach „Gesellschaftslehre“, das an nicht-gymnasialen Schulformen immer üblicher wird und neben dem Fach Politische Bildung auch Geographie und Geschichte umfasst.
Dieses Problem beschäftigt natürlich vor allem angehende Lehrerinnen und Lehrer für Politische Bildung, wie die Studierenden der Universität Mainz, die in ihren Podcast-Interviews mit Prof. Dr. Sibylle Reinhardt eine Befürworterin eines Unterrichtsfaches Sozialwissenschaften sowie mit Prof. Dr. Peter Massing und Prof. Dr. Karl-Heinz Breier zwei Befürworter eines Unterrichtsfaches Politik interviewt haben (s. Podcast-Interviews oben).
Deren Positionen unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Konzeption des Unterrichtsfaches, sondern auch hinsichtlich der Vorstellungen zur Lehrerbildung: Peter Massing hält eine politikwissenschaftliche Ausbildung – sofern sie breit genug angelegt ist und wirtschaftliche sowie gesellschaftliche Themen einschließt – für ausreichend.
Karl-Heinz Breier spricht sich zwar wie Peter Massing für Politik als Kern der politischen Bildung aus, folgert daraus aber nicht, dass ein politikwissenschaftliches Studium notwendig besser sei als ein sozialwissenschaftliches.
Sibylle Reinhardt ist der Auffassung, die Studierenden könnten die Inhalte der drei Sozialwissenschaften selbst integrieren und überdies seien individuelle Präferenzen in Bezug auf die Disziplin, von der aus man sich die Welt primär erschließen möchte, denkbar und möglich. Sie plädiert deshalb ausdrücklich für ein Studium aller drei sozialwissenschaftlichen Disziplinen.
Einen nicht nur additiven, sondern integrierten sozialwissenschaftlichen Bildungsgang für Lehramtsstudierende halten alle Interviewten angesichts der Ausdifferenzierung der Wissenschaftsdisziplinen für nicht realisierbar.
Fazit
Die überwiegende Mehrheit der Didaktikerinnen und Didaktiker der Politik- und Sozialwissenschaften ist sich einig, dass wir ein gemeinsames Unterrichtsfach für die Inhalte aus Gesellschaft, Wirtschaft und Politik brauchen. In dieser Gemeinsamkeit liegt ein zentraler Unterschied zur Debatte über das Verhältnis von politischer und ökonomischer Bildung, in der zwar ähnliche Argumente vorgebracht werden, zusätzlich aber die Frage im Raum steht: „Brauchen wir ein eigenes Unterrichtfach Wirtschaft?“ (siehe auch Beitrag
Einzelne Passagen dieses Textes im Umfang von ca. 2500 Zeichen sind übernommen aus: Oberle, Monika/Pohl, Kerstin 2020: Politik in der Lehrerbildung – Professionalisierung für ein vielgestaltiges Unterrichtsfach, in: Cramer, Colin/König, Johannes/Rothland, Martin/Blömeke, Sigrid (Hrsg.): Handbuch Lehrerbildung (Neuausgabe). Bad Heilbrunn/Stuttgart (i.E.). Ich danke Monika Oberle für ihr Einverständnis zur Übernahme der Textpassagen.