Unter realem politischem Handeln wird in dieser Kontroverse meist "ein zielgerichtetes Verhalten der Bürgerinnen und Bürgern mit Bezug auf Politik und politische Entscheidungen" verstanden (Pickel 2012, S. 40). Die Frage, ob reales politisches Handeln im Unterricht und in Seminaren erlaubt ist, wird manchmal auch im Zusammenhang mit der Frage diskutiert, ob die politische Bildung
Kontrovers diskutiert wird vor allem, ob Lehrkräfte, die mit ihren Schülerinnen und Schülern im Rahmen des Unterrichts politische Aktionen durchführen, gegen das Überwältigungsverbot und das
Reales politisches Handeln im Politikunterricht? Interview mit Prof. Dr. Monika Oberle
Die Politikdidaktikerin Monika Oberle ist in Bezug auf das reale politische Handeln im Unterricht zurückhaltend und schreibt: "Politische Partizipation als Messlatte für erfolgreichen Unterricht verträgt sich schlecht mit dem ersten der Beutelsbacher Prinzipien, dem Überwältigungsverbot. Freiheit mündiger Bürger/-innen bedeutet auch Freiheit zum Nicht-Handeln […]. Wer das Gegenteil behauptet, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, die Lernenden überwältigen zu wollen" (Oberle 2013, S. 159). Gerade im schulischen Kontext könnten die Leistungsbewertung und gruppendynamische Prozesse "die freie Handlungsentscheidung einzelner Lernender" einschränken. Monika Oberle sieht eine Ausnahme bei politischen Aktionen zur "Verteidigung der grundlegenden Normen des Grundgesetzes" wie der Menschenwürde. Eine weitere zulässige Form des realen politischen Handelns besteht in ihren Augen darin, den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu bieten, parallel alternative Partizipationsgelegenheiten zu nutzen, etwa in Form unterschiedlicher Online-Petitionen (ebd.).
Auch der Politikdidaktiker Joachim Detjen ist skeptisch: Die "zum politischen Handwerk gehörenden Handlungen lernt man in Parteien, Verbänden und Bürgerinitiativen, also im realen politischen Leben. Was die Schule hingegen tun kann, ist, kognitive Voraussetzungen für späteres politisches Handeln zu schaffen, mithin über die verfassungsrechtlich zulässigen politischen Beteiligungsmöglichkeiten zu informieren" (Detjen 2012, S. 235). Aber auch er sieht Gelegenheiten zum politischen Handeln, die sich aus dem Unterricht ergeben. Diese seien aber darauf beschränkt, "dass eine Klasse auf Probleme in der Gemeinde aufmerksam macht oder in Planungen der Gemeinde interveniert" – zum Beispiel bei Spielplätzen oder Freizeitanlagen (ebd.).
Benedikt Widmaier hingegen, der in der außerschulischen politischen Bildung verankert ist, spricht sich für politisches Handeln im Rahmen politischer Bildung aus: Zur politischen Bildung gehöre auch die "Anregung und Begleitung von politischer Aktion" (Widmaier 2011, S. 145), weil nur so die zur Partizipation notwendigen Fähigkeiten trainiert würden. Zudem könnten die Lernenden dabei Selbstwirksamkeits-Erfahrungen machen: Sie erfahren, dass sie durch ihr Handeln die Politik beeinflussen können und diese Erfahrung werde zum "Motor" für weitere, eigenständige politische Partizipation (ebd., S. 148).
Weiter kann vorgebracht werden, dass nur der spezifische pädagogische Rahmen von Bildungsmaßnahmen die Chance zur intensiven und qualifizierten Reflexion von Erfahrungen politischen Handelns eröffnet, die von der politischen Praxis selbst nicht unbedingt geboten wird.
Mit Blick auf die Risiken und gegen das Argument einer besonderen Wirksamkeit realer politischer Partizipation wird in der Politikdidaktik häufig auf die Möglichkeit des simulativen Handelns verwiesen: Auch handlungsorientierte Makromethoden wie Planspiele oder die Simulation von Talkshows können nach Ansicht vieler Politikdidaktiker/-innen die methodischen, strategischen und kommunikativen Kompetenzen fördern, die zur politischen Partizipation notwendig sind und somit Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen. Allerdings gibt es dazu noch keine eindeutigen Forschungsergebnisse (vgl. z.B. Oberle/Leunig 2018).
Auch darüber hinaus steckt die empirische Forschung zur Entwicklung politischer Partizipationsfähigkeit noch in den Kinderschuhen – es gibt viele Hoffnungen, dass Partizipationserfahrungen die Motivation für weitere Partizipation erhöhen, aber es liegen wenig gesicherte Erkenntnisse dazu vor und die Ergebnisse der vorhandenen Studien sind widersprüchlich (vgl. Wohnig 2018a und die bei Weißeno/Landwehr 2018 sowie Wohnig 2018b referierten Ergebnisse mehrerer Studien).
Reales politisches Handeln im Politikunterricht? Interview mit Dr. Alexander Wohnig
Alexander Wohnig berichtet im Podcast aus seiner Forschung, dass vor allem bildungsbenachteiligte Gruppen sich nicht in der Lage und auch nicht berechtigt fühlen, politisch zu handeln. Vor allem für diese Gruppen sollte die Erfahrung politischen Handelns im öffentlichen Raum ermöglichen werden, um das Gefühl der Selbstwirksamkeit zu fördern. Ein Modellprojekt zur Erprobung und wissenschaftlichen Erforschung politischer Aktionen im Rahmen von Bildungsmaßnahmen (Modellprojekt "Politische Partizipation als Ziel der politischen Bildung"), hat nach seiner Auffassung zudem gezeigt, dass außerschulische politische Bildungsträger, die üblicherweise subjektorientierter und aktionsorientierter arbeiten als die Schule, als Kooperationspartner Lehrkräfte und Schulklassen unterstützen können, entsprechend pädagogisch-didaktisch eingebettete politische Aktionen durchzuführen und zu reflektieren. In Bezug auf Demonstrationen schlägt Alexander Wohnig allerdings wie auch Monika Oberle im Podcast vor, Demonstrationen eher als Lernort zu verstehen: Nach gemeinsamer Vorbereitung im Unterricht sollte eine primär beobachtende Teilnahme und daran anschließend eine Auswertung des Besuchs im Unterricht erfolgen (vgl. auch Wohnig 2018a; 2018b).
Frank Nonnenmachers eingangs zitierte Frage, wie Lehrende reagieren sollten, wenn der Wunsch zur politischen Partizipation von den Lernenden selbst geäußert wird, ist damit aber noch nicht vollständig beantwortet. Er selbst plädiert wie auch Alexander Wohnig für das gemeinsame politische Handeln mit den Schülerinnen und Schülern, allerdings nur, wenn folgende Bedingungen gegeben sind: "Das sich aus dem Unterricht heraus ergebende politische Engagement muss erstens auf einer möglichst breiten Wissensbasis in Bezug auf das Thema erfolgen. Eine Sachanalyse muss vorausgehen. Zweitens muss die eigentliche Aktion für jeden einzelnen Teilnehmenden, Lehrer wie Schüler, absolut freiwillig sein, d.h. in aller Regel auch außerhalb der offiziellen Unterrichtszeit. Abstinenzen dürfen nicht diffamiert oder sanktioniert werden. Drittens muss eine demokratische Öffentlichkeit hergestellt werden. Sie sorgt für die damit verbundene sichtbare Verantwortungsübernahme der ‚Aktivisten‘ und für ein Klima der Diskursivität, das die Persönlichkeit entwickelt und weitere Lernanlässe begründet" (Nonnenmacher 2010, S. 466). Sind diese Bedingungen erfüllt, so ist die politische Aktivität der Schüler/-innen nach Ansicht von Frank Nonnenmacher "nicht nur legitim, sondern im Sinne einer aufklärerischen und kritischen politischen Bildung erwünscht" (Nonnenmancher 2011, S.96).
Politisches Handeln in der außerschulischen politischen Bildung
Anders als in der schulischen politischen Bildung hat die Aktionsorientierung, wie auch Alexander Wohnig im Podcast ausführt, in der außerschulischen politischen Bildung eine ganz andere Tradition: Sie ist Teil ihrer Geschichte. Nicht nur politisch ausgerichtete Bildungsträger wie Gewerkschaften oder parteinahe Stiftungen, sondern sogar die Volkshochschulen verstanden sich häufig als Teil der politischen Öffentlichkeit. So gehörten in Volkshochschulen in den 1970er-Jahren zum Beispiel Stadtteilarbeit in Form der Unterstützung oder sogar Gründung kommunalpolitisch aktiver Bürgerinitiativen sowie Zielgruppenarbeit, die der Solidarisierung mit Frauen, Lehrlingen, Arbeitslosen oder anderen benachteiligten Gruppen galt, vielerorts zum Selbstverständnis. Schon damals gab es allerdings auch Kritik an dieser Aktionsorientierung, die später zunahm: Die Trennung von Lernen und Handeln, von Aktion und Reflexion wurde immer stärker eingefordert (vgl. Hufer 2012, S. 324-329).
Trotzdem spielt das politische Handeln in der außerschulischen politischen Bildung auch heute noch eine größere Rolle als in der schulischen politischen Bildung. Die Gefahr der Indoktrination ist geringer, weil die Teilnehmenden freiwillig kommen, überwiegend bereits erwachsen sind, weil sie den Veranstaltungen jederzeit wieder fernbleiben können und weil sie keine Zensuren erhalten. Die außerschulische politische Bildung kann deshalb auch heute noch die Chance ergreifen, "in einer durch Pluralisierung, Vielfalt und Differenz sowie der daraus resultierenden Unübersichtlichkeit gekennzeichneten politischen Kultur gestaltend und vermittelnd zu wirken" (Beer 2004, S. 43). Sie kann einen Teil der politisch wirksamen demokratischen Öffentlichkeit bilden, denn "sie gibt den Raum ab, indem die neuen politischen Themen und Forderungen artikuliert, begründet und verteidigt werden" (Massing 2011, S. 161).