Hans Friedrich Hermann Tietgens (1922-2009) wurde in Langenberg im Rheinland geboren. Er besuchte dort von 1928 bis 1940 zunächst die Volksschule, dann ein Reformgymnasium. Nach dem Abitur war er bis September 1940 im Reichsarbeitsdienst verpflichtet, ab 1. Oktober studierte er zwei Semester an der Universität Münster. Von 1941 bis 1945 diente er als Soldat in Griechenland, wo er das Kriegsende erlebte und für kurze Zeit in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet.
23-jährig kehrte er nach Deutschland zurück und setzte sein Studium an der Universität Bonn fort, das er 1952 mit einer Promotion in neuer Literaturwissenschaft abschloss. Über einen "Dramaturgischen Arbeitskreis" an der Universität bekam er Kontakt zur Volkshochschule Bonn. Gleichzeitig war er Mitglied der "Deisfelder Gruppe", der "Arbeitsgruppe Student und Erwachsenenbildung e.V." mit Sitz in Frankfurt, in der "ganz grundsätzlich über politische Bildung" gesprochen wurde (Tietgens 1992, S. 214).
Tietgens trat Ende der 1940er Jahre in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund ein, dessen Bundesgeschäftsführer er von 1951 bis 1954 war. Gleichzeitig studierte er Sozialwissenschaften in Hamburg und arbeitete freiberuflich in der Erwachsenenbildung. 1954 wechselte an die Heimvolkshochschule Hustedt. Danach war er zunächst pädagogischer Leiter des Landesverbandes der Volkshochschulen in Niedersachsen, dann engagierte er sich als Tutor in der Ausbildung von Jugendreferenten für die politische Bildung. Von 1960 bis 1991 leitete er die Pädagogische Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschulverbands (DVV). Von 1979 bis 1991 war er Honorarprofessor für Erwachsenenbildung an der Universität Marburg. Hans Tietgens starb am 8. Mai 2009 in Eschborn.
Tietgens beteiligte sich engagiert an Debatten um die politische Bildung, die er als einen wichtigen und unverzichtbaren Teil der Erwachsenenbildung ansah, aber nicht mit Erwachsenenbildung gleichsetzte. Tietgens nahm für sich selbst in Anspruch, in der politischen Bildung einen "dritten Weg zu verfolgen" zwischen staatsbürgerlicher Bildung auf der einen (Erich Weniger) und mitbürgerlicher Bildung (Fritz Borinski) sowie einer auf Gemeinschaft bezogenen politischen Bildung (Friedrich Oetinger) auf der anderen Seite. Er betonte ihre gesellschaftliche Perspektive (bed.).
1998 definierte er politische Bildung folgendermaßen: "Es geht darum, via politischer Bildung etwas mehr Verständnis zu bekommen für die Welt, in der man lebt, für die Zusammenhänge, die dort existieren; daß man sich nicht auf Grund irgendeines Einzelfalls ein Urteil bildet, sondern daß man es in einen Zusammenhang stellt mit anderen möglichen Realitäten, anderen möglichen Beurteilungen" (Schlaffke/ Tietgens 1998, S. 16).
Aufgabe politischer Bildung ist es, sich an der gesellschaftlichen Realität zu orientieren und sie in ihrem jeweiligen historischen Kontext zu verorten. Dies führt zu unterschiedlichen Schwerpunkten und perspektivischen Verschiebungen, die in Wechselwirkung mit dem Zeitgeist reflektiert werden sollten. Tietgens diskutierte politische Bildung im Zusammenhang mit der Arbeiterbildung, der Jugend- und Erwachsenenbildung und machte sich Gedanken über Methoden, Zugänge und Schwerpunkte und zur Handlungsorientierung.
Politische Bildung solle sich an alle Erwachsenen wenden und, im Sinne der Teilnehmerorientierung, von ihren Interessen ausgehen, ohne dass unterschiedliche Meinungen diskriminiert werden. Ziel politischer Bildung müsse es sein, "so viele Bürger eines Gemeinwesens wie möglich zu befähigen, ihre Optionen mit abgewogenen Situationsentscheidungen [zu] begründen und gegenüber Überredungskünsten und Meinungsmanipulationen Widerstand leisten [zu] können" (Tietgens 1979, S. 26). Politische Bildung soll zu Autonomie und Mitbestimmung führen, so Tietgens. Er erteilte parteipolitischer Instrumentalisierung ebenso eine Absage wie einer parteiischen politischen Bildung. Politische Bildung solle vielmehr, entsprechend dem Beutelsbacher Konsens, das Kontroversitätsgebot beachten.
Politische Bildung liegt nach Tietgens im Verantwortungsbereich des Staates, gleichzeitig wandte sich gegen Tendenzen von Ökonomisierung und Instrumentalisierung. Kennzeichen der Rationalität politischer Bildung sei es, wenn sie dazu beitrage, "für politische Phänomene sensibilisiert und zum Nachdenken über Hintergründe angeregt zu werden. […] Politische Bildung muß erkennen, was sich verändern läßt und was nicht veränderbar ist" (Tietgens 1992, S. 2016).
Der Text wurde übernommen aus dem Band: Wolfgang Sander / Peter Steinbach, Politische Bildung in Deutschland. Profile, Personen, Institutionen, Bonn 2014. Erschienen in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1449.