Re-Education: Durch Umerziehung zur Demokratie?
Wie sollte man neu beginnen in der politischen Bildung, nach Krieg und Nationalsozialismus? In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg waren die meisten Deutschen mit den Sorgen um das tägliche Überleben beschäftigt. Die ersten Initiativen für eine neue, demokratische politische Bildung gingen von den Besatzungsmächten aus, vor allem von den USA. Die USA wollten durch eine "Re-Education" (Umerziehung, Neuerziehung) endlich die Grundlagen für eine deutsche Demokratie schaffen. In Vorschlägen einer amerikanischen Erziehungskommission von 1948 heißt es dazu: "Schon die Erhaltung einer Demokratie fordert von jedem einzelnen Bürger Wissen und klares soziales Zielbewusstsein. Wie viel mehr gilt dies für ihren Aufbau von Grund aus! (...) Das einzige und beste Werkzeug, um noch im gegenwärtigen Geschlecht in Deutschland eine Demokratie zu errichten, ist die Erziehung." (zit. nach Sander 2013, 89)
Für dieses Ziel förderten die USA die Mitbestimmung von Eltern und Schülerschaft in den Schulen, die außerschulische Jugendbildung und Bemühungen um ein eigenes Schulfach für die politische Bildung. Aber es gab auch Widerstände: Die Gesamtschule, die die USA wollten, ließ sich nicht durchsetzen, und auch bei dem Fach für die politische Bildung taten sich viele deutsche Länder zunächst schwer – als erstes führte es Hessen 1946 ein. Die Re-Education-Politik lief nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1949 aus.
Im Dienst der Partei: politische Erziehung in der DDR
Im Osten Deutschlands wurde die Schule zwischen 1945 und 1949 nach und nach auf die Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) verpflichtet. Für die politische Erziehung gab es nach der Gründung der DDR (1949) zunächst ein Fach namens "Gegenwartskunde", das dann 1957 von der "Staatsbürgerkunde" abgelöst wurde. Der Unterricht in diesen Fächern sollte strikt der jeweiligen politischen Linie der SED folgen. Auch andere Fächer, besonders Geschichte, wurden auf den Marxismus-Leninismus, die Weltanschauung der SED, festgelegt. In der Bevölkerung gab es deshalb sehr viel Unmut über die "Stabü". Die Abschaffung dieses Faches war eines der wichtigsten schulpolitischen Ziele der Bürgerbewegung, die 1989 zum Sturz der SED-Herrschaft führte. Nach der deutschen Vereinigung 1990 wurden auch in den ostdeutschen Bundesländern Konzepte der westdeutschen politischen Bildung in den Schulen übernommen.
Schwieriger Neubeginn: Kontroversen der 1950er-Jahre
Dabei hatten sich die Westdeutschen erst einmal schwergetan mit der politischen Bildung. In den 1950er-Jahren gab es zwei große Streitfragen: Braucht es für eine neue, demokratische politische Bildung ein eigenes Schulfach, oder genügt es, wenn andere Fächer diese Aufgabe mit übernehmen? Erst nach und nach setzte sich politische Bildung als eigenes Fach in allen Bundesländern durch. Aber das Schulfach bekam verschiedene Namen, z.B. Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Politische Bildung, und dabei ist es bis heute geblieben. Die zweite Streitfrage war: Sollte man wieder an einer Erziehung zum Staat ansetzen, wie es sie vor dem Nationalsozialismus schon gab, oder brauchte es einen ganz anderen Ansatz? Für den zweiten Weg trat
Auf dem Weg zur Wissenschaft: "didaktische Wende" in der politischen Bildung in den 1960er-Jahren
Beide Kontrahenten waren Pädagogen, eine eigene Wissenschaft von der politischen Bildung, die Politikdidaktik (oder Didaktik der politischen Bildung), gab es noch nicht. Das änderte sich in den 1960er-Jahren. Jetzt wurden die ersten Professuren für diese neue Wissenschaft eingerichtet und es wurden erste wissenschaftliche Theorien zur Begründung der Ziele, zur Auswahl der Themen und zu den Methoden des Unterrichts im Fach entwickelt. Wichtige Wissenschaftler in dieser Zeit waren
1968 und die Folgen
Doch kaum war diese neue Wissenschaft begründet, geriet sie in harte politische Konflikte. Die Studentenbewegung ("1968er") wollte grundlegende Veränderungen erkämpfen, vor allem Demokratie in allen Lebensbereichen und die Überwindung des Kapitalismus. Auch in der politischen Bildung setzten sich jetzt Autoren dafür ein, dass das Fach die Demokratisierung der Gesellschaft betreiben sollte. Dagegen wandten sich andere, die durch die politische Bildung die bestehende Ordnung in Politik und Wirtschaft verteidigt sehen wollten. Besonders in den frühen 1970er-Jahren gab es deshalb heftige Konflikte in einigen Bundesländern um neue Schulbücher und Lehrpläne für die politische Bildung. Dabei geriet das Fach auch in parteipolitische Kontroversen, damals zwischen SPD und FDP einerseits und CDU/CSU andererseits. So gelang es in Hessen erst nach zehn Jahren politischer Auseinandersetzung, neue Lehrpläne für das Fach in Kraft zu setzen.
Der "Beutelsbacher Konsens" 1976
In der wissenschaftlichen Fachdiskussion gibt es ein konkretes Datum, an dem dieser Streit zu Ende ging. Im Jahr 1976 lud die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg die führenden Wissenschaftler aus allen Bundesländern und verschiedenen politischen Lagern zu einer Fachtagung ins schwäbische Beutelsbach ein. Gegenstand der Tagung war die Frage, ob es in der politischen Bildung einen Minimalkonsens geben kann und muss. Darüber gab es auf der Tagung zwar keinen formellen Beschluss. Siegfried Schiele, der damalige Leiter der Landeszentrale, hatte aber Hans-Georg Wehling beauftragt, im Nachgang der Tagung niederzuschreiben, wo in der Debatte zwischen den Lagern ein Konsens erkennbar gewesen war. In seinem Text
"Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler ... im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der 'Gewinnung eines selbstständigen Urteils' zu hindern. ...
Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen. ...
Der Schüler muß in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren, sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen." (zit. nach Sander 2013, 147)
QuellentextDer Beutelsbacher Konsens im Wortlaut
I. Überwältigungsverbot.
Es ist nicht erlaubt, den Schüler - mit welchen Mitteln auch immer - im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der "Gewinnung eines selbständigen Urteils" zu hindern . Hier genau verläuft nämlich die Grenze zwischen Politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der - rundum akzeptierten - Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muss, die den Schülern (und anderen Teilnehmern politischer Bildungsveranstaltungen) von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind.
Bei der Konstatierung dieses zweiten Grundprinzips wird deutlich, warum der persönliche Standpunkt des Lehrers, seine wissenschaftstheoretische Herkunft und seine politische Meinung verhältnismäßig uninteressant werden. Um ein bereits genanntes Beispiel erneut aufzugreifen: Sein Demokratieverständnis stellt kein Problem dar, denn auch dem entgegenstehende andere Ansichten kommen ja zum Zuge.
3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren,
sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene politische Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich - etwa gegen Herman Giesecke und Rolf Schmiederer - erhobene Vorwurf einer "Rückkehr zur Formalität", um die eigenen Inhalte nicht korrigieren zu müssen, trifft insofern nicht, als es hier nicht um die Suche nach einem Maximal-, sondern nach einem Minimalkonsens geht.
Quelle: Hans-Georg Wehling in: Siegfried Schiele/Herbert Schneider (Hrsg.): Das Konsensproblem in der politischen Bildung. Stuttgart 1977, S.179/180
Diese Interpretation fand im Fach breite Zustimmung. Mit diesem "Beutelsbacher Konsens" wurde klargestellt, dass politische Bildung weder für die Veränderung der Gesellschaft kämpfen noch gegen Veränderungen eintreten darf, sondern unterschiedliche Positionen darstellen und junge Menschen befähigen muss, ihre eigenen, gut begründeten Urteile zu bilden. Der "Beutelsbacher Konsens" ist bis heute ein grundlegendes Dokument für die politische Bildung in der Schule geblieben, auch weit über Deutschland hinaus. Mit ihm wird betont, dass die berufliche Aufgabe von Lehrerinnen und Lehrern im Fach von ihren persönlichen Meinungen weitgehend unabhängig ist, denn sie sollen nicht für ihre Position werben, sondern jungen Menschen helfen, ihre eigenen Positionen zu finden.
Nach PISA: Kompetenzen durch politische Bildung
Die jüngere Entwicklung im Fach ist sehr stark durch die Folgen der ersten PISA-Studie aus dem Jahr 2000 geprägt. Dieser internationale Vergleichstest zu Schulleistungen zeigte ein sehr schwaches Resultat für deutsche Schulen. In der Folge führten die Kultusminister der Länder ab 2004 für einige Fächer Bildungsstandards ein. In ihnen wird festgelegt, über welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler in den wichtigsten Abschnitten ihrer Schullaufbahn verfügen sollen.
Die politische Bildung war davon zunächst gar nicht betroffen. Aber wie in den meisten anderen Fächern auch, wurde aus dem Fach heraus ein eigener Entwurf für nationale Bildungsstandards entwickelt. Dies übernahm die 1999 neu und ergänzend zur DVPB gegründete wissenschaftliche Fachgesellschaft, die
Politische Urteilsfähigkeit
Politische Handlungsfähigkeit
Methodische Fähigkeiten.
Zu allen drei Bereichen werden in dem Text konkrete Ziele für die Grundschule, die Sekundarstufe I, die gymnasiale Oberstufe und die Beruflichen Schulen genannt (GPJE 2004). Die Didaktik der politischen Bildung wollte damit zeigen, dass sich die Ziele des Faches in der Schule unabhängig von politischen Meinungen konkret beschreiben lassen – und zwar so, dass es nicht um Stofflernen geht, sondern um die Anwendung von Wissen für die Auseinandersetzung mit praktischen politischen Problemen.
Die Fachdiskussion in Wissenschaft und Praxis dreht sich seitdem hauptsächlich um die damit verbundenen Probleme und Fragen – so etwa, wie sich Kompetenzen erforschen lassen, wie das Verhältnis von Kompetenzen und Wissen ist, was Kompetenzen konkret für den Unterricht bedeuten und wo die Grenzen der Kompetenzorientierung liegen.