Der schöne Schein: Politische Bildung als fest etablierte schulische Bildungsaufgabe
In Deutschland herrscht Schulpflicht. Zu den als selbstverständlich geltenden schulischen Bildungsaufgaben zählt auch die politische Bildung. Folglich entgeht niemand, der in Deutschland die Schule besucht, der politischen Bildung. Man könnte also zum einen von zwangsweise verabreichter politischer Bildung sprechen. Man könnte zum anderen aber auch von höchst wirksamer politischer Bildung sprechen, erfasst sie doch ausnahmslos jeden. Der Unterschied zur außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung, die auf freiwillige Teilnahme angewiesen sind, ist jedenfalls offensichtlich.
Es gibt zwei schulische Unterrichtsfächer mit Verfassungsrang. Verfassungsrang bedeutet, dass diese Fächer weitgehend vor Abschaffung oder tief greifender Veränderung geschützt sind. Im einen Fall handelt es sich um den Religionsunterricht. Im anderen Fall handelt es sich nicht direkt um ein Fach, sondern um die Bildungsaufgabe "politische Bildung". Diese Aufgabe hat aber fachliche Konsequenzen.
Viele Landesverfassungen enthalten Vorgaben für die schulische Bildung und Erziehung. In diesen Vorgaben ist immer wieder die Rede davon, dass die jungen Menschen im Geiste von Freiheit, Demokratie und Völkerversöhnung sowie zu freiheitlicher demokratischer Haltung und zur Bereitschaft, politische Verantwortung zu übernehmen, zu erziehen sind (Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen). Diese Vorgaben bedeuten nicht zwingend die Einrichtung eines eigens dafür vorgesehenen Unterrichtsfaches, sie legen eine solche Einrichtung aber zumindest nahe. Denn die gewünschten Haltungen können sich nur dann entwickeln, wenn sie sich mit Kenntnissen über Freiheit, Demokratie und internationale Politik verbinden. Diese Kenntnisse entwickeln sich jedoch nicht nebenbei, sondern verlangen im Grunde einen fachlich fundierten Unterricht. Es gibt ein Bundesland, dessen Verfassung das der politischen Bildung gewidmete Unterrichtsfach aber ausdrücklich garantiert. Es ist Baden-Württemberg, dessen Verfassung in Artikel 21 Absatz 2 vorschreibt: "In allen Schulen ist Gemeinschaftskunde ordentliches Lehrfach."
Generell betrachtet erscheint die Lage der schulischen Bildung also alles andere als kritisch zu sein. Nicht nur in Baden-Württemberg, sondern in allen Ländern gibt es seit Jahrzehnten ein der politischen Bildung dienendes Unterrichtsfach, dessen Bezeichnung allerdings variiert. Und damit gibt es in allen Ländern auch Lehrpläne, die Inhalte, Ziele und Vermittlungsweisen des Politikunterrichts mehr oder minder detailliert vorschreiben. Dass der Politikunterricht im Kanon der Schulfächer einen besonderen Rang einnimmt, zeigt sich insbesondere dann, wenn neue Lehrpläne verabschiedet werden sollen. Weil die politische Bildung ein ideologieanfälliges Unternehmen ist, stellen die Lehrpläne des dazu eingerichteten Unterrichtsfachs ein Politikum ersten Ranges dar. Sie bewegen wie bei kaum einem anderen Schulfach die politische Öffentlichkeit. All dies scheint zu bestätigen, dass die schulische politische Bildung eine Angelegenheit ist, die allgemein für wichtig gehalten wird.
Die triste Wirklichkeit: Der Politikunterricht als randständiges Schulfach
Der Politikunterricht gehört zu den jungen Schulfächern. Es gibt ihn in Deutschland erst seit dem Zweiten Weltkrieg. Denn der in der Weimarer Republik unternommene Versuch, an den Schulen eine Staatsbürgerkunde einzuführen, hatte sich nicht durchsetzen können. Zwangsläufig betraten die Kultusverwaltungen also Neuland. Übereinstimmung bestand lediglich darin, dass Politik und Gesellschaft zu den zentralen Gegenständen des neuen Faches gehören sollten. Eine Folge der fehlenden Tradition war, dass das Fach keine einheitliche Bezeichnung erhielt. Dieser für die Identitätsbildung des Faches sehr ungünstige Zustand dauert bis in die Gegenwart an. Jedes Land folgt hinsichtlich der Fachbenennung eigenen Vorlieben. Folgende Namen sind im Umlauf: Sozialkunde, Gemeinschaftskunde, Politische Bildung, Politik, Politikwissenschaft und Sozialwissenschaften. Kein anderes Schulfach leidet unter einem solchen begrifflichen Wirrwarr.
Dass der Politikunterricht so spät Aufnahme in den schulischen Fächerkanon fand, hatte weiterhin zur Folge, dass er in den Stundentafeln nur nachrangig behandelt wurde. Aus Sicht der Vertreter/-innen der etablierten Fächer war das neue Fach nämlich ein Eindringling, dem man nur ungern Stunden überlassen wollte. Im Unterschied zum neuen Fach hatten die etablierten Fächer in den Ministerien ihre Fürsprecher, und so kam es, dass sich der Politikunterricht bis heute mit einer sehr geringen Stundenausstattung zufrieden geben muss. In der Grundschule ist er nur indirekt vertreten, nämlich mit einigen Themen im Rahmen des Heimat- und Sachunterrichts. In der Sekundarstufe I (Jahrgangsstufen 5 bis 10) taucht er in der Regel mit einer oder zwei Wochenstunden in den Jahrgangsstufen 8 bis 10 auf. In der Sekundarstufe II der Gymnasien (Jahrgangsstufen 11, 12 und 13) gibt es zwar Politikunterricht, aber er genießt selten den Status eines Pflichtfaches. Sein Status ist der eines Angebotsfaches, das gewählt werden kann, aber nicht muss. Er steht dabei in Konkurrenz zu anderen Fächern aus dem gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld. Zu diesen anderen Fächern gehören neben Geographie häufig Wirtschaftswissenschaft und Rechtskunde sowie manchmal noch Pädagogik und Psychologie.
Wie schwach die Stellung des Politikunterrichts ist, zeigt sich dann besonders deutlich, wenn man ihn mit der Lage seiner Nachbarfächer vergleicht. Nachbarfächer sind der Geschichts- und der Geographieunterricht. Vor allem das Fach Geschichte kann sich über mangelnde Stundenausstattung nicht beklagen. In den Stundentafeln aller Länder ist Geschichte in den Jahrgangsstufen 6 bis 10 mit in der Regel zwei Wochenstunden fest etabliert. Und in der gymnasialen Oberstufe vieler Länder gehört die Geschichte zum Pflichtprogramm, das bis zum Abitur absolviert werden muss. Der Erdkundeunterricht ist etwas schwächer verankert. Seine Stundenanteile in der Sekundarstufe I sind im Verhältnis zur Geschichte geringer, übertreffen die des Politikunterrichts aber deutlich. In der gymnasialen Oberstufe ist seine Stellung mit der des Politikunterrichts in etwa vergleichbar.
Wie kaum ein anderes Schulfach ist der Politikunterricht vom deutschen Föderalismus und dem darauf beruhenden Eigensinn der Länder in der Bildungspolitik betroffen. So gibt es auf der einen Seite einige Länder, die sich für eine Gleichwertigkeit von Politik- und Geschichtsunterricht in der gymnasialen Oberstufe entschieden haben (Berlin, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz). Völlig entgegengesetzt ist die Lage hingegen in Bayern. In Bayern fristet die Sozialkunde an den normalen Gymnasien – in den wenigen Gymnasien mit sozial- und wirtschaftswissenschaftlichem Profil ist die Situation anders – ein kaum wahrnehmbares Schattendasein. Während der gesamten achtjährigen Schullaufbahn erhalten die Schülerinnen und Schüler drei Wochenstunden (!) Unterricht in Sozialkunde, nämlich in den Jahrgangsstufen 10, 11 und 12 jeweils eine Wochenstunde. Dabei ist dieser Unterricht auch noch mit dem Geschichtsunterricht verbunden. Es erstaunt angesichts dieser Verhältnisse nicht, dass Sozialkunde in Bayern kein eigenständiges Abiturfach ist. Sozialkunde kann nur zusammen mit Geschichte geprüft werden, wobei der Geschichte das deutlich größere Gewicht zukommen muss. Ganz offensichtlich setzt Bayern die politische Bildung weitgehend mit dem Geschichtsunterricht gleich. Jahrzehntelange Bemühungen um eine Verbesserung der Situation für die Sozialkunde konnten keine wesentlichen Änderungen bewirken.
Ein weiteres Anzeichen für die schwache Verankerung des Wirklichkeitsbereiches Politik in den gymnasialen Lehrplänen ist der Sachverhalt, dass das Unterrichtsfach in mehreren Bundesländern eine Degradierung zum Kombinationsfach Politik und Wirtschaft erdulden musste. Dies geschah, weil die Kultusverwaltungen dem Druck von Wirtschaftsverbänden nachgegeben hatten. Letztere hatten die Thematisierung wirtschaftlicher Sachverhalte durch den klassischen Politikunterricht für nicht ausreichend gehalten und setzten auf eine eigenständige ökonomische Bildung. Weil die Länder aber kein neues Fach einführen wollten, wurde die ökonomische Bildung in das bestehende Fach integriert. In den nichtgymnasialen Schulformen ist die Kombination von politischer Bildung mit anderen Fächern schon länger üblich. So gibt es an den bayerischen Hauptschulen das Kombinationsfach Geschichte, Sozialkunde, Erdkunde. Die Sozialkunde hat dabei die geringsten Stundenanteile.
Die folgende Tabelle veranschaulicht die landestypischen Bezeichnungen des für die politische Bildung vorgesehenen spezifischen Unterrichtsfaches an den Gymnasien.
Land | Sekundarstufe I | Sekundarstufe II |
Baden-Württemberg | Gemeinschaftskunde | Gemeinschaftskunde |
Bayern | Sozialkunde | Sozialkunde |
Berlin | Politische Bildung (Jahrgangsstufen 5 und 6) Sozialkunde (Jahrgangsstufen 7 bis 10) | Politikwissenschaft (alternativ: Sozialwissenschaften) |
Brandenburg | Politische Bildung | Politische Bildung |
Bremen | Politik | Politik |
Hamburg | Politik / Gesellschaft / Wirtschaft | Politik / Gesellschaft / Wirtschaft |
Hessen | Politik und Wirtschaft | Politik und Wirtschaft |
Mecklenburg-Vorpommern | Sozialkunde | Sozialkunde |
Niedersachsen | Politik-Wirtschaft | Politik-Wirtschaft |
Nordrhein-Westfalen | Politik | Sozialwissenschaften |
Rheinland-Pfalz | Sozialkunde | Sozialkunde |
Saarland | Sozialkunde | Sozialkunde |
Sachsen | Gemeinschaftskunde / Rechtserziehung / Wirtschaft | Gemeinschaftskunde / Rechtserziehung / Wirtschaft |
Sachsen-Anhalt | Sozialkunde | Sozialkunde |
Schleswig-Holstein | Wirtschaft / Politik | Wirtschaft / Politik |
Thüringen | Sozialkunde | Sozialkunde |
Argumente zur Beschwichtigung: Politische Bildung findet doch nicht nur im Fachunterricht statt!
Dass die Lage des spezifischen Fachunterrichts in politischer Bildung nicht befriedigend ist, wird allgemein zugegeben. Zugleich aber weisen diejenigen, die diese Lage zu verantworten haben, gerne darauf hin, dass politische Bildung ja nicht nur im spezifischen Unterrichtsfach stattfindet.
Politische Bildung, so das Argument, werde auch in anderen Unterrichtsfächern betrieben. Denn viele Fächer wiesen Bezüge zur Politik auf. So befasse sich der Geschichtsunterricht fast ausschließlich mit Politik, wenn diese auch längst vergangen sei. Im Geographieunterricht würden politische Fragen thematisiert, sofern sie etwas mit Raumgegebenheiten zu tun hätten. Im Fremdsprachenunterricht werde in die landesspezifische Kultur, Gesellschaft und Politik eingeführt. Im Deutschunterricht werde Literatur gelesen, die nicht selten politisch engagiert sei. Für die Mitreflexion politischer Aspekte in den Sachgebieten anderer Fächer hat sich die Bezeichnung politische Bildung als Unterrichtsprinzip eingebürgert.
Es gibt aber noch weitere Argumente zur Beschwichtigung, etwa den Hinweis, dass politische Bildungseffekte auch durch Interaktionen in der Schule erzielt würden. Denn in gewisser Weise fungiere die Schule als politischer Erfahrungsraum. So gebe es in der Schule Chancen, politisch zu handeln, auch wenn zuzugeben sei, dass diese begrenzt seien. Die Schule räume den Schülerinnen und Schülern jedenfalls bestimmte Möglichkeiten ein, am Schulleben mitzuwirken. So gebe es die Klassensprecherwahl und existiere ein Schülerrat. Manche Klassen besprächen ihre gemeinsamen Angelegenheiten in einem Klassenrat. Die Beteiligten lernten auf diese Weise etwas über Regeln, Macht, Konflikte und Konfliktlösungen, also etwas über Politik im weitesten Sinne.
Schließlich wird auch noch angeführt, dass der eine Schule prägende Interaktionsstil politische Bildungswirkungen habe. Der Umgang der Lehrkräfte mit ihren Klassen wie auch die praktizierten Unterrichtsformen strahlten implizite politische Botschaften aus. Dies werde klar, wenn man einen autoritär-hierarchischen mit einem demokratisch-symmetrischen Unterrichtsstil vergleiche.
Den dargestellten Beschwichtigungsargumenten kann eine gewisse Berechtigung nicht abgesprochen werden. Es lässt sich nicht bestreiten, dass es politische Bildung auch außerhalb des Fachunterrichts gibt. Dennoch bleibt die Lage letztlich unbefriedigend. Denn ein Politikunterricht, der von fachlich einschlägig ausgebildeten Lehrkräften verantwortet wird, ist durch nichts zu ersetzen.