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Gewerkschaftliche Bildungsarbeit

Lothar Wentzel

/ 6 Minuten zu lesen

Die gewerkschaftliche Bildungsarbeit versteht sich ausdrücklich als politische Erwachsenenbildung. Sie ist handlungsorientiert und will lohnabhängige Beschäftigte zu einer aktiven Vertretung ihrer Interessen befähigen.

Gedenkveranstaltung der DGB Jugend München zum Oktoberfestattentat am 26.09.1980. (© Alexander Klier/ CC0 1.0 Universal (CC0 1.0) )

1. Aufgaben

Die Gewerkschaften nehmen für sich ein politisches Mandat in Anspruch. Sie wollen über die Einkommens- und Arbeitsbedingungen hinaus die gesamten Lebensverhältnisse der lohnabhängigen Bevölkerung verbessern. Dies betrifft auch den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, den Ausbau demokratischer Strukturen und die Sicherung des inneren und äußeren Friedens. Diese Themen sind auch Gegenstand der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit.

Kernaufgabe der Bildungsarbeit in den Gewerkschaften ist die Entwicklung von politischer Handlungsfähigkeit. Das betrifft insbesondere die Interessenvertretungsarbeit in den Betrieben. Grundlage für ein zielgerichtetes politisches Handeln ist der Verständigungsprozess über die eigenen Interessenlagen und die Ziele und strategische Ausrichtung der gewerkschaftlichen Arbeit. Handlungsfähigkeit erfordert weiterhin einen aktiven, kritischen Umgang mit wesentlichen fachlichen Kenntnissen aus Bereichen wie Ökonomie, Arbeitsrecht, Tarifpolitik usw., aber auch arbeitsorganisatorische, soziale und kommunikative Kompetenzen.

Ziel ist Hilfe zur Selbsthilfe: die Stärkung der Fähigkeit, selbstständig unter Verhältnissen handeln zu können, die von ständigen Veränderungen und schwierigen Kräfteverhältnissen gekennzeichnet sind. Wesentliche Voraussetzung dafür ist die Stärkung der eigenen Kritik- und Urteilskraft. Dazu gehört auch die Fähigkeit, über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse hinaus denken zu können.

Abstrakte Aufklärungsstrategien tragen kaum zur notwendigen Handlungsfähigkeit bei. Gewerkschaftliche Bildungsarbeit ist vor allem dann erfolgreich, wenn es ihr gelingt, die Lernbedürfnisse und Erfahrungen der Teilnehmenden zur Grundlage ihrer Seminare zu machen und daraus das Interesse an weiteren Zusammenhängen zu entwickeln.

Zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit gehört auch die Arbeit an Haltungen. Eine wesentliche Voraussetzung für selbstbewusstes politisches Handeln ist die Überwindung der gesellschaftlich zugewiesenen Rolle passiver Anpassung, die eng mit dem Status von abhängig Beschäftigten verbunden ist. Dem Vorgesetzten oder der Geschäftsleitung zu widersprechen, dazu gehören Mut und Zivilcourage, aber auch Wertmaßstäbe, die Sicherheit geben. Deswegen hat gewerkschaftliche Bildungsarbeit immer auch die Aufgabe zu ermutigen, das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten zu stärken und die eigenen Haltungen zu überdenken.

Darüber hinaus ist gewerkschaftliche Bildungsarbeit auch immer ein Ort des spontanen Erfahrungsaustausches. Dabei spielt das "zweite Seminar", also die seminarfreie Zeit, eine große Rolle. Das Gefühl, mit der Mühsal der eigenen Arbeit nicht allein zu stehen und die Anregungen durch Gleichgesinnte bedeuten oft eine wichtige Ermutigung und Stärkung für den Einzelnen.

2. Strukturen

Die im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossenen Organisationen gehören zu den größten Trägern politischer Erwachsenenbildung in Deutschland. Allein in der IG Metall, die etwa ein Drittel der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten umfasst, nehmen jedes Jahr ca. hunderttausend Mitglieder an Wochenend- oder Wochenseminaren teil.

Die Bildungsarbeit der verschiedenen Gewerkschaften innerhalb des DGBs ist jeweils von deren besonderen Handlungsbedingungen geprägt, trägt aber auch viele gemeinsame Züge. Insgesamt verfügen die Gewerkschaften über mehr als 20 Bildungsstätten mit etwa 100 hauptamtlichen Lehrkräften.

Die zentrale Bildungsarbeit in den Bildungsstätten mit festangestellten Lehrkräften umfasst bei weitem nicht die gesamte Bildungsarbeit. Die Mehrzahl der Bildungsveranstaltungen findet in der Region in angemieteten Häusern statt. Sie wird oft von ehrenamtlichen Referenten geleitet, häufig in Form von Teamarbeit. Für diese Lehrkräfte, deren besondere Stärke in ihrer Nähe zur Alltagspraxis liegt, bieten die Gewerkschaften eigene Ausbildungsgänge an.

Die wichtigsten Zielgruppen der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit sind Betriebs- und Personalräte. Dort wo betriebliche Vertrauenskörper existieren, sind sie vor allem in der örtlichen Bildungsarbeit vertreten. Die Gewerkschaften haben auch den Anspruch, Bildung für Mitglieder ohne Funktionen anzubieten. Ihre finanziellen Möglichkeiten lassen das aber nur in begrenztem Umfang zu. Die Bildungsarbeit der Gewerkschaften reicht in gesellschaftliche Schichten hinein, die sonst kaum zum Teilnehmerkreis von Erwachsenenbildungseinrichtungen gehören.

Das Bildungsangebot der Gewerkschaften umfasst ein breites Spektrum an Seminaren. Neben den Grundlagen der Betriebs- und Personalratsarbeit betrifft dies Angebote für zahlreiche spezielle Funktionen, zum Beispiel für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Aufsichtsräten, Mitglieder von Tarifkommissionen, Spezialistinnen und Spezialisten für Arbeitssicherheit etc. Daneben existieren Angebote zu gesellschaftspolitischen Themen, zur Stärkung sozialer Kompetenzen oder zur Aufarbeitung bestimmter betrieblicher Situationen. In den letzten Jahren hat die Qualifizierung der eigenen Beschäftigten der Gewerkschaften ein stärkeres Gewicht erhalten.

Gewerkschaftliche Bildungsarbeit braucht Zeit, gerade weil sie zu Handlungsfähigkeit anleiten will. Üblich sind Wochenend- und Wochenseminare. Freistellungsprobleme und finanzieller Druck führen allerdings zunehmend zu kürzeren Bildungsangeboten.

Die gewerkschaftliche Bildungsarbeit leistet eine wichtige Personal- und Organisationsentwicklungsarbeit für die Gewerkschaften, die wesentlich zum Aufbau und Erhalt einer Basis aktiver Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen beiträgt.

3. Entwicklung

Schon bei der Entstehung der Gewerkschaften in Deutschland im Umfeld der Revolution von 1848 spielte Bildungsarbeit eine wichtige Rolle. Neben dem spontanen Arbeiterprotest und den Ansätzen zu berufsbezogenen Verbänden gab es zahlreiche Arbeiterbildungsvereine. Sie politisierten sich im Laufe der Ereignisse und wurden zu Diskussionsforen für die Interessen der neu entstandenen lohnabhängigen Schichten.

Im ausgehenden 19. Jahrhundert konnten sich die Gewerkschaften trotz vieler Repressionen stabilisieren. Bildung war ein wichtiger Bestandteil des Organisationslebens. Zentraler Ort dafür waren die regelmäßigen Mitgliederversammlungen. Begleitet wurde dies von einer intensiven Publikationstätigkeit mit politisch aufklärerischem Anspruch (wöchentliche Zeitungen, Broschüren).

Für die Ausbreitung der Gewerkschaftsverbände war – nicht untypisch für soziale Bewegungen – die informelle Bildungsarbeit im Alltagsleben von besonderer Bedeutung. Engagierte Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen nutzten die Möglichkeiten, die der Arbeiteralltag übrig ließ, um mit Geduld und auch didaktischem Geschick die Idee der Selbstorganisation der Lohnabhängigen zu verbreiten. Dadurch konnten gerade junge Menschen für die Gewerkschaftsbewegung gewonnen werden.

Die Weimarer Republik brachte einen Professionalisierungsschub für die gewerkschaftliche Bildungsarbeit. Anlass war die Einrichtung von Betriebsräten, die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben eine besondere Ausbildung benötigten. Bis zum Ende der Weimarer Republik hatte sich in den Gewerkschaften ein "modernes" Bildungswesen entwickelt mit eigenen Bildungsstätten und hauptamtlichem Lehrpersonal. Diese hoffnungsvolle Entwicklung wurde vom deutschen Faschismus vollständig zerschlagen. Bildungsarbeit war, wenn überhaupt, nur noch illegal in kleinsten Zirkeln möglich.

Nach dem Ende des 2. Weltkriegs musste vollkommen von vorne begonnen werden. In den Gewerkschaften bestand hoher Bildungsbedarf, um die neugewählten Betriebsräte zu qualifizieren und den hauptamtlichen Apparat neu aufbauen zu können. Bereits Anfang der 1950er Jahre besaßen die meisten Gewerkschaften wieder Bildungsstätten und hatten ihre Bildungswesen reorganisiert.

In den 1960er Jahren begann ein neues Kapitel gewerkschaftlicher Bildungsarbeit. Gestützt auf die Vollbeschäftigung feierten die Gewerkschaften zwar große tarifpolitische Erfolge, aber ihre betriebliche Verankerung fiel hinter den Beschäftigungsaufbau zurück. Aus dieser Situation heraus entwickelte sich die "betriebsnahe Bildungsarbeit". Bildung wurde gezielt dazu eingesetzt, den Einfluss der Gewerkschaften in bestimmten Betrieben zu stärken. Protagonist dieser Entwicklung war der spätere Finanzminister Hans Matthöfer.

Zeitgleich entstand ein intensiver erwachsenenpädagogischer Diskurs in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Der Soziologe Oskar Negt hatte mit seinem Buch "Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen" die Frage nach der Vermittlung von gesellschaftstheoretischem Wissen und den Alltagserfahrungen der Teilnehmenden aufgeworfen und damit eine umfangreiche Debatte ausgelöst.

Im Betriebsverfassungsgesetz von 1972 wurde zum ersten Mal die Bezahlung der Qualifikation von Betriebsräten durch die Arbeitgeber festgeschrieben (§ 36,6 BetrVG). Zugleich führten eine Reihe von Bundesländern Bildungsurlaubsgesetze ein. Dadurch konnte die gewerkschaftliche Bildungsarbeit ihre Teilnehmerzahlen wesentlich erhöhen und Strukturen aufbauen, die bis heute bestimmend sind.

Die Jahre nach der deutschen Einheit mit hoher Arbeitslosigkeit, verschärftem globalem Konkurrenzdruck und finanzmarktgetriebener Ökonomie stellten die gewerkschaftliche Bildungsarbeit vor neue Probleme. Die betrieblichen Akteure sahen sich mit ständigen Restrukturierungsmaßnahmen konfrontiert. Zugleich mussten die Gewerkschaften im politischen Raum stärker um ihre Selbstbehauptung kämpfen.

Die Gewerkschaftliche Bildungsarbeit versuchte daraufhin, betriebliche Beratungsprozesse stärker zu unterstützen. Sie erweiterte das Spektrum ihrer Angebote insbesondere um soziale Kompetenzen und leitete einen Prozess methodisch-didaktischer Reflexion ein, um auf die Bedürfnisse ihrer durch die Krisenerfahrungen oft verunsicherten Teilnehmerinnen und Teilnehmer besser eingehen zu können. Exemplarisch dafür ist die von Hanns Wienold geleitete Untersuchung BiMetall, die die Realität der Seminare in der IG Metall empirisch sorgfältig unter die Lupe nahm. Diese Debatten führten zu einer stärkeren subjektorientierten Ausrichtung gewerkschaftlicher Bildungsarbeit.

Die Gefahren einer finanzmarktgetriebenen Wirtschaftsweise, der ökologische Wirtschaftsumbau und das Erstarren demokratischer Strukturen stellen die Gewerkschaften vor neue Herausforderungen. Die Finanzmarktkrise 2008/2009 und ihre Folgen hat eine Debatte über einen gesellschaftlichen Kurswechsel ausgelöst, deren Fragestellungen und Handlungsansätze die gewerkschaftliche Bildungsarbeit sicher zukünftig weiter bewegen werden.

Der Text wurde übernommen aus dem Band: Wolfgang Sander / Peter Steinbach, Politische Bildung in Deutschland. Profile, Personen, Institutionen, Bonn 2014. Erschienen in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1449.

Quellen / Literatur

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Fussnoten

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Lothar Wentzel für bpb.de

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Weitere Inhalte

Lothar Wentzel arbeitet in der Grundsatzabteilung des IG Metall Vorstandes in Frankfurt a.M.. Er ist Mitherausgeber verschiedener Publikationen zur politischen Erwachsenenbildung und zur gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung.