Zur Entwicklung von Tanz als Teilbereich kultureller Bildung
"You can change your life in a dance class!" mit diesem vielversprechenden Credo des Choreografen Royston Maldoom
Während der Tanz als ein vom klassischen Ballett sich abgelöster, individueller Ausdruckstanz noch zu reformpädagogischen Zeiten der 1920er-Jahre eine hohe Wertschätzung genoss, verkümmerte er mit der Beherrschungsideologie der NS-Herrschaft und den Folgen des zweiten Weltkriegs. Erst Mitte der 1970er-Jahre erfährt er in Deutschland eine Wiederbelebung als freier und kreativer Tanz in der Jugendkulturarbeit und als Tanztheater auf den großen Bühnen. Seit den 1980er-Jahren ist Tanz in der Schule curricular verankert, als Bewegungsfeld neben Gymnastik und Bewegungskünsten im Schulsport sowie als integraler Bestandteil in den Fächern Musik, Darstellendes Spiel bzw. Theater. In der Schule wie in den verschiedenen jugendkulturellen Bildungseinrichtungen hat es demnach immer schon Tanzangebote gegeben, aber realiter hat Tanz nur ganz vereinzelt stattgefunden.
Mit dem ersten "Education"- Projekt der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Sir Simon Rattle hat sich diese Situation kolossal verändert. Etwa 250 Jugendliche aus Berliner Brennpunktschulen zeigen 2004 in einer publikumswirksamen Inszenierung Stravinskys "Le Sacre du Printemps" und treffen damit den Zeitgeist. Die filmische Dokumentation dieses Großprojekts führt zu einem nie da gewesenen Kinoerfolg, der wie ein Startzeichen für die längst fällig gewordene Anerkennung und Breitenwirkung der Sparte Tanz als Bildungselement seine Wirkung hinterlässt.
Dem Berliner Großprojekt nacheifernd entsteht in der Folge eine Vielzahl an Tanzprojekten, die sich durch neue und fruchtbare Kooperationen zwischen Tänzern, Choreografen und Schulen auszeichnen. Zeitgleich verstärkt sich im Zuge des Ausbaus der Schulen zu Ganztagsschulen die Nachfrage nach externen Anbietern, die zunächst am Nachmittag in Form von Arbeitsgemeinschaften (AGs) oder zeitlich begrenzten Einzel-Projekten tätig werden können. Schließlich erhält der Tanz einen weiteren wichtigen Anschub durch den von der Kulturstiftung des Bundes geförderten und initiierten Tanzplan Deutschland, der als "Katalysator für die deutsche Tanz-Szene"
Mittlerweile ist die Anzahl an Tanzprojekten in schulischen wie außerschulischen Einrichtungen unübersehbar. Besonders auffällig sind die Bereitschaft und das große Engagement zur Zusammenarbeit von Schule und außerschulischen Anbietern. Neben zeitlich befristeten Projekten in Form von halbjährlichen AGs oder einmaligen Angeboten gibt es Tanzklassen, die im Fächerkanon der Schulen einen festen Platz erhalten haben. Häuser wie die bayerische Staatsoper München ("Anna tanzt"), das Theater Bielefeld ("Zeitsprung") oder das Radialsystem mit Sascha Waltz in Berlin (Kindertanzcompany von TanzZeit - Zeit für Tanz in Schulen) wachsen mit Schulkassen zu fruchtbaren Gemeinschaften zusammen. Auf Bundes- wie Länderebene (Kulturstiftung des Bundes, Kulturstiftung der Länder, das Tanzhaus in NRW oder Tanzlabor_21 in Frankfurt) setzen sich die verschiedensten Kultureinrichtungen für Tanz als Kunstform für und von Kindern und Heranwachsenden verstärkt ein.
Wer sind die Akteure?
Tänzer, Tanzpädagogen und Choreografen sind die Hauptakteurinnen und -akteure dieser Initiativen. Sie werden unterstützt und vermittelt von bestehenden Einrichtungen der Länder sowie bundesweiten Initiativen wie z.B. dem Bundesverband Tanz in Schulen. Die Vermittlung von Tanz setzt für die Tanzpädagogen eine besondere Ausbildung voraus, deren curriculare und institutionelle Verankerung noch in den Kinderschuhen steckt. Noch kann sich jeder in der Tanzvermittlung Tätige als Tanzpädagoge bezeichnen, unabhängig davon, ob er eine staatlich anerkannte tanzmethodische oder tanzpädagogische Qualifizierung erworben hat oder nicht. So sind es ehemalige Tänzer, die sich ein Standbein in der Vermittlungsarbeit sichern wollen oder Tanzpädagogen, die an privaten oder staatlichen Schulen, Fachschulen und Hochschulen ihre Ausbildung genossen haben und je nach Ausrichtung unterschiedlichste Expertisen mitbringen. Angesichts der institutionellen Bedingungen von Schule und der unterschiedlichen Erwartungen an außerschulische Anbieter sind die individuellen Überforderungen oft sehr massiv. So wird der Tänzer als Ersatz für mangelnde Fachlehrer eingesetzt oder für den fehlenden Sozialpädagogen. Nicht selten werden von den Externen Impulse für die dringend notwendig werdenden Schulentwicklungsprozesse erwartet. Tanzaufführungen sind hier willkommene Werbemaßnahmen.
Mit umso mehr Nachdruck wurde in den vergangenen fünf Jahren an der Qualitätsentwicklung und -sicherung von Tanz in Schulen gearbeitet
Warum Tanz?
Wie für Musik, Kunst, Theater oder Spiel gilt auch für den Tanz die pädagogische Grundidee der Bildung des Menschen zu, durch und in den Künsten, die ästhetische Bildung der bzw. durch die Sinne (vgl. Liebau & Zirfas, 2008). Die Nähe der Kunstsparten ist auf ihre strukturellen Ähnlichkeiten zurückzuführen. So bestehen Analogien zwischen Musik und Tanz z. B. hinsichtlich Zeit, Dynamik und Spannungsaufbau, zwischen bildender Kunst und Tanz im Hinblick auf die Form- und Raumgestaltung und zwischen Theater, Spiel und Tanz in ihrem darstellenden und zeigenden Charakter.
Als leibliches Phänomen bildet Tanz jedoch einen besonderen Anknüpfungspunkt kultureller Bildung. Tanz ist immer an Körperlichkeit gebunden und damit hautnah und unmittelbar. Sämtliche lebensweltlichen Erfahrungen sind Erfahrungen des Körpers und Erfahrungen mit dem Körper und lagern sich im Körperlichen ab. Gleichzeitig ist der Körper der Ort, an dem vergangene Erfahrungen virulent und sichtbar (gemacht) werden können. Dabei verlaufen die Prozesse der Erfahrungsbildung selten bewusst; erst die gerichtete Aufmerksamkeit auf Empfindungen und Wahrnehmungen seines Körpers in Raum und Zeit kann Un- oder Vorbewusstes, Alltägliches und Gewohntes wie auch Noch-nicht-Gewusstes an die Oberfläche bringen. In seiner zeitgenössischen Ausrichtung an räumlichen, zeitlichen und dynamischen Strukturen (und weniger an festgelegten Bewegungsformen) enthält der Tanz dieses Potenzial unmittelbarer, körpernaher Aufmerksamkeit.
Die körperliche Gebundenheit verweist auf den individuellen und subjektiven Charakter von Tanz. Im Unterschied zu anderen körperbetonten Tätigkeiten, wie z. B. dem Sport, enthält der Tanz einen ausgesprochen großen Freiraum für subjektive Auslegungen und individuelle Ausgestaltungen.
Im Tanz werden Botschaften vermittelt, die darstellbar und lesbar sind. Auch wenn ich für mich alleine tanze, immer wird etwas im Außen sichtbar, kommt zur Darstellung, ob es eine innere Gestimmtheit ist, ein Gedanke oder Gefühl oder die kulturelle Zugehörigkeit meines Körper- und Bewegungsverhaltens. Dieser präsentative Charakter von Tanz verweist auf die Fähigkeit des Menschen, Empfindungen, Erlebnisse und Widerfahrnisse in Symbolen zu vergegenwärtigen (vgl. Langer, 1984), d. h. Ausdruckformen für Wahrnehmungen zu finden, die nicht in Sprache übersetzt werden können. Das sozusagen Unsagbare wird durch und über den Körper artikulierbar. Diese Form der körperlichen Vergegenwärtigung macht das Wahrgenommene für sich selbst wie für andere sichtbar, so dass noch vor der kognitiven oder sprachlichen Reflexion Tanz interpretierbar und lesbar wird. Somit enthält er immer auch ein dialogisches Moment, das den Rahmen für unterschiedlichste Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten bietet. Diese in der Tanzimprovisation oder Tanzgestaltung zu erproben, stellt eine weitere Bildungsdimension von Tanz dar.
Im Unterschied zu anderen Bewegungsarten wie der Alltagsbewegung oder den für den organisierten Sport typischen Bewegungscodes ist für den Tanz die Überschreitung des Alltäglichen, der "Überschuss leiblichen Bewegens" (Waldenfels, 2007, S. 29) kennzeichnend. Als ein von gesellschaftlichen Zwecken weitestgehend freies und befreites Feld liefert er vielfältige Gelegenheiten für die Entgrenzung bestehender Ordnungen, die Erprobung neuer, individueller Möglichkeitsräume und die Entdeckung verborgener Themen. Tanz enthält insofern auch eine kritische Dimension, als dieser leibliche Überschuss von Bewegungen auf Bestehendes verweist und/oder Zukünftiges hindeutet und neue Erfahrungsräume eröffnet, die praktisch erforscht und erprobt werden können. Im Tanz zeigen sich die kulturellen, geschichtlichen, sozialen und politischen Bedingungen in inkorporierter Weise. Sie aufzuzeigen, d. h. über den praktisch-körperlichen Nach- und Mitvollzug sinnlich nachzuspüren und sichtbar zu machen, hebt die Zeige- und Aufklärungsfunktion von Bildung hervor (vgl. Klinge, 2010).
Bildungsdimensionen, Qualitätskriterien und Kompetenzen
Im Zuge seiner zunehmenden Bildungsbedeutung muss sich auch der Tanz den derzeitigen Kompetenzdebatten und -erwartungen stellen. Eine Übertragung der von der KMK zugrunde gelegten Kompetenzbereiche wie Fach-, Sozial-, Methoden- und Selbstkompetenz scheint dabei beliebig und austauschbar. Um der Spezifität von Tanz gerecht werden zu können, hat in Zusammenarbeit mit Tänzerinnen und Tänzern, Schul- und Tanzpädagogen der BV Tanz in Schulen ein Rahmenkonzept vorgelegt, im dem ausgehend von Bildungsdimensionen Qualitätskriterien formuliert werden, die die Analyse und Überprüfung der Vermittlungspraxen im Tanz zulassen
Wissenschaftliche Belege
Empirische Belege zur Bildungswirkung von Tanz liegen erst in Ansätzen vor (vgl. Arbeitsgruppe Evaluation und Forschung des Bundesverband Tanz in Schulen, 2009). Neben der prinzipiellen Schwierigkeit einer methodischen Erfassung bildungsrelevanter Prozesse stellt der Gegenstand selbst ein Forschungsfeld dar, das einen besonders sensiblen Zugang benötigt. Neben Beobachtungen werden derzeit Tanztagebücher, Einzel-Interviews oder Gruppendiskussionen anhand ausgewählter Fotos oder Videosequenzen als mögliche Untersuchungsinstrumente auf ihre Brauchbarkeit hin ausprobiert. Auf eine Forschungstradition geschweige denn universitäre Verankerung kann diese junge Disziplin nicht zurückgreifen
Ausblick
Im Zuge des Aufwindes, den der Tanz als Bildungselement in den letzten Jahren erfahren hat, stellt sich immer wieder die Frage nach seiner institutionellen Verankerung und Verstetigung. Ob Tanz als weiteres Schulfach neben Kunst, Musik und Theater eingerichtet werden sollte, ist dabei von zentraler Bedeutung. Eindeutige Positionen sind derzeit nicht in Sicht; die Paradoxie der Verpflichtung eines Lernbereichs, in dessen Mittelpunkt künstlerische Verfahrensweisen und kreative Methoden stehen, scheint dabei einer der Gründe zu sein. Reibungsverluste, die im Zuge einer Etablierung eines neuen Faches entstehen, das sich am System Kunst orientiert und in das System Schule eingefügt werden soll, sind vorprogrammiert.
Insgesamt ist der Tanz allerdings als Bestandteil kultureller Bildung auf einem guten Weg. Erhöhte Aufmerksamkeit ist derzeit angesichts der Vielfalt an nebeneinander existierenden und z. T. konkurrierenden Initiativen geboten. Um die Qualität von Tanz als Bildungsangebot zu entwickeln und zu sichern, sind infrastrukturelle Defizite und institutionelle Lücken zu schließen. Noch verdankt die Tanzszene ihre Bildungswirksamkeit engagierten Personen, Initiativen und Verbünden. Mittel- bis langfristig sind jedoch politische Entscheidungen notwendig, die den Tanz als selbstverständliche Kunstform und unverzichtbaren Teilbereich kultureller Bildung neben Musik, Kunst, Theater, Spiel und Literatur nicht nur anerkennen, sondern auch fördern.
Literatur
Arbeitsgruppe Evaluation und Forschung des Bundesverband Tanz in Schulen (Hrsg.), (2009), Empirische Annäherungen an Tanz in Schulen. Befunde aus Evaluation und Forschung. Oberhausen: Athena.
Kessel, M. u.a. (Hrsg.) (2011). Aufwachsen mit Tanz. Erfahrungen aus Praxis, Schule und Forschung. Weinheim: Beltz.
Klinge, An. (2010). Bildungskonzepte im Tanz. In M. Bischof & C. Rosiny (Hrsg.), Konzepte der Tanzkultur. (S.79-94). Bielefeld: transcript.
Langer, S. K. (1984). Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt: Fischer.
Liebau, Eckart/Zirfas, Jörg (Hrsg.) (2008). Die Sinne und die Künste. Perspektiven Ästhetischer. Bildung. Bielefeld: Transcript.
Waldenfels, B. (2007). Sichbewegen. In G. Brandstetter & C. Wulf (Hrsg.), Tanz als Anthropologie. München: Fink.