Obwohl sich viele gesellschaftliche Bereiche für interkulturelle Einflüsse öffnen, ist diese Entwicklung im Theaterbereich derzeit noch wenig erkennbar. Was läuft da falsch?
Anders als in Großbritannien oder Frankreich ist es in Deutschland alles andere als selbstverständlich für Menschen, die nicht von deutschen Vorfahren abstammen, als Teil des öffentlichen Lebens wahrgenommen zu werden. Theaterkünstler mit so genanntem Migrationshintergrund sind immer noch eine Ausnahme. Natürlich erschwert diese Ausgangslage die künstlerische Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Konfliktfeld, das um die politischen Kampfbegriffe "Migration" und "Integration" entstanden ist, ungemein.
Es gibt kaum dramatische Texte, die Geschichten, Erfahrungen und Diskurse auf diesem Feld narrativ beschreiben und ideologiekritisch reflektieren könnten. Der Ist-Zustand zementiert die Wahrnehmung als "Andere" leider öfter, als er sie bricht. Wo der Themenkomplex Migration nicht per se ausgespart wird, erfolgt oft eine sensationalistische Verwertung von Klischees. Die Figur des Migranten oder der Migrantin wird quasi bauchrednerisch von weißen, bio-deutschen Sprechern geführt und höchstens durch Verwendung von Darstellern mit dem "richtigen" Hintergrund authentifiziert.
Diese Zustände sehe ich allerdings nicht als trennbar von der allgemeinen gesellschaftlichen Situation. Ja, es findet allmählich eine zögerliche Öffnung in vielen Bereichen statt; manchmal bekommt man gar den Eindruck, die Verwertung interkultureller Elemente werde als Geschäftsidee oder Modetrend verstanden. Doch zeitgleich erleben wir eine Verschärfung populistischer Diskurse und verstärkte Stereotypisierung eines regelrechten Feindbildes.
Das Ballhaus Naunynstraße macht nach eigenen Angaben "postmigrantisches" Theater. Was bedeutet dieser Begriff, und warum haben Sie ihn gewählt?
Wir haben uns das Label "postmigrantisch" gegeben, weil wir mit dem oben beschriebenen Zustand brechen wollten. Gleichzeitig geht es um Geschichten und Perspektiven derer, die selbst nicht mehr migriert sind, diesen Migrationshintergrund aber als persönliches Wissen und kollektive Erinnerung mitbringen. Darüber hinaus steht "postmigrantisch" in unserem globalisierten, vor allem urbanen Leben für den gesamten gemeinsamen Raum der Diversität jenseits von Herkunft.
Das Ballhaus bietet eine Plattform vor allem für migrantische Künstlerinnen und Künstler aus der zweiten und dritten Generation. Im November 2008 wurde es durch den von Ihnen initiierten Verein "kulturSPRÜNGE", ein Netzwerk von Kulturschaffenden der zweiten und dritten Migranten-Generation, wiedereröffnet. Sie wurden künstlerische Leiterin. Vorher haben Sie am HAU-Theater in Berlin gearbeitet. Warum war es für Sie notwendig, ein eigenes Theater zu gründen, das sich auf die zweite und dritte Migranten-Generation fokussiert?
Was ändert sich in ästhetischer Hinsicht, wenn Menschen mit multikulturellen Hintergründen Geschichten erzählen?
An dem riesigen Zuspruch aus ganz Deutschland und darüber hinaus sieht man, dass es höchste Zeit war. Natürlich geht es uns auch um Repräsentation jenseits des Ortes Ballhaus Naunynstraße – aber als eigenes Haus unsere Vision und unsere Geschichten zu präsentieren, als ein Knotenpunkt von Netzwerken zu fungieren: Das ist unverzichtbar. Das Haus wurde schnell zu einem Kristallisationspunkt und konnte, so hoffe ich, ein Statement von kuratorischer Signalwirkung setzen.
Unser Publikum spiegelt die soziale Struktur Kreuzbergs wider und ist definitiv heterogener und engagierter als durchschnittliches Theaterpublikum. Viele unserer Künstlerinnen und Künstler kommen aus anderen Bereichen als dem Theater oder sind genuine Autodidakten. Sie bringen natürlich auch andere Perspektiven mit. Gemeinsam suchen wir nach unserer Ästhetik und nutzen die Freiheiten, die ein eigenes, wenn auch unterfinanziertes Produktionshaus uns gibt. Vom Blickpunkt der dritten Spielzeit her kann ich sagen, dass sich das ganz gut anlässt.
Mit dem Ballhaus grenzen Sie sich von den bestehenden Theaterinstitutionen ab. Wäre es nicht sinnvoller zu versuchen, die bestehenden Strukturen von innen zu verändern, statt eine "Parallel-Theatergesellschaft" aufzubauen? Beispielsweise durch Quoten für Menschen mit migrantischem Hintergrund?
Der Vorwurf, eine "Parallel-Theatergesellschaft" aufzubauen, ist genauso absurd wie der an ein imaginiertes Kollektiv "der Migranten" gerichtete, eine Parallelgesellschaft aufzubauen. Jedes überregional erfolgreiche Theater der letzten Jahrzehnte hatte sein eigenes Profil und grenzte sich vom Bestehenden ab. Warum sollte dies gefährlich sein, wenn wir es machen? Wir machen keine Folklore sondern feiern Transkulturalität; da wird niemand ausgeschlossen.
Erweiterte Partizipation überall ist natürlich gerade auch unser Anliegen. Das wird durch Impulse erreicht, die wir setzen, sowohl als Produktionsstätte, als auch als kulturpolitischer Akteur. Diese Impulse werden durchaus aufgegriffen, aber oft ist die theatrale Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex "interkulturelle Gesellschaft" inhaltlich noch fragwürdig. Genau deshalb muss es uns geben, und wir würden uns ehrlich gesagt freuen, wenn wir endlich einmal als junges deutsches Theater wahrgenommen würden, schlicht und einfach. Stattdessen projizieren manche Diskursteilnehmer diffuse Ängste vor einer Absonderung und Zusammenrottung der marginalisierten "Anderen" ausgerechnet auf unser kleines, junges Haus.
Andere nehmen die neuen Impulse auf und beginnen, sich für Künstlerinnen und Künstler mit Migrationshintergrund zu interessieren. Aber über Quoten funktioniert das nicht. Es geht doch nicht darum, fünfzehn "Benachteiligte" in ein Ensemble oder in die Gewerke aufzunehmen, sondern gemeinsam eine Auseinandersetzung zu vollziehen, die in einen Perspektivwechsel münden muss. Erst dadurch wird eine Öffnung und Partizipation für alle ermöglicht. Gleichzeitig strebt ohnehin eine junge Generation von Theaterkünstlerinnen und -künstlern mit postmigrantischem Hintergrund in die Szene; das wiederum hilft auch beim Perspektivwechsel.
Ein Schwerpunkt der Arbeit des Ballhauses liegt im Bereich der kulturellen Bildung. So hat das Theater das gesamte Programm im Februar 2011 der "Akademie der Autodidakten" gewidmet, die ihre Produktionen und Projektergebnisse des letzten halben Jahres präsentierte. Was hat es damit auf sich?
Neue Zugänge zu schaffen bedeutet zuerst einmal, Menschen ans Theater heranzuführen, die bisher ausgeschlossen waren. Das kann an gesellschaftlicher Benachteiligung liegen oder ganz konkret daran, dass man ihnen an Theaterschulen und -häusern sagt, sie würden nicht "passen". Auf der einen Seite bieten wir also interessierten Autodidakten ohne einschlägige Ausbildung die Möglichkeit, sich auszuprobieren und in der gemeinsamen Arbeit mit anderen etwas zu lernen.
Auf der anderen Seite meint kulturelle Bildung natürlich auch immer Kunstvermittlung: Wir sprechen gezielt Personen an, die sich nicht unbedingt als Theaterpublikum verstehen. Dabei richten wir uns insbesondere an Jugendliche, wenden aber keine Altersbegrenzung an. Ein erfolgreiches Format ist die "Kiezmonatsschau" – Jugendliche bekommen Kameras und Video-Coaching durch wechselnde Paten und produzieren dann weitgehend eigenständig ihre eigenen Filme. Hier sind sie einmal nicht Objekt, sondern Subjekt der Berichterstattung.
Die Grenzen zwischen Publikum und Künstlerinnen und Künstlern sind bei der "Akademie der Autodidakten" angenehm fließend. Jugendliche, die an einem Workshop teilnehmen, werden gemeinsam mit ihren Freunden zu Theaterfans, während junge Zuschauerinnen und Zuschauer an uns herantreten mit dem Anliegen, auch mal etwas bei uns zu machen.
Beschreiben Sie bitte konkret eines der Projekte der Akademie.
Unser neuestes Jugendprojekt "Tod eines Superhelden" ist aus einem Schauspielworkshop mit Cem Sultan Ungan entstanden. Gegen Ende des Workshops holten wir die jungen Autoren Marianna Salzmann und Deniz Utlu hinzu, die aus Gesprächen mit den Jugendlichen Figuren und eine Handlung bastelten, die Literaturtheater auf hohem Niveau und gleichzeitig ganz nah an ihrer Realität und ihren (schau)spielerischen Bedürfnissen dran sind.
Bei einer unserer erfolgreichsten Produktionen der Akademie "Ferienlager – Die 3. Generation" mit zehn Jugendlichen aus dem Kiez, die bereits in München, Hamburg und New York zu Gastspielen war, waren die Jugendlichen auch die Autorinnen und Autoren, ihre Texte wurden gemeinsam mit dem Regisseur Lukas Langhoff zu einem Stück collagiert. Die sehr vielschichtigen Texte werden mit inszenatorischen Ideen verknüpft, die direkt aus der Lebenspraxis der Jugendlichen stammen. Das Anliegen, die Gleichberechtigung von kritischem Hinterfragen und lustvollem Spiel mit theatralen Mitteln zu etablieren, zieht sich durch alle unsere Produktionen aus dem Bereich der "Akademie der Autodidakten".
Welche Möglichkeiten hat die kulturelle Bildung im Theaterbereich? Was kann sie zur Veränderung der Situation beitragen?
Zunächst muss man die Relationen sehen. Kulturelle Bildung richtet sich an Einzelpersonen oder sehr kleine Gruppen. Es kann nicht ihre Aufgabe sein, bildungspolitische Missstände zu bereinigen. Aber kulturelle Bildung kann sowohl die Wahrnehmung der Umwelt durch die Protagonisten verändern, als auch die Wahrnehmung der Protagonisten durch die Umwelt. Ich glaube, unsere Arbeit am Ballhaus Naunynstraße kann dazu beitragen, eine andere Sprache in der kulturellen Bildung zu finden. Sprachvielfalt halte ich für etwas grundsätzlich Positives. Sie hilft dagegen anzugehen, dass Theater im Besonderen und Kultur im Allgemeinen ein elitäres Medium für wenige, elitär geprägte Leute bleibt, das die wahren Probleme weit außen vor lässt.
Insofern knüpfen wir eigentlich auch nur an Konzepte an, die es in der aufklärerischen Moderne schon immer gegeben hat. Wir präsentieren nicht vermeintlich "authentische Konflikte" aus der so genannten "migrantischen Unterschicht" vor einem bildungsbürgerlichen Publikum, sondern zeigen, dass es eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe geben kann und muss. Damit wird Theater zu einem Medium von und für Menschen, die als Marginalisierte wahrgenommen werden und es oft auch sind.
Der Schwerpunkt des Online-Dossiers, in dem dieses Interview erscheint, trägt den Namen "Interkulturelle kulturelle Bildung". Würden Sie das Engagement des Ballhauses im Bereich der kulturellen Bildung als "interkulturell" bezeichnen?
Ungern. Das setzt doch eine Situation voraus, in der zwei oder mehr voneinander völlig getrennte und innerlich homogene "Kulturen" einander gegenüberstehen – sagen wir eine abendländische und eine orientalische - und mühsam Beziehungen knüpfen. Das hat nichts mit der Realität Europas und der Bundesrepublik im 21. Jahrhundert zu tun. Kein Mensch, den ich kenne, gehört einem einzigen, geschlossenen Kulturraum an. Unser wirkliches Leben ist schon längst transkulturell und translokal, und zwar jenseits von Herkunft. Uns ist es vielmehr ein Anliegen, die Selbstverständlichkeit von Hybridität und Transkulturalität zu feiern und durchzusetzen.
Deshalb habe ich das Konzept "Beyond Belonging" geprägt: Wir müssen lernen, uns jenseits von Zugehörigkeiten und Herkunft zu artikulieren. Wenn überhaupt müsste kulturelle Bildung in einem Land wie dem unsrigen heute auch ohne Benennung doch per se interkulturell sein und verstanden werden.
Birgt die Förderung von Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund nicht die Gefahr, als soziokulturelle "Integrationshilfe" abgestempelt zu werden und so von den etablierten Institutionen im Kulturbereich nicht ernst genommen zu werden?
Dies ist in der Tat oft der Fall. Wir können lediglich darauf hinweisen, dass diese Wahrnehmung mehr über die Betrachter aussagt als über unsere Arbeit. Allerdings ist sie meiner Erfahrung nach eher in Theater- und Kunstvermittlungskreisen dominant, während in den kulturpolitischen Gremien durchaus progressivere Positionen vertreten sind. Diese werden natürlich bestärkt durch die wachsende Aufmerksamkeit, die unser Haus als Theater genießt. Noch vor ein, zwei Jahren haben Entscheidungsträger oder Multiplikatoren uns durchaus mal als "Stadtteilkulturzentrum" bezeichnet oder mit dem gegenüberliegenden "Jugendzentrum" verwechselt.
Sind Begriffe wie Integration und Multikulturalismus aus Ihrer Sicht überholt, wie es beispielsweise der Migrationsforscher Mark Terkessidis in seinem Buch "Interkultur" ausführt?
Ich wünsche ihm viele Leserinnen und Leser. Integration ist definitiv nicht unser Anliegen, eher schon Desintegration. Theater muss doch Vielfalt, individuelle Wahrnehmungen und autarke Ausdrucksformen fördern statt Unterordnung unter eine hegemoniale Ideologie. Multikulti konstruiert heute oft eine essentialistische Andersheit und fordert eine falsche Homogenität. Im schlimmsten Falle bestimmen weiße, bio-deutsche Entscheidungsträger per Förderung oder politischer Protegierung, wer für eine Community sprechen darf und wer nicht. Angesichts der demokratischen Protestbewegung in Ägypten hat Slavoj Zizek etwas Schönes gesagt, sinngemäß: "Vergesst die Vorstellung, dass wir alle so unterschiedlich seien und man eine fremde Kultur in ihrer Andersheit verstehen müsse - im Augenblick des Kampfes gegen Tyrannei haben wir alle die gleichen Interessen."
Das war auch meine Einstellung, als ich als junges Mädchen in Nürnberg aufwuchs: In erster Linie ging es darum, welche politische Einstellung man hatte und nicht, ob man Grieche, Türke, Kurde, Deutscher oder Palästinenser war. Multikulti war, ohne benannt zu werden, selbstverständlich. Als politisches Programm schränkt es gesellschaftliche Weiterentwicklung ein.
Andererseits stimmt ein nicht zu unterschätzender Teil der Bürgerinnen und Bürger den Thesen Thilo Sarrazins zu, der Migranten als existenzielle Gefahr für Deutschland bezeichnet. Was möchten Sie diesen Bürgern sagen?
Gar nichts. Ich sehe diese Thesen und ihre Anhänger als existentielle Gefahr für Deutschland.
Die Fragen stellte Katharina Donath, Redakteurin dieses Online-Dossiers.