Die Macht von Geschichten: "Mein Leben als Opfer, mein Leben als Held“
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Geschichten tragen wesentlich zur Identitätsbildung von Menschen bei. Die vorgestellte Methode regt dazu an, Gestaltungsspielräume im eigenen Leben wahrzunehmen und zu reflektieren.
Hintergrund und Anliegen
In unserem Leben gibt es Fakten, die sind, wie sie sind: Man ist männlich oder weiblich, alt oder jung. Man hat diese oder jene Eltern, die aus diesem und jenem Ort kommen. Aber wir können diese Fakten in sehr unterschiedliche Geschichten einbetten. In unseren Geschichten wählen wir bestimmte Fakten aus (andere lassen wir unberücksichtigt), wir geben ihnen einen Stellenwert und stellen kausale Verknüpfungen zwischen ihnen her. Wenn man sich zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall das Bein gebrochen hat und für ein paar Wochen im Bett liegen muss, kann die "Heldengeschichte“ davon handeln, wie wir diese ganzen Widrigkeiten erfolgreich managen. Die Opfergeschichte handelt davon, dass man "ja immer Pech hat“ und von der Zeit, die wir durch diesen Unfall verlieren und wie hoch der Verdienstausfall sein wird… Eine Geschichte über die größere Bedeutung des Unfalls mag hingegen vielleicht davon erzählen, dass man mal „einen Gang runter schalten muss“ oder dass es zum Glück ein paar Freunde und Familienmitglieder gibt, die einem in so einer Situation zur Seite stehen. Was wir erleben, ist also nur zu einem (geringeren) Teil von Fakten bestimmt, sondern Ausdruck davon, zu welchen Geschichten wir sie verknüpfen.
Mit der folgenden kurzen Übung machen wir uns Gedanken, wie wir aus den verschiedenen Gegebenheiten unsere Wirklichkeit konstruieren – und dass wir hierbei einen nicht zu unterschätzenden Spielraum haben. So können wir unser Leben bzw. unseren Alltag durchaus als eine passive "Opfergeschichte“ beschreiben. Wir können aber unser Leben auch als eine "Heldengeschichte“ empfinden. Geschichten sind ein wesentliches Instrument der Identitätsbildung. Es liegt eine enorme Macht in der Art und Weise, welche Geschichte wir uns und anderen darüber "erzählen“, was hier vor sich geht.
Methodensteckbrief
Kurzbeschreibung | Die Teilnehmenden erzählen sich in Zweiergruppen "die Geschichte ihres Lebens“ – einmal aus der Perspektive des Opfers, einmal aus der Perspektive des Helden. Es wird deutlich, dass ein Spielraum besteht, welche Geschichte wir "wahrnehmen“. Es geht darum, Autor seiner Geschichte zu sein und nicht nur "vom Blatt zu spielen“. |
Zeitbedarf | 10-15 Min. |
Zielgruppe und Gruppengröße | ab 12 Jahre, ab 6 Teilnehmenden |
Materialien | Keine |
Ablauf | Die Teilnehmenden werden gebeten, sich in Zweiergruppen aufzuteilen, und sich jeweils auf Stühlen gegenüber zu setzen. Sie sollten sich dabei eine/n Partner/in wählen, den sie noch nicht so gut kennen. Die Zweiergruppen, die sich möglichst gut über den Raum verteilen sollten, damit man sich nicht gegenseitig stört, werden dann gebeten, sich "die Geschichte ihres Lebens aus der Perspektive des Opfers“ in jeweils 90 Sekunden zu erzählen. Wenn die Nachfrage kommt, ob man die Wahrheit erzählen muss, lautet die Antwort: "Ihr könnt Euch auch etwas ausdenken, aber in der kurzen Zeit, die zur Verfügung steht ist es sehr schwer, zu lügen. Ihr erzählt über Eurer Leben und das ist das Leben eines Opfers.“ Mit dem Startzeichen (z.B. Glöckchen oder ein "und … los“ beginnt einer dem Partner "seine Geschichte“. Nach 90 Sekunden wird laut und deutlich "und … Wechsel“ gerufen und nun erzählt der- bzw. diejenige, die zuerst zugehört hat, ihre Geschichte, die Geschichte eines Opfers. Nach 90 Sekunden kommt ein "Stopp“. In einem zweiten Durchlauf, der nach dem gleichen Muster abläuft, lautet die Aufgabe nun, die "Geschichte meines Lebens, aus der Perspektive eines Helden“ zu erzählen. Wiederum stehen jeweils 90 Sekunden zur Verfügung, diesmal allerdings, um eine Heldengeschichte zu erzählen. |
Auswertung | Auch wenn in der Übung Tiefgründiges steckt, ist es an dieser Stelle wichtig, das gerade Erlebte nicht zu "psychologisieren“. In der Regel reichen drei Bemerkungen:
Die Erfahrung zeigt, dass diese kleine Provokation durchaus zum Nachdenken anregt. Rückmeldungen von Teilnehmenden zeigen, dass dieser Gedanke ihnen im Anschluss an die Veranstaltung in verschiedenen Situationen wieder "einfällt“ – "Bin ich hier gerade mal wieder dabei, eine Opfergeschichte zu erzählen?“ Manchmal kommt man auch während der Veranstaltung wieder darauf zurück. |
Hinweis 1
Es ist wichtig, den Teilnehmenden nicht vorher zu sagen, dass nach der Opferperspektive die Heldenperspektive folgt!
Hinweis 2
Man kann nach Opfer und Held auch die Zweiergruppen sich ihr Leben gegenseitig erzählen lassen, "als ob es eine ganz bestimmte tiefe Bedeutung hat“. Die Erfahrung zeigt, dass viel weniger emotionale Energie im Raum ist, es ist leiser, die Pausen sind merkbar. Bei der Frage nach Bedeutung, muss der/die Erzählende sein Gegenüber stärker mit einbeziehen. Sinn ist eine Kopfsache, Held und Opfer sind Emotionen.
Hinweis 3
Wenn man diese Übungen mit Jugendlichen durchführt: Der Begriff "Du Opfer“ wird von Jugendlichen gerne auch als Schimpfwort, als Ausdruck der Geringschätzung, verwendet. Das Gefühl der Machtlosigkeit ist in der Tat eine insbesondere bei jungen Menschen verbreitete Grundhaltung, die dann oft auf andere projiziert wird. In der Resilienzforschung
Sascha Meinert ist Leiter des Instituts für prospektive Analysen e.V. (IPA) in Berlin, das den Einsatz von Scenario Building als Beteiligungsinstrument für gesellschaftspolitische Zukunftsfragen fördert. Daneben ist er als politischer Bildner, Autor, und Referent sowie als Berater für Organisationen und Netzwerke zivilgesellschaftlichen Engagements tätig.
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