"A normal human being is one, who can tell his or her story“
Oliver Sacks
Geschichten erzählen als zutiefst menschliche Eigenschaft
Als der Anthropologe Gregory Bateson in den 1950er-Jahren einmal gefragt wurde, ob er die Schaffung von künstlicher Intelligenz für möglich halte, sagte er: "Ich weiß es nicht, aber wenn wir eines Tages einem Computer eine klare Ja-Nein-Frage stellen und er antwortet 'Das erinnert mich an eine Geschichte…‘, ich glaube, dann sind wir nah dran.“
Es ist ein Wesensmerkmal unserer Kultur, dass wir dem analytisch-wissenschaftlichen Denken eine große Bedeutung zumessen. Denn es hilft uns, die Dinge berechenbar zu machen, sie in den Griff zu bekommen. Das geht im Extrem so weit, dass nur wissenschaftlich-exaktes Wissen als wahr angesehen wird. Damit sind wir weit gekommen. Auf der anderen Seite erleben wir gerade die diffusen und vielschichtigen Angelegenheiten in unserem Leben (wie zum Beispiel die Liebe) als durchaus wahrhaftig – auch wenn sie hochgradig subjektive Erfahrungen darstellen und nicht exakt vermessbar sind. Angesichts der komplexen Struktur unserer Wirklichkeit lässt sich Exaktheit dementsprechend nur durch die Isolation des herausgegriffenen Sachverhalts erreichen. Mit dem fortschreitenden Herauslösen aus dem Kontext verringert sich aber auch der Relevanzgehalt, weil größere Beziehungs- und Bedeutungszusammenhänge verloren gehen.
So benutzen wir jeden Tag – meist unbewusst – Geschichten, anhand derer wir unsere Wahrnehmungen einordnen. In Form von Geschichten deuten wir die Realität, indem wir einzelne Ereignisse oder Fakten in einen Zusammenhang stellen und ihnen so Bedeutung geben. Geschichten helfen uns, uns zu erinnern. Alltagskommunikation erfolgt nicht über Fakten, sondern über Geschichten. In der Kognitionspsychologie und den Erziehungswissenschaften hat sich seit Anfang der 1980er-Jahre auch sukzessive die Erkenntnis durchgesetzt, dass Lernprozesse durch den Einsatz narrativer Methoden signifikant unterstützt werden können. Und in einer Welt, in der vormals festgefügte Kontexte und Rollenzuweisungen an Prägekraft verloren und sich die Wahlmöglichkeiten vervielfacht haben, erfährt auch in der politischen Bildung das Konzept der Narrativen Identität – also Identität als einer kontinuierlichen, dynamischen Selbst-Narration – eine verstärkte Aufmerksamkeit. Narrative Kompetenzen sind eine zentrale Grundausstattung, wenn man improvisieren muss und sein Leben nicht mehr 'vom Blatt spielen‘ kann.
Bedeutung des Erzählerischen in der politischen Bildung
Wie in der Bildungslandschaft im Allgemeinen, findet auch in der politischen Bildung die Bedeutung narrativer Kompetenzen in der Praxis jedoch zu wenig Berücksichtigung. Der Fokus liegt nach wie vor meist auf der Vermittlung von Sach- und Faktenwissen sowie argumentativen Zugängen. Das bedeutet natürlich nicht, dass das Erzählerische in unserem Leben an Bedeutung verloren hat – es findet jeden Tag auf dem Pausenhof, in Cafés, im Fernsehen, in der Werbung, etc. statt. Hier werden Heldengeschichten erzählt, Geschichten über die Einhaltung oder das Brechen von Regeln, über Beziehungen und Gerechtigkeit – und über Schnäppchen, die wir gemacht haben. Kurz, über alles, was uns bewegt.
Geschichten sind stets mehrdeutig, d.h. sie beziehen den Zuhörer mit ein und regen dazu an, selbst eine Bewertung vorzunehmen. Daraus entsteht ein facettenreiches Wechselspiel von ineinander verflochtenen Erzählungen,
Was kommt nach dem "ökonomischen Mythos“?
Die vielfältigen Krisen, die uns gegenwärtig beschäftigen – im Umweltbereich, in der Ökonomie, im sozialen Miteinander und in unseren politischen Systemen, deuten darauf hin, dass wir es mit einer tiefgreifenden "Krise in unserer narrativen Umwelt“ zu tun haben.
Warum brauchen wir einen neuen Mythos? Anknüpfend an die Arbeiten von Joseph Campbell beschreibt Betty Sue Flowers vier große Mythen, die wir für unsere Selbsterzählungen in allen möglichen Variationen nutzen: Den Heldenmythos, den religiösen Mythos, den demokratisch-wissenschaftlichen Mythos und den ökonomischen Mythos.
Der Begriff der Nachhaltigen Entwicklung steht in diesem Sinne als Platzhalter für die Suche nach einer weitergehenden Rahmenerzählung. Obwohl eine Nachhaltige Entwicklung bereits seit über 20 Jahren auf der politischen Agenda ganz weit oben steht und in den verschiedensten Kontexten postuliert wird (wir haben noch nie jemanden getroffen, der gegen Nachhaltigkeit ist), ist sie im Alltag, auf gesellschaftlicher wie individueller Ebene, bislang nur sehr begrenzt handlungsleitend und wirkmächtig. Es fehlt die damit verbundene große Erzählung. Bislang bleibt es für die meisten ein abstraktes Konzept und damit blass. Im Gegenteil, Nachhaltige Entwicklung wird in der Regel in den Kategorien des ökonomischen Mythos als 'Weniger‘ bzw. 'Verzicht‘ interpretiert. Das hat keinen Reiz. Es bedarf der narrativen Sinngebung, über das Genug-haben, über Zugehörigkeit und über Ziele jenseits des Materiellen. Nachhaltige Entwicklung kann nur gelingen, wenn sie mit Geschichten, mit individuellen Lebensentwürfen verknüpft werden kann, in denen Nachhaltige Entwicklung als eine spannende Reise, als Weg zur (Wieder-)Beheimatung in einem größeren Ganzen erzählt werden kann. Ein neuer Mythos kann jedoch nicht verordnet werden, er muss ‚von unten‘ wachsen. Dafür bedarf es neugieriger, verantwortungsbewusster Menschen, die an dem Entstehen dieser neuen Rahmenerzählung aktiv mitwirken. Wir brauchen neue Erzählungen – darüber, was es heute heißt, wenn wir sagen, dass unsere Kinder einmal ein gutes Leben haben sollen.
Funktionen und Formate narrativer Zugänge in der politischen Bildung
Was kann politische Bildung hierzu beitragen? Die Funktionen und Formate narrativer Zugänge in der politischen Bildung sind vielfältig, im Folgenden sollen einige davon kurz benannt werden:
Man kann Geschichten einsetzen, um Lerninhalte zu vermitteln und zu verankern. Konkrete Geschichten machen abstrakte Sachverhalte greifbar und sie wecken die Motivation, sich mit einem Thema persönlich auseinanderzusetzen. Mit Hilfe von Geschichten lassen sich insbesondere auch systemische Wirkungszusammenhänge besser nachvollziehen, die unserer 'Nahbereichslogik‘ oft verborgen bleiben.
Die Arbeit an und mit Geschichten fördert Kreativität, sie erweitert die Fähigkeit zu Empathie und unser Perspektiven-Repertoire. Wir lernen, die Welt mit 'anderen Augen‘ zu sehen. Eine spezielle Form ist hier das Rollenspiel, in dem sich die Teilnehmenden in unvertraute Standpunkte hinein versetzen. Gemeinsam Geschichten zu entwickeln macht zudem einfach auch Spaß und kommt stets der Gruppendynamik zugute.
Gerade in einer Zeit tiefgreifender Veränderungen ist ein Bewusstsein über die Geschichte(n) der eigenen Herkunft von Bedeutung. Indem wir uns auf die Suche nach den Geschichten machen, die unseren Ort, unsere Region, unsere Gesellschaft – oder im Zeitalter globaler Herausforderungen auch uns als Menschheit – so wie wir heute sind, hervorgebracht haben, schaffen wir ein Fundament, von dem aus wir die Möglichkeiten unserer Zukunft besser gestalten können.
Man kann normative Szenarien als Leitbilder für die Zukunft entwickeln, die unserem Handeln eine Richtung geben. Denn nur wenn man weiß, wo man hin möchte, kann man auch etwas bewegen. Es ist spannend, dies in einer Gruppe mit anderen zu tun, denn Zukunft ‚lässt sich nicht alleine schreiben‘ und man lernt die Bedürfnisse anderer besser kennen. Der Dialog über Zukunftsentwürfe ist in der Regel zudem auch fruchtbarer als der Disput über heutige Schuld- und Verteilungsfragen, über richtig und falsch. Geschichten über die Zukunft können so eine große transformative Kraft entfalten. Das ist auch eine Machtfrage. Ist man selbst (Mit-)Autor der Geschichte, die man lebt, oder machen das andere für einen?
Und man kann unterschiedliche explorative Szenarien darüber erstellen, was in der Zukunft passieren könnte, indem man ausgehend von den heutigen Unsicherheiten gegenläufige aber gleichermaßen plausible Entwicklungsalternativen in Form von Geschichten illustriert. Unterschiedliche Narrationen über die Zukunft können so gleichberechtigt gegenübergestellt und miteinander verglichen werden. Das Denken in Szenarien ist menschlichem Denken inhärent. Der Neurologe David Ingvar prägte hierfür den Begriff "memories of the future“, um zu verdeutlichen, dass unsere Entscheidungen und Handlungen eng mit den Geschichten verwoben sind, die wir uns von der Zukunft erzählen.
Beispiel "heimat 2035“-Szenarien
Ein Beispiel: Im Rahmen des Projekts "heimat2035“ sind vier Szenarien erarbeitet worden, die unterschiedliche mögliche Zukünfte des Aachener Raums illustrieren. Die Ausgangsfrage lautete: 'Wie werden die Menschen in dieser Region in einer Generation leben?‘ Hierfür wurden 250 Interviews durchgeführt, ausgewertet und verdichtet. Auf Grundlage dieses Materials wurden in mehreren Workshops vier gegenläufige Szenarien entwickelt, wiederum mit Menschen aus der Region, die aus ganz unterschiedlichen Kontexten und Hintergründen auf die Zukunft blicken. Akteure aus Verwaltung und Politik waren dabei von Anfang an intensiv eingebunden und haben den Prozess unterstützt. Die "heimat2035“-Szenarien, die im September 2011 im Krönungssaal des Aachener Rathauses erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt worden sind, bieten nun einen narrativen Referenzrahmen für den politischen Diskurs und für die Bewertung konkreter Entscheidungen in der Region. In jedem der vier Szenarien wird eine bestimmte Entwicklung exemplarisch anhand des Lebens einer Familie in der Region Aachen aufgezeigt. Und es bleibt dem Betrachter überlassen, mit welcher der vier 'Familien‘ er sich am ehesten identifiziert, wie er die einzelnen Szenarien normativ bewertet und wie er sich jeweils verhalten würde, wenn die Entwicklung wirklich in diese oder jene Richtung gehen sollte. Zukunft wird als offener Prozess begreifbar, in dem wir durchaus Wahlmöglichkeiten haben.
Die klassischen Orte und Formate politischer Bildung erfahren im Zuge der 'narrativen Wende‘ (auch wenn diese seit den 1980er-Jahren postuliert wird, befinden wir uns immer noch mitten im Wendemanöver) eine erhebliche Erweiterung, unter anderem auch, indem Zugänge der kulturellen Bildung stärker genutzt werden als früher. Zu dem Aufgabenspektrum politischer Bildung gehört es in diesem Sinne, das Potenzial narrativer Lernformen fruchtbar zu machen und kreative Räume zu schaffen, in denen sich Individuum und Gemeinwesen aufeinander beziehen und austarieren können. Räume, in denen narrative Kompetenzen gestärkt werden und in denen Menschen die Möglichkeit haben, an besseren Geschichten für eine nachhaltige Gesellschaft mitzuwirken.
Literatur
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