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Sein oder Nichtsein | Der Filmkanon | bpb.de

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Sein oder Nichtsein To Be or Not to Be

Susanne Weingarten

/ 7 Minuten zu lesen

Der Nationalsozialismus als lächerliche Inszenierung mit tödlichem Potential. Ein satirischer Blick Ernst Lubitschs aus seinem amerikanischen Exil auf seine Heimat Deutschland unter der NS-Diktatur.

"Sein oder Nichtsein", 1942 (© Bertz + Fischer Verlag / original copyright holders)

"Was darf die Satire?", fragte der deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky im Jahr 1919. Und gab sich gleich selbst die Antwort: "Alles".

Tucholsky hat nicht mehr erleben dürfen, dass der Regisseur Ernst Lubitsch, fast gleichaltrig und wie er ein Berliner Jude, eine Satire auf die Nazi-Diktatur gedreht hat. Eine der größten und kühnsten Satiren der Filmgeschichte überhaupt, weil sie die furchtbarsten Schergen des 20. Jahrhunderts in der ganzen Lächerlichkeit ihres Apparats und ihrer Selbstdarstellung bloßstellt, ohne ihre Schrecken zu leugnen. Lubitsch hat Tucholskys Diktum befolgt und sich die Freiheit genommen, alles zu dürfen.

"Sein oder Nichtsein" (To Be or Not to Be, R: Ernst Lubitsch, 1942) beginnt kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in den Straßen von Warschau. Passanten bleiben stehen, starren erschrocken, andere flüchten: An einer Ecke steht Adolf Hitler. "Der Mann mit dem kleinen Schnurrbart", wie ihn eine Erzählstimme aus dem Off nennt, geht ein paar Schritte, stellt sich dann vor seinem Spiegelbild in einer Geschäftsauslage zur Schau. Hitler! Hitler? Hier?

Schnell erzählt uns der Film in einer Rückblende, dass es sich nicht wirklich um Hitler handelt, sondern um einen Theaterdarsteller namens Bronski (Tom Dugan), der die Glaubwürdigkeit seiner Bühnenverkleidung durch einen Ausflug in die Wirklichkeit unter Beweis stellen will. Doch das wissen die verunsicherten Passanten nicht. Schließlich geht ein kleines Mädchen schüchtern auf den Mann zu, hält ihm ein aufgeschlagenes Buch hin und fragt: "Darf ich Sie um ein Autogramm bitten, Herr Bronski?" Das unschuldige Kind lässt sich nicht so einfach beeindrucken und täuschen.

Seid gewarnt, sagen diese ersten Szenen. Glaubt nicht alles, was Ihr seht! Lasst Euch nicht verwirren! Schein und Sein, Falsches und Echtes, Spiel und Ernst werden in diesem Film ineinander verschachtelt und gründlich durcheinander gewirbelt werden. Es wird Dopplungen, Spiegelungen, Täuschungen und Entlarvungen geben, und Ihr werdet erfahren, wie schnell die Menschen eine angemaßte Rolle für die Wahrheit nehmen.

"Sein oder Nichtsein" erzählt die Geschichte eines Warschauer Theaterensembles, das zufällig in den Widerstand gegen die Nationalsozialisten hineingerät. Die Stars der Truppe sind der ebenso eitle wie unbegabte Hamlet-Darsteller Joseph Tura (Jack Benny) und seine glamouröse, kokette, nicht sehr treue Frau Maria (Carole Lombard), die ihrem Gatten auf und hinter der Bühne ein Schnippchen nach dem anderen schlägt. Zuerst proben die Darsteller ein Anti-Nazi-Drama namens Gestapo, mit eben jenem Kleindarsteller Bronski als Hitler. Noch der letzte Charge kämpft dabei um einen großen Auftritt – oder zumindest einen Lacher. Doch schon vor der ersten Aufführung verbietet die Regierung das Stück: Es scheint ihr zu heikel.

Dann erfolgt der deutsche Überfall auf Polen – und der Film wandelt sich von der klassischen Bühnenfarce mit geschliffenen, doppeldeutigen Dialogen zum Kriegsdrama. Maria Tura ist die erste, die den Unterschied zwischen Bühne und Wirklichkeit, zwischen Gestapo und Gestapo begreift. Ein junger Fliegerleutnant, mit dem sie während des großen Hamlet-Monologs ihres Gatten gern in der Garderobe getechtelt hatte, schließt sich der britischen Luftwaffe an und entdeckt in London, dass ein Nazi-Doppelagent auf dem Weg nach Warschau ist, um den polnischen Widerstand an die deutschen Besatzer zu verraten. Der Leutnant kehrt nach Polen zurück, um diesen Verrat zu verhindern. Doch dazu braucht er die Hilfe des inzwischen arbeitslosen Theaterensembles.

Während der Doppelagent, in Warschau angekommen, die elegante Frau Tura in seinem Hotel zu umwerben beginnt und diese zum Schein auf seine Avancen eingeht, setzen die anderen Mitglieder der Truppe eine komplizierte Scharade in Gang. Sie lotsen den Agenten ins Theater, das sie als Gestapo-Hauptquartier ausstaffiert haben. In dieser Kulisse soll er seine Unterlagen an einen falschen Nazi-Oberbefehlshaber weitergeben – dargestellt natürlich von Joseph Tura, der diese Rolle des "Konzentrationslager-Ehrhardt" schon für das Theaterstück geprobt hatte – und dann soll er umgebracht werden. Doch Tura vermasselt seine Rolle – aus Eitelkeit, Unfähigkeit zum Improvisieren und Eifersucht. Am Ende ist der Agent zwar tot, das belastende Material aber noch nicht in Sicherheit, und die Scharade geht weiter.

Nun muss Tura – mit falschem Bärtchen – in die Rolle des Agenten schlüpfen und landet unverhofft im Büro des echten "Konzentrationslager-Ehrhardt" (Sig Ruman). So wiederholt sich die vorangegangene Szene zwischen Agent und Nazi, nur dass beim ersten Mal der Agent echt war und der Nazi falsch, beim zweiten Mal dagegen der Agent falsch ist und der Nazi echt. Und es stellt sich heraus: Ehrhardt ist nahezu so, wie ihn Tura gespielt hatte – ein alberner, dümmlicher, überheblicher und feiger Beamter von geradezu beiläufiger Grausamkeit.

Nach zahlreichen weiteren Verwicklungen, bei denen Bärtchen angeklebt und wieder abgerissen werden, gelingt es der Darstellertruppe nicht nur, die Untergrundbewegung zu retten, sondern auch, sich mit einem letzten großen Aufführungscoup ins rettende Großbritannien abzusetzen. In London darf Joseph Tura dann endlich wieder den Hamlet geben – und seine Gattin sich den nächsten Verehrer in die Garderobe bestellen, während er eben zu seinem großen Monolog anhebt. Das Private hat das Politische überdauert. Jetzt werden die Rollen wieder auf der Bühne verkörpert und nicht mehr im Leben, jetzt dürfen die Menschen ihren kleinen Schwächen nachgeben, ohne dass diese gleich lebensgefährlich werden. Die Welt ist einigermaßen ins Lot gerückt. Es ist Lubitschs Gegenentwurf zur NS-Diktatur: Eine Welt, in der Kleinigkeiten zählen, in der Menschen die Freiheit haben, ihr individuelles, privates Leben zu führen, ohne den Stechschritt der Ideologie fürchten zu müssen.

"Sein oder Nichtsein" wurde heftig attackiert, als er im Frühling 1942, wenige Monate nach dem Kriegseintritt der USA, in die amerikanischen Kinos kam. (In Deutschland wurde der Film erst 1960 herausgebracht.) Zum einen musste sich der Regisseur den Vorwurf gefallen lassen, er habe das Leiden der polnischen Bevölkerung ins Lächerliche gezogen, indem er seine Helden alles andere als heldenhaft darstellte. Doch gerade die Charakterschwächen der notorisch selbstbezogenen und geltungshungrigen Theaterleute, allen voran des Ehepaars Tura, machen sie charmant und liebenswert – und zutiefst menschlich. Zugleich liefern gerade die Schwächen die Voraussetzung dafür, ihr Heldentum umso eindrucksvoller zur Geltung zu bringen: Nur wer schwach ist, wer gern in läppische private Kränkungen zurückfällt wie Joseph Tura, der muss um seine Stärke kämpfen. Und stark sind Tura und die anderen am Ende. Dank ihrer Courage, Tapferkeit, Geistesgegenwart und Cleverness gelingt es ihnen, den Nazis die Regie zu entreißen.

Sie sind gut – als Darsteller und als Menschen. Auf den Brettern der Wirklichkeit, auf denen es nicht um Beifall, sondern um ihr Leben und die Zukunft des polnischen Widerstands geht, wachsen die Darsteller über sich hinaus, verkneifen sich nach und nach alle Mätzchen und Eitelkeiten und liefern die größte Darbietung ihrer Karriere ab. Die drohende Frage "Sein oder Nichtsein", der sie im existenziellen Sinne ausgeliefert sind, entscheiden sie aus eigener Kraft für sich.

Zum anderen wurde der Film dafür angegriffen, dass die darin dargestellten Nazis nicht jene bellenden, brutalen Uniformchiffren sind, die sich als Erzählkonvention zu diesem Zeitpunkt schon eingebürgert hatten. Vielmehr ist der Doppelagent ein distinguiert erscheinender Herr, der Gestapo-Chef Ehrhardt dagegen ein lächerlicher Popanz. Aber die Ungeheuerlichkeit des Zivilisationsbruchs wird gerade dadurch verdeutlicht, dass die Nazis eben keine kategorial Anderen sind, keine unvorstellbar Bösen, keine Bestien, sondern für die polnischen Darsteller durchaus spielbare Charaktere. Sie können die Nazis imitieren, sich in sie hineinversetzen und ihr Handeln berechnen, eben weil diese auch nur Menschen sind. Das befähigt die Darsteller zum einen dazu, die Nazis auszumanövrieren. Zum anderen aber scheint gerade in dieser Ähnlichkeit der Unterschied auf, der Abgrund, der die einen von den anderen trennt. Die polnischen Widerständler haben sich als Menschen bewusst für den Kampf gegen die Vernichtungsideologie entschieden. Die NS-Schergen haben sich als Menschen bewusst für diese Ideologie und einen Platz im Siegersystem entschieden.

Das macht sie böse. "Ich gebe zu, dass ich die Nazis nicht so dargestellt habe, wie das Filme, Romane und Stücke sonst tun, wenn sie Naziterror zeigen. Keine Folterkammer, keine Auspeitschung", schrieb Lubitsch damals zu seiner Verteidigung. "Meine Nazis sind anders: Sie sind längst über diese Stufe hinaus. Brutalität, Auspeitschen und Tortur sind ihre Alltagsroutine. Sie reden darüber wie ein Geschäftsmann über den Verkauf einer Handtasche. Sie machen ihre Witze über das KZ und die Leiden ihrer Opfer."

Mit im Rückblick geradezu unfassbarem Scharfsinn erfasst "Sein oder Nichtsein" zugleich das Theaterhafte, ja Theatralische, im innersten Wesen der NS-Terrordiktatur. Der Film stellt dem Gestapo-Hauptquartier sehr bewusst ausgerechnet den Bühnenkosmos gegenüber; das Vexierspiel um echte und falsche Bärte, Agenten, SS-Männer und Führer führt dazu, dass in dieser ständigen Verdoppelung und Spiegelung aller Figuren die Nähe zwischen den beiden Welten deutlich wird. Als der Regisseur bei den Gestapo-Proben bemängelt, er finde Bronski nicht überzeugend, weil er nur wie "ein Mann mit einem kleinen Schnurrbart" wirke, kontert der Maskenbildner: "Aber das ist Hitler doch auch nur." Auch die Nazis spielen Theater – und zwar der schmierigsten, wirkungsvollsten Art.

Das NS-Regime war eines, das sich durch hemmungslos triumphale Ausstattung, Dramaturgie und Inszenierung seine eigene verführerische Wirklichkeit und Bedeutung schuf, wie sich etwa an Leni Riefenstahls Film "Triumph des Willens" (1935) studieren lässt. Doch anders als in der harmlosen Bühnenwelt ist eine solche Theatralik in der Wirklichkeit nicht nur lächerlich und unangemessen, sondern wird zu einer tödlichen Bedrohung für alle, die in dieser Inszenierung als Opfer vorgesehen sind. Der wohl berühmteste – und umstrittenste – Satz des Films zeigt gerade diesen Unterschied auf: "Was der mit Shakespeare gemacht hat", sagt Gruppenführer Ehrhardt über Joseph Tura, "das machen wir heute mit Polen."

Darum ist es nur folgerichtig, dass es ausgerechnet Schauspieler sind, welche das Nazi-Theater ins Wanken bringen.

Kurt Tucholsky beging 1935 im schwedischen Exil Selbstmord, in finsterster Verzweiflung. "Sein oder Nichtsein", dieser amerikanische Film mit dem ganzen Esprit und Geist des europäischen Judentums, hätte ihm gefallen. Er hätte Tränen gelacht.

Interner Link: Filmkanon kompakt: Sein oder Nichtsein

Fussnoten

Weitere Inhalte

Lebt als freie Kulturjournalistin in Los Angeles. Sie ist promovierte Filmwissenschaftlerin und war zehn Jahre lang Kulturredakteurin bei "Der Spiegel". Zuletzt hat sie den Band "Bodies of Evidence. Geschlechterrepräsentationen von Hollywoodstars" (2003) veröffentlicht.