Am 4. März 1906 wohnte der deutsche Kaiser mit seiner Familie und großem Gefolge einem Konzert von 2.000 Berliner Schülerinnen und Schülern bei. Es war eine Großveranstaltung so recht nach dem Geschmack Wilhelms II., der dem Schulgesang eine hohe Bedeutung für die Weckung vaterländischer Gesinnung und die emotionale Verankerung seiner Herrschaft zumaß. Am Ende des Programms mit getrennten Präsentationen der Mädchen und Knaben – Letztere trugen mit Schwerin, der hat uns kommandiert und Lützows wilde Jagd zwei an vergangene siegreiche Kriege erinnernde Lieder vor – sangen alle gemeinsam Das treue deutsche Herz, eine schwülstig-pathetische Chorkomposition von Julius Otto, die sich in vielen Schulliederbüchern der Kaiserzeit findet. Pflichtergebenheit, Tugendstreben und Frömmigkeit werden darin zu nationalen Charaktereigenschaften erklärt, die dritte Strophe bekundet zudem die freudige Bereitschaft, im Kriegsfalle das eigene Leben für die Heimat hinzugeben: "Kein schön’rer Tod auch kann es sein, / Als froh’ dem Vaterland zu weih’n / Den schönen, hellen Edelstein, / Das treue deutsche Herz."
Die Erziehung zum Krieg setzte unter Wilhelm II. mit dem ersten Schultag ein. Eine zeitgenössische Handreichung für Lehrer zur "lebensfrohen Gestaltung" des Anfangsunterrichts enthält etwa den Vorschlag, die frisch eingeschulten Knaben aufzufordern, Holzsäbel, Helm, Trommel oder Trompete mitzubringen – kindliche Spielgeräte einer das Militärwesen über alle Maßen schätzenden Epoche –, und sie so ausgerüstet auf dem Schulhof "stolz auf und ab" marschieren zu lassen. Dazu sollte ein (zur Melodie von Alles neu macht der Mai) eigens verfasstes Liedlein angestimmt werden: "Kühn voran zieht die Fahn! Folget alle Mann für Mann! Tapfer mit! Tritt für Tritt! Haltet strammen Schritt!" Kriegsbezogene Lieder wurden vor 1914 in den Musikstunden aller Schularten und Klassenstufen gelernt und gesungen. Auf Wohlklang legte man dabei offenbar keinen allzu großen Wert. Wenn man an den "Schulkasernen" vorbeigehe, mokierte sich ein Ohrenzeuge damals, höre man häufig "ein Schreien und Plärren, dass man meint, es sei das Ziel des Gesangsunterrichts, Wände einzudröhnen oder Kehlen für germanischen Schlachtgesang zu trainieren".
Viele der einschlägigen Schullieder verklärten den Krieg zum kindlichen Abenteuerspiel. Zum Kernrepertoire zählten aber auch ältere Soldatenlieder wie Der gute Kamerad von Ludwig Uhland (Text 1809) und Friedrich Silcher (Vertonung 1825):
Eine Kugel kam geflogen,
Gilt’s mir oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen,
Er liegt mir vor den Füßen,
Als wär’s ein Stück von mir.
Schließlich erinnerten viele Lieder an deutsche Kriegshelden oder erfolgreiche Schlachten der Vergangenheit, zuletzt jene 1870 gegen die Franzosen bei Sedan.
"Zu unserem Kaiserthrone hinauf klingen die schönsten Jubellieder von Millionen deutscher Kinderstimmen"
Der Jahrestag der Schlacht von Sedan, der 2. September, wurde im 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreich zum Nationalfeiertag, den man vor allem in Preußen festlich beging. An den Schulen fiel der Unterricht aus, stattdessen veranstaltete man Sedanfeiern, auf denen patriotische Lieder gesungen wurden. Ein vielfach aufgelegtes Schulliederbuch der Zeit schrieb es der Macht gemeinsamen Gesangs zu, dass die Deutschen den Krieg 1870 / 71 gegen Frankreich hatten gewinnen können; ein Gedanke, der in manche Festrede am Sedantag eingeflochten worden sein dürfte.
Ein zweiter, fast noch bedeutsamerer unterrichtsfreier Festtag war der Geburtstag des Kaisers (Wilhelm I. am 22. März, Wilhelm II. am 27. Januar). Die heranwachsende Schuljugend sollte an diesem Tag uneingeschränkte Bewunderung für den Herrscher und obersten Feldherrn bekunden, wobei dem Vortrag oder gemeinsamen Gesang von Liedern wiederum eine wichtige Rolle zukam. Schulliederbücher stellten ein nach Altersgruppen differenziertes Repertoire bereit. Während man der ersten Volksschulklasse ein Lied wie Der Kaiser ist ein lieber Mann zudachte, das die persönliche Überbringung eines Blumengrußes ins Berliner Schloss imaginierte und so eine fiktive Nähe zwischen den kleinen Sängern und dem Kaiser herstellte, bestimmte die Liedtexte für die höheren Klassen ein Ton zunehmend untertäniger Devotion.
Das am Geburtstag des Kaisers sicherlich meistgesungene Lied war Heil dir im Siegerkranz. 1790 hatte ein gewisser Heinrich Harries eine deutsche Fassung der englischen Hymne God save the King als Loblied auf den dänischen König Christian VII. veröffentlicht; sie wurde in einer 1793 nochmals überarbeiteten Form zur preußischen Königshymne. Ab 1871 fungierte Heil dir im Siegerkranz schließlich als quasi inoffizielle Nationalhymne (eine amtlich-offizielle besaß das Deutsche Kaiserreich nicht). In den Schulen sang man Heil dir im Siegerkranz als politisches Vaterunser, als lautstarke Verbeugung vor dem "Herrscher des Vaterlands", dessen "Thrones Glanz … hohe Wonne" bereite (Strophe 1). Kaiser Wilhelm möge, so der im Lied vorgebrachte Wunsch, lange noch des deutschen "Volkes Zier, der Menschheit Stolz" bleiben (Strophe 5). Zugleich wurden die Liedträger auf Kriegs- und Opferbereitschaft ideologisch eingeschworen: "Wir alle … kämpfen und bluten gern für Thron und Reich" (Strophe 3).
Heil dir im Siegerkranz,
Herrscher des Vaterlands,
Heil, Kaiser, dir!
Fühl’ in des Thrones Glanz
Die hohe Wonne ganz:
Liebling des Volks zu sein!
Heil, Kaiser, dir!
Nicht Ross’ und Reisige
Sichern die steile Höh’,
Wo Fürsten stehn;
Liebe des Vaterlands,
Liebe des freien Mann’s
Gründet des Herrschers Thron
Wie Fels im Meer.
Heilige Flamme, glüh’,
Glüh’ und erlösche nie
Für’s Vaterland!
Wir alle stehen dann
Muthig für einen Mann,
Kämpfen und bluten gern
Für Thron und Reich.
[…]
Gleich zwei weitere "vaterländische Feste" fielen in das Jahr 1913. Im Juni beging man das 25-jährige Krönungsjubiläum Wilhelms II., Mitte Oktober feierte man mit großem Pomp das 100-jährige Jubiläum des Sieges über Napoleon in der "Völkerschlacht" bei Leipzig 1813. In zahlreichen Schüleraufführungen wurden Lieder der Befreiungskriege geboten, mit Texten etwa von Ernst Moritz Arndt (Der Gott, der Eisen wachsen ließ; Was blasen die Trompeten?) oder des 1813 gefallenen und als Kriegsheld verehrten Theodor Körner (Lützows wilde Jagd; Gebet während der Schlacht).
Theodor Körner: Leier und Schwert - Kapitel 30Lützows wilde Jagd.
Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein?
Hör's näher und näher brausen.
Es zieht sich herunter in düsteren Reih'n,
Und gellende Hörner schallen darein
Und erfüllen die Seele mit Grausen.
Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
Was zieht dort rasch durch den finstern Wald
Und streift von Bergen zu Bergen?
Es legt sich in nächtlichen Hinterhalt;
Das Hurra jauchzt und die Büchse knallt;
Es fallen die fränkischen Schergen.
Und wenn ihr die schwarzen Jäger fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
Wo die Reben dort glühen, dort braust der Rhein,
Der Wütrich geborgen sich meinte;
Da naht es schnell mit Gewitterschein
Und wirft sich mit rüst'gen Armen hinein
Und springt ans Ufer der Feinde.
Und wenn ihr die schwarzen Schwimmer fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
Was braust dort im Tale die laute Schlacht,
Was schlagen die Schwerter zusammen?
Wildherzige Reiter schlagen die Schlacht,
Und der Funke der Freiheit ist glühend erwacht
Und lodert in blutigen Flammen.
Und wenn ihr die schwarzen Reiter fragt:
Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd.
Wer scheidet dort röchelnd vom Sonnenlicht,
Unter winselnde Feinde gebettet?
Es zuckt der Tod auf dem Angesicht;
Doch die wackern Herzen erzittern nicht.
Das Vaterland ist ja gerettet.
Und wenn ihr die schwarzen Gefall'nen fragt:
Das war Lützows wilde, verwegene Jagd.
Die wilde Jagd und die deutsche Jagd
Auf Henkersblut und Tyrannen!
Drum, die ihr uns liebt, nicht geweint und geklagt!
Das Land ist ja frei, und der Morgen tagt,
Wenn wir's auch nur sterbend gewannen.
Und von Enkeln zu Enkeln sei's nachgesagt:
Das war Lützows wilde, verwegene Jagd.
Quelle: Externer Link: http://gutenberg.spiegel.de/buch/leier-und-schwert-1909/30
Der Zeitgeist am Vorabend des Ersten Weltkriegs spiegelt sich in einer Rede des Bremer Bürgermeisters anlässlich einer solchen mit Massengesängen begangenen Jahrhundertfeier: "Wir halten unser Schwert scharf und blank zu Wasser und zu Lande", bekundete er und drückte so deutsche Wehrbereitschaft aus. Zwar wisse nur Gott allein, wandte er sich den anwesenden Schülern zu, ob sie noch einmal "mit unsern Feinden" kämpfen müssten. "Aber nicht nur der Krieg, sondern auch das ganze Leben ist ein Kampf der Einzelnen und der Völker. Dafür, deutsche Jugend, stähle deinen Körper und erhebe deine Seele."
Propagandapostkarte aus dem Ersten Weltkrieg mit einem Auszug aus dem Lied Der Gott, der Eisen wachsen ließ (© Historische Bildpostkarten – Universität Osnabrück – Slg. Prof. Dr. Sabine Giesbrecht -www.bildpostkarten.uos.de)
Propagandapostkarte aus dem Ersten Weltkrieg mit einem Auszug aus dem Lied Der Gott, der Eisen wachsen ließ (© Historische Bildpostkarten – Universität Osnabrück – Slg. Prof. Dr. Sabine Giesbrecht -www.bildpostkarten.uos.de)
"Sie werden mit dem Volksliede den Patriotismus stärken"
In seiner 1908 erschienenen
Die bürgerliche Sängerbewegung entstand in der Restaurationszeit nach den Befreiungskriegen und entwickelte sich zu einem wichtigen Träger des Nationalgedankens, d. h. des Strebens nach Überwindung der kleinstaatlichen Zersplitterung Deutschlands. Mit Gründung des Deutschen Kaiserreichs mutierte die Sängerbewegung zur staatstragenden Kraft, Chorkonzerte glichen nationalreligiösen Gelöbnisritualen. "Zu meiner Freude", verlautbarte Wilhelm II. in einem kaiserlichen Erlass vom 27. Januar 1895 (seinem 36. Geburtstag), "habe ich in letzter Zeit mehrfach Gelegenheit gehabt wahrzunehmen, wie die deutschen Männergesangvereine bestrebt sind, den vaterländischen Gesang zu pflegen und zu fördern". Deutsches Lied und deutscher Sang hätten "alle Zeit auf die Veredelung der Volksseele einen segensreichen Einfluss geübt und die Nation in der Treue gegen Gott, Thron, Vaterland und Familie gestärkt". Deshalb stifte er einen Wanderpreis "in Form eines Kleinods aus edlem Metall", der "bei einem etwa jährlich zu veranstaltenden Wettstreite deutscher Männergesangvereine dem jedesmaligen Sieger für die beste Leistung auf diesem Gebiet zuerkannt werden" solle.
Ernst Moritz ArndtDer Gott, der Eisen wachsen ließ
Der Gott, der Eisen wachsen ließ,
der wollte keine Knechte,
drum gab er Säbel, Schwert und Spieß
dem Mann in seine Rechte,
drum gab er ihm den kühnen Mut,
den Zorn der freien Rede,
dass er bestände bis aufs Blut,
bis in den Tod die Fehde.
So wollen wir, was Gott gewollt,
mit rechten Treuen halten
und nimmer um Tyrannensold
die Menschenschädel spalten.
Doch wer für Schand und Tande ficht,
den hauen wir in Scherben,
der soll im deutschen Lande nicht
mit deutschen Männern erben!
O Deutschland heil’ges Vaterland,
o deutsche Lieb’ und Treue!
Du hohes Land, du schönes Land,
wir schwören dir aufs Neue:
Dem Buben und dem Knecht die Acht,
der speise Kräh’n und Raben!
So ziehen wir aus zur Hermannsschlacht
Und wollen Rache haben.
Lasst brausen, was nur brausen kann,
in hellen, lichten Flammen!
Ihr Deutsche alle Mann für Mann,
zum heil’gen Krieg zusammen!
Und hebt die Herzen himmelan
Und himmelan die Hände,
und rufet alle Mann für Mann:
Die Knechtschaft hat ein Ende.
Lasst wehen, was nur wehen kann,
Standarten weh’n und Fahnen,
wir wollen heut uns Mann für Mann
zum Heldentod ermahnen.
Auf! Fliege hohes Siegspanier,
voran den kühnen Reihen!
Wir siegen oder sterben hier
Den süßen Tod der freien.
Quelle: Externer Link: http://gutenberg.spiegel.de/buch/gedichte-2227/96
Durchgeführt wurde das von Wilhelm II. initiierte "Kaiserpreissingen" erstmals 1899 in Kassel, danach 1903, 1909 und 1913 in Frankfurt am Main. Der Kaiser selbst beehrte die vier Veranstaltungen mit seinem Besuch, womit sie höfisch-zeremoniellen Charakter bekamen. Nicht nur, weil damit die "Gemütlichkeit" sonstiger Chorfeste verloren ging, kritisierten manche Vertreter des Deutschen Sängerbunds das "Kaiserpreissingen", sondern auch, weil die Idee des Wettstreits mit der Idee der sängerischen Gemeinschaft kollidierte.
Propagandapostkarte aus dem Ersten Weltkrieg für das Rote Kreuz mit der zweiten Strophe des Liedes Der gute Kamerad. (© Historische Bildpostkarten – Universität Osnabrück – Slg. Prof. Dr. Sabine Giesbrecht -www.bildpostkarten.uos.de)
Propagandapostkarte aus dem Ersten Weltkrieg für das Rote Kreuz mit der zweiten Strophe des Liedes Der gute Kamerad. (© Historische Bildpostkarten – Universität Osnabrück – Slg. Prof. Dr. Sabine Giesbrecht -www.bildpostkarten.uos.de)
Dass im Wettsingen die Tendenz zu immer anspruchsvolleren Chorwerken angelegt war, erkannte der Kaiser selbst als Problem. Nach dem Wettsingen 1903 äußerte er sich den Dirigenten der beteiligten Chöre gegenüber zwar befriedigt, dass "so patriotische und schöne Texte" gewählt worden seien, die "von alten Kaisersagen und großer Vorzeit" handelten, kritisierte aber zugleich die aufgeführten Kompositionen wegen ihrer schwelgerischen Tonmalereien und ihrer Orientierung am instrumentalen Orchesterklang. "Ich möchte dringend davor warnen, dass Sie nicht etwa auf den Weg treten, es philharmonischen Chören gleichzutun. Meine Ansicht ist: der Männergesangverein ist dazu nicht da; er soll das Volkslied pflegen." Nicht nur werde das Publikum dies "mit Dank und Jubel begrüßen", sondern man erfülle damit zugleich eine übergeordnete Aufgabe: "Sie werden mit dem Volksliede den Patriotismus stärken und damit das allgemeine Band, das alle umschließen soll."
Wilhelm II. beauftragte bald danach zwei Kommissionen mit der Erstellung einer Mustersammlung. Sie sollte zum einen "echte" Volkslieder enthalten, die (so der Kaiser) "jedem Deutschen ans Herz gewachsen sind" und "in ewiger Jugendschönheit und Jugendfrische den zerstörenden Wirkungen der Zeit Trotz geboten haben"; zum anderen sollten in ihr Kunstlieder im Volkston wie Wer hat dich, du schöner Wald (Text: Joseph von Eichendorff 1810, Vertonung: Felix Mendelssohn-Bartholdy 1841) oder Der gute Kamerad aufgenommen werden. Ende 1906 erschien als Ergebnis dieser Arbeit ein zweibändiges, 610 Titel umfassendes Volksliederbuch für Männerchor ("Herausgegeben auf Veranlassung Seiner Majestät des Deutschen Kaisers"). Beim "Kaiserpreissingen" 1909 und 1913 stützte sich eine Reihe von Teilnehmerchören bei der Auswahl ihrer Lieder auf dieses Volksliederbuch. "Solange dem deutschen Volk sein Volkslied erhalten bleibt, so lange bleibt auch das Volk gut", unterstrich Wilhelm II. seinen Standpunkt bei dieser Gelegenheit nochmals.
Ludwig UhlandDer gute Kamerad
Ich hatt einen Kameraden,
Einen bessern findst du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
In gleichem Schritt und Tritt.
Eine Kugel kam geflogen,
Gilt's mir oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen,
Er liegt mir vor den Füßen,
Als wär's ein Stück von mir.
Will mir die Hand noch reichen,
Derweil ich eben lad.
Kann dir die Hand nicht geben,
Bleib du im ewgen Leben
Mein guter Kamerad!
Quelle: Externer Link: http://gutenberg.spiegel.de/buch/ludwig-uhland-gedichte-5084/9
Nicht wenige dachten damals wie der Kaiser. Kulturkonservative Volksliedideologen erwarteten von der Pflege des Volkslieds Rettung in vielerlei Hinsicht: Es sollte helfen, gesellschaftliche Zerklüftungen zu überwinden, und ein Bollwerk gegen die "zerstörenden Wirkungen" der Moderne bilden, es sollte der moralischen Veredelung und Gemütsbildung des "Volkes" dienen und gegen "schmutzige" Gassenlieder und Schlagerschund immunisieren.
"Heil dir im Siegerkranz, mei Schuh sinn nimmer ganz"
Aus der Zeit des Kaiserreichs sind zahlreiche Parodien patriotischer Lieder aus Schülermund überliefert, die belegen, dass die pathosgeschwängerte, gestelzte Feierlichkeit der Texte und Singsituationen die Schüler nicht vollends gefangen nahm, sondern für diese auch Momente des Lächerlichen barg. Zum Ausdruck kommt dies in den spaßhaften Fassungen der Kaiserhymne, die Kinder damals überall sangen, etwa:
Heil dir im Siegerkranz
Mei Schuh sinn nimmer ganz
Heil Schuster dir
Host mir sie schlecht gemacht
Babbedeckelsuhle druf gemacht
Geb dir kä Geld dafür
Heil Schuster dir.
1905 aufgezeichnet in Wertheim am Main
Neben solchen Parodien harmloser Art waren andere in Umlauf, die zu einer Überwindung der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse aufriefen. In Liederbüchern aus dem oppositionellen sozialdemokratischen Milieu findet sich dafür manches Beispiel. Zur Melodie von Heil dir im Siegerkranz schrieb ein anonymer Verfasser den folgenden Aufruf an die Arbeiter:
Arbeiter, all’ erwacht!
Es bricht durch dunkle Nacht
Der Freiheit Sonn’!
Reich dir, du vierter Stand,
Treulich die Bruderhand
Ringsum im deutschen Land,
Dem Feind zum Hohn.
Warum noch zögerst du?
Was hält in träger Ruh
Dich noch zurück?
Stehst du vor Schrecken bleich?
Fürchtest wohl gar du feig,
Dass nimmer von dir weich’
Dein schwer Geschick?
Hoffst du auch bis an’s Grab,
Kein Retter kommt herab
Von Himmelshöh’n.
Willst du, ein frei Geschlecht,
Nicht länger bleiben Knecht,
Musst für dein gutes Recht
Du selber steh’n.
Sieh, wie so Mancher dort
Üppig lebt fort und fort
Von deinem Schweiß!
Dir lässt man nichts davon,
Als eine Dornenkron’;
Mühsal ist nur dein Lohn
Selbst noch als Greis.
Drum schließt euch Mann für Mann
All’ uns’rem Bunde an,
Und einig seid!
Das Schwerste selbst gelingt
Dem, der kühn vorwärts dringt,
Ans Ziel uns sicher bringt
Die Einigkeit!
Die Arbeit lebe hoch!
Sie soll im schweren Joch
nicht länger sein!
Geh du, o vierter Stand,
Treu und fest Hand in Hand,
Dring vorwärts unverwandt,
Dich zu befrei’n!