In den Monaten nach der Okkupation der CSSR 1968 durch Truppen des Warschauer Pakts überraschten Prags Reformpolitiker noch einmal durch Standhaftigkeit gegenüber der sowjetischen Parteiführung. Doch es begann die Erosion der Reformen. Aber der Prager Frühling brach das Gehäuse der sozialistischen Zeitordnung auf. Ein Blick auf die Nachgeschichte des Prager Frühlings von Prof. Martin Schulze Wessel.
Ungeachtet ihrer militärischen Übermacht – etwa eine halbe Million Soldaten der Sowjetunion, Polens, Ungarns und Bulgariens Interner Link: marschierten in der Nacht zum 21. August in die Tschechoslowakei ein, und Divisionen der Nationalen Volksarmee standen an der Grenze der DDR bereit –, erreichten die verbündeten Reformgegner des Warschauer Pakts zunächst nicht ihre Ziele. Die sowjetischen Besatzer verhafteten zwar führende Parteifunktionäre der Tschechoslowakei, darunter Parteichef Dubček, Ministerpräsident Černík, Parlamentspräsident Smrkovský, den Vorsitzenden der nationalen Front, František Kriegel und überführten sie nach Moskau. Ihr Versuch, eine Kollaborationsregierung einzusetzen, scheiterte jedoch zunächst daran, dass der für September geplante 14. Parteitag der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (Komunistická strana Československa, Abk. KSČ) nun vorzeitig im Prager Stadtteil Vysočany unter dem Schutz der Volksmilizen zusammenkam und die Legitimität der Führung Dubčeks bestätigte.
Dann stieß die Okkupationsmacht auf die Weigerung des tschechoslowakischen Staatspräsidenten Ludvík Svoboda, durch seine Unterschrift der Ernennung einer neuen Regierung den Anschein von Rechtmäßigkeit zu verleihen. Svoboda reiste nach Moskau und konnte durchsetzen, dass die dorthin verschleppte rechtmäßige Partei- und Staatsführung zu den Verhandlungen hinzugezogen wurde. Die offizielle sowjetische Erklärung zum Truppeneinmarsch, die die Nachrichtenagentur TASS am 21. August verbreitete, berief sich auf ein Hilfeersuchen aus der KSČ. Eine willfährige tschechoslowakische Regierung, die dieses bestätigt hätte, gab es nun aber nicht; der Widerstand Svobodas gegen die Installierung eines Marionettenregimes machte die offizielle sowjetische Verlautbarung von Anfang an unglaubhaft.
Die Verhandlungen, die Breschnew mit den tschechoslowakischen Spitzenpolitikern (außer Präsident Svoboda und den nach Moskau verbrachten Mitgliedern des Parteipräsidiums kamen noch weitere Politiker wie Zdeněk Mlynář, Gustáv Husák u. a. hinzu) im Kreml führte, zielten auf die Verabschiedung eines gemeinsamen Protokolls, das unter den gegebenen Bedingungen nur den Charakter einer Kapitulationserklärung haben konnte. Dubček brach unter der Last der Verantwortung zusammen.
Im Angesicht des leblos daliegenden, unter starken Beruhigungsmitteln stehenden Parteiführers erblickte Mlynář die Bilder eines Märtyrers, der unter der Folter lächelte: »Dubček hatte das gleiche Dulderlächeln, und die Falten, die auf dem weißen Kissen strahlenförmig von seinem Kopf ausgingen, ersetzten den Heiligenschein.« Dubček war fest entschlossen, nicht zu unterschreiben und »seinen Weg zu Ende zu gehen«, doch nötigte ihn Präsident Svoboda, seiner Verantwortung für das Land gerecht zu werden und eine noch schlimmere Entwicklung abzuwenden. Dubček und die gesamte Parteiführung unterschrieben das Protokoll – mit der Ausnahme František Kriegels, der sich der Unterzeichnung entziehen konnte.
Geheimgehaltenes Protokoll
Mit ihrer Unterschrift verpflichteten sie sich, die Errungenschaften des Prager Frühlings wie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu beseitigen. Das Protokoll wurde auf Wunsch Dubčeks geheimgehalten, für die Öffentlichkeit unterzeichnete man ein gemeinsames Kommuniqué, das die »Normalisierung« der Verhältnisse als Ziel ausgab, und stieß mit Champagner darauf an. Die Farce blieb der tschechoslowakischen Bevölkerung verborgen, die ihre politische Führung bei der Rückkehr in Prag begeistert begrüßte.
Mit der Unterzeichnung des Moskauer Protokolls hatte zwar die Politik kapituliert, aber noch nicht das Volk. Die Invasion stieß auf geschlossenen, gewaltlosen Widerstand. Überall in Prag waren Graffiti mit den Namen Dubčeks und Svobodas zu sehen, die in der Novotný-Ära so gerne verwendete Propagandaformel »Ami go home!« wurde in »Ivan go home!« umgewandelt, die tschechische Abkürzung für UdSSR (tschech.: SSSR) wurde mit SS-Runen wiedergegeben, Hammer und Sichel zu Hakenkreuzen verformt.
Die eindringlichsten Bilder des Widerstands gegen die Besatzung zeigten Menschen, die mit den Soldaten auf ihren Panzern sprechen. Sie zeugten vom Bestreben der Bevölkerung, mit Argumenten auf die Besatzungstruppen einzuwirken. Dergleichen wäre im März 1939 nach dem Einmarsch der deutschen Truppen unmöglich gewesen. Im August 1968 hingegen hielt man die Besatzer für irregeleitete, von der Armeeführung missbrauchte Soldaten, aber nicht für Feinde. Selbst in der Okkupation spiegelte sich die tiefverwurzelte Erinnerung an die Freundschaft mit der Sowjetunion wider. Viele Prager hatten sowjetische Kampfpanzer zum letzten Mal am 9. Mai 1945 gesehen – als Befreier ihrer Stadt vom Nationalsozialismus.
Der alles beherrschende Eindruck des gemeinsamen Widerstands des gesamten Volkes gehörte zu den prägendsten Erfahrungen aus der Zeit des Prager Frühlings. Unter der Überschrift »Wir stehen fest geeint mit den tschechischen Kommunisten« verurteilte am 26. August auch die Slowakische KP die sowjetische Invasion. Die Auflehnung der Bevölkerung gegen die Okkupation ging einher mit einem nie dagewesenen Vertrauen in die Regierung. Das Akademie-Institut für Meinungsforschung führte am 28. August eine Umfrage unter Prager Bürgern durch, die eine überwältigende Unterstützung für Alexander Dubček ergab. 99 Prozent der Befragten bekundeten ihr Vertrauen zu ihm. Fast genauso eindeutig fielen die Antworten bei der Frage aus, ob vor der Invasion die Gefahr einer Konterrevolution bestanden habe. Nur zwei Prozent bejahten diese Frage, 93 Prozent negierten die behauptete Gefahr. Der überraschendste Befund der Meinungsumfrage war, dass sich fast 80 Prozent der Bevölkerung davon überzeugt zeigten, die Einheit des Volkes könne über einen längeren Zeitpunkt bewahrt werden. Nur sieben Prozent äußerten sich in diesem Punkt skeptisch.
Die Erosion des Reformprozesses
Einen Tag, nachdem das Akademie-Institut das Stimmungsbild erkundet hatte, welches das Vertrauen der Bevölkerung in den Reformprozess so eindeutig dokumentierte, wurde Husák zum Ersten Sekretär der Slowakischen KP gewählt. Zu seinen ersten Verlautbarungen im neuen politischen Amt gehörte die Verurteilung des spontan zusammengerufenen Parteitags von Vysočany, der Dubčeks Position unterstützt hatte. Damit begann die allmähliche Erosion des Prager Frühlings.
Zwar wurden nicht alle Freiheiten sofort aufgehoben, ja, eine wichtige Reform, die Föderalisierung der Tschechoslowakei, wurde noch nach der Okkupation am 1. Januar 1969 Gesetz. Die neue staatsrechtliche Ordnung blieb aber das einzige Projekt des Prager Frühlings, dem Dauer beschieden war. In allen anderen Bereichen kehrte sich die Entwicklung um. Die Aufarbeitung der Vergangenheit kam zum Erliegen, und bald wurden die Opfer der stalinistischen Prozesse erneut verfemt. Auch die Zukunftsplanungen wurden angesichts der bewaffneten Intervention obsolet. An die umfassende Wirtschaftsreform Ota Šiks war nicht mehr zu denken, geschweige denn an rechtsstaatliche Demokratie im Sinne von Zdeněk Mlynář. Nur Radovan Richtas Konzept der »wissenschaftlich-technischen Revolution« lebte, seiner humanistischen Aspekte allerdings beraubt, unter autoritären Bedingungen weiter.
Nichts war bitterer als die Rücknahme der schon errungenen Freiheiten. Dies empfanden vor allem die Jugendlichen, die, weit davon entfernt, eine einheitliche Bewegung zu bilden, den Prager Frühling durch ihren Eigensinn und mit ihren Demonstrationen vorbereitet, die großen Reden Josef Smrkovskýs, Ota Šiks und anderer in den Märztagen aufgegriffen und den Reformprozess mit provokativen Aktionen zeitweise auch radikalisiert hatten. Unter ihnen wirkte die Entmutigung besonders stark. Entschlossenen, langanhaltenden Widerstand leisteten Studentengruppen, die – im scharfen Kontrast zur 68er-Rebellion im Westen – an die politische Führung der Vätergeneration geglaubt hatte.
Dieser Zusammenhang riss erstmals sichtbar auf, als der 21-jährige Geschichtsstudent Jan Palach sich auf den Weg der Selbstaufopferung begab. Am 16. Januar 1969 verbrannte er sich als »Fackel Nr. 1« auf dem Wenzelsplatz an den Treppen des tschechischen Nationalmuseums. »Da unser Land«, so sein Abschiedsbrief, »davor steht, der Hoffnungslosigkeit zu erliegen, haben wir uns dazu entschlossen, unserem Protest auf diese Weise Ausdruck zu verleihen, um die Menschen aufzurütteln.« Dubček erlitt einen Schwächeanfall.
Noch an Palachs Todestag strömten 200.000 Menschen an die Stelle seiner Vebrennung, um Kränze niederzulegen. Sein Begräbnis, an dem sich 10.000 Menschen beteiligten, ging eine feierliche Aufbahrung in der Karls-Universität zu Füßen einer Statue von Jan Hus voraus. Damit war die Deutung seiner Tat vorgezeichnet, Jan Palach galt künftig als Märtyrer des Prager Frühlings, als Inkarnation seiner Nation und – in den Augen westlicher Beobachter – auch als Symbol des Antikommunismus.
Dubček dagegen, der zum Zeitpunkt der Selbstverbrennung Jan Palachs immer noch als Erster Sekretär seiner Partei amtierte und erst im April 1969 von Gustáv Husák abgelöst wurde, entwickelte sich zur tragischen Figur. Seit dem Mai 1968 hatte er, um den sowjetischen Erwartungen zu entsprechen, immer wieder Kompromisse geschlossen und erst im Juli den Weg einer Gesinnungspolitik eingeschlagen, die er aber unter dem ungeheueren Druck der Moskauer Verhandlungen im August nicht durchhalten konnte. Weder Freiheitsheld noch Märtyrer seines Volkes, betrieb er nun die Politik des geringeren Übels. Dubček verstrickte sich in einem bizarren Zynismus, als er ein Jahr nach dem Einmarsch, am 22. August 1969, in seiner neuen Funktion als Vorsitzender der Nationalversammlung ein Gesetz unterzeichnete, das es erlaubte, Demonstranten zu verhaften und zu verurteilen, die mit seinem Namen auf den Lippen auf die Straße gingen.
Was war der Prager Frühling?
Einer seiner intelligentesten Architekten, Zdeňek Mlynář, hat rückblickend bemerkt, dass der Reformprozess im Hinblick auf seine äußeren Bedingungen nicht realistisch genug verlief, um zu gelingen, aber es ihm zugleich an der nötigen Radikalität fehlte, um sich dauerhaft in das Gedächtnis der Nation einzuprägen. Insofern teilte der Prager Frühling das Scheitern mit seinem Protagonisten Alexander Dubček. Und doch stellt er weit mehr als eine Episode dar. Er war eine Epoche für sich, eine ungeheuer verdichtete Zeit, in der mehr durchdacht, diskutiert, geplant und begonnen wurde als in den Dekaden zuvor und danach. Das größte, bislang wenig beachtete Verdienst der Reformperiode war, dass sie die tschechoslowakische Gesellschaft auf eine neue moralische Grundlage stellte.
Den chauvinistischen Konsens der fünfziger Jahre, der vor 1968 stets nur halbherzig in Frage gestellt worden war, kündigte der Prager Frühling mit seiner öffentlichen Rehabilitierung der Justizopfer von damals auf. Dabei bekämpfte er offensiv die antisemitischen Ressentiments, die in der stalinistischen Zeit in erheblichem Maße den Charakter einer stillen Übereinkunft zwischen Herrschern und Beherrschten angenommen hatten. Das konnte nur gelingen, weil die Akteure den Prager Frühling zugleich als ein neues, zukunftweisendes Projekt für die Gesellschaft entwarfen. Genau genommen waren es mehrere verschiedene Projekte – die Neuordnung von Recht und Politik, die Wirtschaftsreformen, die veränderte Rolle der Kultur und Öffentlichkeit in der Gesellschaft. Diese ergänzten sich nicht durchweg harmonisch, sondern standen teilweise sogar im Widerspruch zueinander.
In der kurzen Zeit der Frühjahrs- und Sommermonate alles zu Ende zu bringen erwies sich als ein Ding der Unmöglichkeit. Vieles blieb in den Widersprüchen und Zufälligkeiten des historischen Prozesses stecken: Die nichtkommunistischen Opfer der Justizverbrechen erhielten auch 1968 keine vollständige Anerkennung, die vielbeschworene Demokratisierung kam nicht am Ziel einer verfassungsmäßig verankerten, rechtsstaatlichen Demokratie an, und viele der geplanten Wirtschaftsreformen blieben Stückwerk.
Der Prager Frühling als Zäsur
Die Politik agierte 1968 im Modus der beständigen Überforderung, sie litt unter dem Verlust der gewohnten Steuerungsmechanismen und musste sich in kürzester Zeit den Bedingungen der neuen Öffentlichkeit anpassen. Insofern gab es – ganz abgesehen von den äußeren Bedingungen – auch viele intern zu erklärende Begrenzungen und Aporien des Prager Frühlings. Doch greift es zu kurz, den Reformprozess ausschließlich am Saldo seiner realisierten Projekte zu messen, viel wichtiger war die Zäsur, die er im Verlauf der tschechoslowakischen Geschichte darstellte.
Der Prager Frühling brach das Gehäuse der sozialistischen Zeitordnung auf, die mit ihrem schematisch vorgezeichneten Fortschritt keine Vorstellung von Kontingenz und Spontaneität zuließ. Wer am Prager Frühling teilgenommen oder ihn – wie viele DDR-Bürger – aus der Nähe beobachtet hatte, konnte selbst in der bleiernen Zeit der Normalisierung nicht mehr annehmen, dass diktatorische Ordnungen für die Ewigkeit gemacht sind.
Prof. Dr. Martin Schulze Wessel lehrt Osteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Von 2012 bis 2016 war er Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).