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„Halten Sie stand – Behalten Sie Hoffnung“ | Prag 1968 | bpb.de

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„Halten Sie stand – Behalten Sie Hoffnung“ Ein Flugblatt und seine Folgen 1968 – Ein Interview mit dem Historiker Bernd Eisenfeld

Doris Liebermann

/ 13 Minuten zu lesen

Solidarität aus der DDR konnte teuer zu stehen kommen. Der spätere DDR-Historiker Bernd Eisenfeld kam zweieinhalb Jahre in Stasi-Haft. Nur wegen einem Flugblatt, auf dem er Lenin zitierte.

Telegramm Bernd Eisenfelds 1968 an die tschechoslowakische Botschaft mit dem Text: „Halten Sie stand – Behalten Sie Hoffnung" (© www.jugendopposition.de)

Der Versuch, einen Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“ aufzubauen, löste 1968 in der tschechoslowakischen Gesellschaft euphorische Zustimmung aus. Dieses Ziel, Sozialismus und Demokratie zu verbinden, wurde 1968 von oben, aus der Partei heraus, ermöglicht, aber schon in den Vorjahren vor allem durch Schriftsteller und Intellektuelle in Gang gesetzt. Auch in der DDR hofften viele Menschen auf eine Aufweichung des starren, rigiden Systems, und hofften, dass der Funke aus Prag auch auf Ost-Berlin überspringt. Einer von ihnen war Bernd Eisenfeld, damals Bankangestellter und Wehrdienstverweigerer. Mit Folgen: er verlor seinen Job. 1968 erfolgte seine Inhaftierung nach einer Flugblattaktion gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei. Sein Prozess erfolgte unter Ausschluss der Öffentlichkeit - das Urteil: zweieinhalb Jahre Haft. Während Funktionärskinder, die wegen ähnlicher Delikte inhaftiert wurden, schon im November 1968 durch eine Amnestie auf freien Fuß kamen, musste Eisenfeld seine Strafe absitzen. 1975 konnte er nach zahlreichen Ausreiseanträgen die DDR verlassen – er hatte sich zwischenzeitlich hilfesuchend sogar an die UNO gewandt. Er studierte Geschichte und arbeitete als Historiker im Gesamtdeutschen Institut, bzw. später der Bundeszentrale für politische Bildung. Mit Gründung der Stasi-Unterlagen-Behörde übernahm er dort die Leitung des Fachbereichs Forschung. Eisenfeld starb 2010. Das nachfolgende Gespräch hatte kurz zuvor die Autorin Doris Liebermann mit ihm geführt.

Doris Liebermann: Herr Eisenfeld, Sie wurden 1968 im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Prager Frühlings verhaftet. Könnten Sie zunächst etwas zu Ihrer Lebenssituation vor der Verhaftung erzählen?

Bernd Eisenfeld: Ich hatte 1968 bereits ein Berufsverbot. Ich hatte Finanzwirtschaft in Gotha studiert, über den zweiten Bildungsweg, den es in der DDR gab, wenn man kein Arbeiterkind war. Danach war ich bei einer Bank in Halle beschäftigt, sie war zuständig für die Finanzierung der Elektrochemie und dann des Kombinats Chemische Werke Buna. Aber ich konnte dort nicht lange bleiben. Denn 1967 hatte ich mich für den damaligen Wehr-Ersatzdienst in der DDR, den Bausoldaten-Dienst entschieden. Als ich von den Bausoldaten zurückkam, erhielt ich quasi ein Berufsverbot. Die Begründung lautete: "Wer nicht bereit ist, den Ehrendienst mit der Waffe zu leisten, hat im Staatsapparat, zu dem die Banken der DDR gehören, nichts zu suchen". Das beschnitt automatisch auch viele Zugänge zu anderen Bereichen des – heute würde man sagen – öffentlichen Dienstes der DDR.

Wegen Engagements im ökumenischen Friedenskreis in Halle, waren Sie damals schon ins Visier der Stasi gekommen. Da muss die Nachricht von der Entmachtung des tschechoslowakischen Präsidenten und Parteichefs Antonín Novotný und der Wahl Alexander Dubčeks im Januar 1968 zu seinem Nachfolger große Hoffnungen in Ihnen geweckt haben?

Bernd Eisenfeld: Bis zum Prager Frühling hatten wir Andersdenkenden keine Legitimationsbasis. Wir mussten uns auf den Westen oder auf Jugoslawien berufen, wenn es um bürgerliche Freiheiten ging. Nun gab es erstmals die Situation, dass man sich auf das Programm eines Ostblockstaates stützen konnte, das Demokratie und Sozialismus vereinte. Deswegen war ich von Anfang an ein Anhänger des Prager Frühlings. Ich engagierte mich sehr stark und sprach mich offen dafür aus, sowohl in meinem Arbeitsfeld als auch öffentlich durch Diskussionsbeiträge, Leserbriefe an Zeitungen und ähnliches. Im Frühjahr 1968 versuchte ich, an einem öffentlichen Forum in Halle teilzunehmen und die Vorstellungen über die Entwicklungen in der Tschechoslowakei unterzubringen. Ich sprach mich offen für mehr Informationsfreiheit und Demokratie aus. Ich berief mich auf den Reformkommunisten Robert Havemann und auf die Entwicklung in der Tschechoslowakei. Heute weiß ich nach der Einsicht in meine Stasi-Unterlagen, dass unmittelbar nach dieser Veranstaltung ein operativer Vorgang gegen mich eingeleitet wurde mit dem Ziel, mich wegen staatsfeindlicher Hetze zu verurteilen.

Sind Sie 1968 auch nach Prag gefahren?

Bernd Eisenfeld (gest. 2010) (© www.jugendopposition.de)

Ja klar, im Mai 1968 mit zweien meiner Brüder, übrigens ohne, dass die Stasi das mitbekam. Prag war natürlich eine richtige Offenbarung. Das Klima, die Stimmung, die Euphorie, auf der anderen Seite aber auch Ängste. Die Leute waren besorgt: geht das denn so weiter? Wir sprachen mit Medienvertretern, besuchten Radio Prag, suchten eine deutschsprachige Zeitung in Prag auf und informierten uns. Wir führten Diskussionen und waren sehr beeindruckt von dieser Entwicklung, vor allem, was die Gesellschaft betraf. Einer meiner Brüder ist Maler. Wir suchten Galerien auf, und die Künstler schwärmten damals in Prag: Sie konnten frei reisen, sie durften ihre Bilder verkaufen, sogar gegen westliche Währung. Auch was sich in der Literatur und Musik tat, war faszinierend. Deshalb war für mich dann natürlich klar, als wir in die vergleichsweise triste DDR zurückkehrten, dass man diesen Weg, der von so vielen Schichten der Bevölkerung getragen wurde, verteidigen muss und möglichenfalls auch in der DDR etwas auslösen könnte.

Wie stellten Sie sich das vor?

Ich versuchte, mit vielen Zeitungsredaktionen in der DDR in Kontakt zu kommen und die Prager Positionen zu verteidigen, zumal die DDR von Anfang an diesen Prozess scharf attackierte. Aber ich habe nie einen Leserbrief unterbringen können, obwohl ich zum Beispiel mit dem Leiter der Leserbriefredaktion der Sächsischen Zeitung einen langen Dialog führte, der sich aber immer mehr verschärfte. Am Ende drohte er sogar damit, dass er mich eigentlich belangen und den Schriftwechsel jemand anderem übergeben könnte.

Diese Zeit war von viel Hoffnung, aber auch Bangen darüber begleitet, was sich in der Tschechoslowakei entwickeln könnte. Wir waren uns bewusst, wenn sich der Prager Frühling mit seinem Programm durchsetzen sollte, würde das zu einem ernsten Problem für den Ostblock werden. Auch für die DDR. Dass dies mit Gewalt unterdrückt wird, war nie auszuschließen. Als es dann tatsächlich dazu kam, war ich trotzdem schockiert. Ich glaubte, dass man das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes nicht so mit Füßen treten könne. Ich dachte auch, das könne sich der Ostblock aus politischen Gründen, wegen der UNO, nicht leisten. Außerdem erwartete ich, dass in der Tschechoslowakei ein Generalstreik ausgerufen wird, um der Weltöffentlichkeit deutlich zu machen, das ganze Volk steht gegen diese Intervention.

Und innerhalb der DDR?

Nach dem Einmarsch führte sich die SED wie eine siegreiche Partei auf. Ulbricht triumphierte. Bei der DDR-Bevölkerung löste der Einmarsch Entsetzen aus und rief Proteste hervor, auch wenn die SED-Propaganda das Gegenteil verkündete. Das MfS verzeichnete 2.129 Protestbekundungen, wovon es 1.360 zu den „wesentlichen Vorkommnissen“ zählte. Damit war gemeint: Anschmieren von „Hetzlosungen“ [1690], Verbreitung selbst gefertigter „Hetzschriften“ [7587], anonyme „Hetze“ in Form von Telefonanrufen und Briefen [294], zum Beispiel bei Zeitungen und SED-Kreisleitungen oder organisierte Sympathiebekundungen [74]. Aber das MfS konnte 1968 nur einen geringen Teil aufklären: Die Stasi verfügte damals noch über kein flächendeckendes Überwachungssystem. Eine Folge war, dass die „operative Wachsamkeit“ in den Jahren darauf erhöht wurde. Nun wurden vor allem auf Paragrafen gesetzt, die „staatsfeindliche Hetze“, „Widerstand gegen staatliche Maßnahmen“, „Staatsverleumdung“, „Missachtung staatlicher und gesellschaftlicher Symbole“ oder „Beschädigung öffentlicher Bekanntmachungen“, unter Strafe stellten, Haftstrafen zumeist. Auch innerhalb der SED gab es Säuberungen: Ausschlüsse, Streichungen, strenge Rügen und Verwarnungen.

Wie haben Sie reagiert?

Unmittelbar nach der Intervention, am 23. August, schickte ich ein Telegramm an die Tschechoslowakische Botschaft in Ostberlin, natürlich mit Adresse und Absender: „Halten Sie Stand. Behalten Sie Hoffnung.“ Solange die Dubček-Leute noch im Amt waren - er selber blieb ja standhaft noch bis zum 17. April 1969 Parteichef - war die Sache für mich noch nicht endgültig verloren.

Deshalb glaubte ich, dass man besonders solidarisch sein müsse, dass die Reformkräfte vielleicht an der Macht bleiben und man Wege finden würde, dass sie allen Gegenwind geschickt umschiffen, um dann wieder ihren Kurs durchzusetzen. Ein moralischer Aspekt spielte für mich allerdings auch eine Rolle. Ich hatte mit meinem Vater hin und wieder Diskussionen über das Dritte Reich. Er war von Anfang an bei der NSDAP, zunächst aus Idealismus, wie er mir glaubhaft vermittelte. Darüber gab es dann aber Streit: Warum hat er sich später dieser Partei nicht entzogen, als Hitler und das Dritte Reich immer aggressiver wurden? Ich fühlte mich nun in einer ähnlichen Situation. Ich dachte mir: Die Deutschen sind wieder dabei, ein Volk mit Gewalt zu unterdrücken, noch dazu ein Volk, das sie schon einmal unterdrückt hatten. Wie verhältst du dich jetzt in dieser Situation? Reicht es aus, wenn man sich nur argumentativ damit auseinandersetzt, oder muss man etwas in Bewegung setzen?

Ich entschied mich, Flugblätter zu fertigen, allerdings vom Inhalt und von der Art der Verteilung her so, dass ich glaubte, mich im Rahmen der DDR-Gesetze zu bewegen. Ich wählte einen Text von Lenin und vervielfältigte ihn mit der Schreibmaschine. Nicht weil ich Leninist war, im Gegenteil, ich glaubte, dass Lenin Marx auf den Kopf gestellt hatte. Doch ich wusste: Lenin ist der geistige Vater der DDR, da sollen die SED-Funktionäre doch mal sehen, wie sie mit dem Zitat klarkommen. Es war ein Zitat aus dem „Dekret über den Frieden“. Dort hat Lenin den Begriff der Annexion definiert - als "....jede Angliederung einer kleinen oder schwachen Völkerschaft an einen großen oder mächtigen Staat, ohne dass diese Völkerschaft ihr Einverständnis und ihren Wunsch genau, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht hat..". Ich dachte, das trifft ja wie die Faust aufs Auge. Über das Flugblatt schrieb ich: „Denk bitte nach! Bitte schweig nicht!!“. Dann das Lenin-Zitat, dass eine Annexion auch als "Eroberung und Vergewaltigung" kritisiert. Und unten drunter in Klammern: "Lenin, aus dem Dekret über den Frieden". Ohne Kommentar.

Ich fertigte 180 Exemplare mit dem Durchschlagverfahren an und verteilte sie einen Monat nach der Intervention. Ein Exemplar ließ ich absichtlich im Zug liegen, als ich zu meinen Eltern fuhr. Die anderen verteilte ich vom 20. zum 21. September 1968. Am ersten Abend lief das noch einigermaßen reibungslos ab. Ich hatte zwar Konflikte am Haus der Gewerkschaften in Halle, wo eine Veranstaltung stattfand und ich das Flugblatt verteilte. Da kamen zwei – heute weiß ich es – Mitglieder der SED-Kreisleitung und wollten diese Blätter von mir haben. Das habe ich verweigert, ich sagte: „Bitte, ist nicht kommentiert, ich verteile ein Lenin-Zitat, was wollen Sie überhaupt?“ So entzog ich mich diesen Leuten, die mich eigentlich schon greifen wollten. Den Hauptteil dieser Flugblätter verteilte ich auf dem Theaterplatz in Halle. Passenderweise wurden dort gerade „Die Räuber“ gespielt. Als die Tür aufging und die Leute herausströmten, gingen die Flugblätter weg wie warme Semmeln. An den Lichtsäulen bildeten sich kleine Grüppchen, es waren auch viele junge Leute dabei, auch Abiturienten, und lasen, was auf diesem Blatt stand. 60 Exemplare hatte ich noch zu Hause und plante am nächsten Tag erneut loszugehen.

Dieses Flugblatt verteilte Bernd Eisenfeld 1968 in Halle. Das dort abgedruckte Lenin-Zitat lautet: "Unter Annexion oder Aneignung fremder Territorien versteht die Regierung, im Einklang mit dem Rechtsbewusstsein der Demokratie im Allgemeinen und der werktätigen Klassen im Besonderen, jede Angliederung einer kleinen oder schwachen Völkerschaft an einen großen oder mächtigen Staat, ohne dass diese Völkerschaft ihr Einverständnis und ihren Wunsch genau, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht hat, unabhängig davon, wann diese gewaltsame Angliederung erfolgt ist, sowie unabhängig davon, wie entwickelt oder rückständig eine solche mit Gewalt angegliederte oder mit Gewalt innerhalb der Grenzen eines gegebenen Staates festgehaltene Nation ist, und schließlich unabhängig davon, ob diese Nation in Europa oder in fernen, überseeischen Ländern lebt. Wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten wird, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsche – gleichviel, ob dieser Wunsch in der Presse oder in Volksversammlungen, in Beschlüssen der Parteien oder in Empörungen und Aufständen gegen die nationale Unterdrückung geäußert wurde – das Recht vorenthalten wird, nach vollständiger Zurückziehung der Truppen der die Angliederung vornehmenden oder überhaupt der stärkeren Nation in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz ohne den mindesten Zwang selbst zu entscheiden, so ist eine solche Angliederung eine Annexion, d. h. eine Eroberung und Vergewaltigung.“ (© www.jugendopposition.de)

Was ist dann passiert?

Abends ging ich zum Kino „Universum“, es wurde „My Fair Lady“ gespielt. Ich dachte, es werden wieder eine Menge Leute da sein. Die Tür des Kinos ging auf, und kaum begann ich zu verteilen, hingen mir schon zwei Zivilisten am Arm. Einer drehte mir eine Knebelkette sehr schmerzhaft ins Handgelenk und dann war es schon passiert. Ich habe inzwischen meine Stasi-Akten eingesehen: Aufgrund der Verteilung der Flugblätter am Vortag war stadtweit Alarm ausgelöst worden. Interessanterweise las ich, dass Polizei und Staatssicherheit nur zwei Flugblätter in die Hände gefallen waren. Das bedeutete, die meisten Menschen, die dieses Flugblatt bekommen hatten, waren nicht zur Polizei gegangen. Aber diese zwei reichten der Kripo und dem MfS aus, um alle strategischen, öffentlichkeitswirksamen Punkte zu besetzen. Es war eine Frage der Zeit. Sie warteten und griffen zu. Sie traten mich und brachten mich zunächst zur Polizeidienststelle. Bei der Kripo hatte ich noch einen ganz guten Eindruck. Ich hatte eine erste Vernehmung mit einem Kripo-Offizier, und dachte, klar, die lassen mich laufen. Ich hatte dieses Zitat ja nicht kommentiert, es konnte auf die Tschechoslowakei, auf Nahost oder auf Vietnam zutreffen. Ich wollte den Leuten selbst die Interpretation überlassen und dachte, mir kann ja eigentlich nichts passieren.

Trotzdem wurden Sie verurteilt...

Zunächst wurde ich in eine Dunkelzelle geschlossen. Nach einer halben Stunde erschien eine Richterin an und stellte einen Haftbefehl wegen Staatsverleumdung aus. Ich habe mich natürlich dagegen verwahrt. Aber sie meinte, es bestünde „Verdunkelungsgefahr“, deshalb müsste ich jetzt inhaftiert werden. Ich kam in eine Zelle bei der Kripo, dort folgte eine Nachtvernehmung. Wie sich später herausstellte, führte sie mein künftiger MfS-Vernehmer durch. Es war ein sehr brutales Verhör. Nicht, dass ich körperlich belangt oder gefoltert wurde, aber er schrie mich an und ich begann, nachdenklicher über die Situation zu werden. Ich hätte mehrfache Verbrechen begangen. Dann kam es zum Transport. Ich wusste nicht, wo es hinging und erfuhr es erst später: Ich landete in der Hallenser Untersuchungshaftanstalt des Staatssicherheitsdienstes, im „Roten Ochsen“. Heraus kamen zweieinhalb Jahre Haft wegen staatsfeindlicher Hetze, die ich bis zum letzten Tag absitzen musste.

Mein Vernehmer, mit dem ich mich ständig stritt, mit dem ich dann auch nicht mehr diskutieren durfte, sagte mir immer: „Eisenfeld, begreifen Sie, wir haben die Macht. Begreifen Sie: Wir haben die Macht!“ Und das war die DDR. Das wurde mir nun endgültig klar, und deshalb begann ich auch neu über Perspektiven nachzudenken. Ich hatte schon vorher sinngemäß in meinen Tagebuchaufzeichnungen vermerkt: Wenn dieser Reform-Prozess in der Tschechoslowakei unterbunden wird, obwohl ein ganzes Volk hinter seiner politischen Führung steht, auch mit allen Gewerkschaftsverbänden an der Seite, wenn da eine Demokratisierung nicht möglich ist, wie soll es dann in der DDR je möglich werden?

Wurde noch vom Prager Frühling geredet, als Sie aus dem Gefängnis entlassen wurden?

Als ich aus der Haft kam, war diese Zeit – so hatte ich den Eindruck – in der DDR vergessen. Es sprach keiner mehr davon. Ich war noch voll von dieser Zeit und voller Hoffnung, die systematisch durch Salami-Taktik zerstört wurde. Ich dachte: Mein Gott, keiner spricht mehr darüber, was damals geschah. Auch der Westen hat sich mit dem „Prager Frühling“ kaum auseinandergesetzt. Deswegen war ich natürlich, als ich später in den Westen kam, auch sehr neugierig, und sah mich um, was publiziert und berichtet wurde. Das war sehr wenig.

Zum Beispiel?

Eher wurden die Geschichten kurzzeitig inhaftierter Kinder und Jugendlicher in Ost-Berlin thematisiert. Die DDR hatte offensichtlich aufgrund einer Reihe inhaftierter prominenter Söhne und Töchter aus SED-treuen Familien eine Amnestie erlassen, wahrscheinlich unter dem Druck der eigenen Funktionäre. Davon profitierten rund 300 junge Leute. Aber alle anderen, die standhaft blieben, saßen meist zwei bis drei Jahre. In der Haft in Cottbus habe ich eine ganze Menge wegen Prag inhaftierter Leute angetroffen, darunter kaum Intellektuelle, sondern überwiegend Arbeiter, Studenten und Jugendliche. Es ist inzwischen auch wissenschaftlich belegt, dass es nicht die Intellektuellen waren, sondern Arbeiter, die spontan auf die Niederschlagung des Prager Frühlings reagierten. Man riss solche Leute aus ihren Arbeitskollektiven und verurteilte sie wegen staatsfeindlicher Hetze, weil sie spontan ihren Widerspruch geäußert hatten. Meistens wurden dann diejenigen rausgefischt, die das MfS auch vorher schon im Visier hatte. Man wartete nur die Gelegenheit ab und hatte jetzt die Beweisfähigkeit, um sie vor Gericht zu verurteilen. Ich war schon überrascht, wie viele sich gewehrt hatten.

Erfuhren Sie in der Haft von jener Amnestie, von der beispielsweise auch Thomas Brasch, der Sohn des stellvertretenden Kulturministers Horst Brasch, profitierte?

Es gab Gerüchte über eine Amnestie. Während der Untersuchungshaft erfuhr ich über Klopfzeichen davon. Offensichtlich saßen da auch Jugendliche, die im Dezember amnestiert wurden. Aber offen darüber gesprochen wurde nicht, auch nicht vom Vernehmer. Ich konnte auch keine Zeitung lesen, auch nicht das „Neue Deutschland“, das wurde mir verboten. Praktisch befand ich mich in Isolationshaft und war ziemlich abgeschnitten von dem, was sich draußen abspielte.

Zu weiteren Texten & Dokumenten im neuen Externer Link: bpb-Dossier Prag 1968 Alle Abbildungen in diesem Text stammen aus dem Archiv der Robert-Havemann-Gesellschaft, die gemeinsam mit der bpb die Website Externer Link: www.jugendopposition.de betreut.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Angaben nach: Monika Tantzscher, Maßnahme „Donau“ und Einsatz „Genesung“. Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968/69 im Spiegel der MfS-Akten (Analysen und Berichte, Reihe B, Nr. 1/1998), Berlin 1998, S. 36.

  2. Das auf Eisenfelds Flugblatt abgedruckte Lenin-Zitat lautete: "Unter Annexion oder Aneignung fremder Territorien versteht die Regierung, im Einklang mit dem Rechtsbewusstsein der Demokratie im Allgemeinen und der werktätigen Klassen im Besonderen, jede Angliederung einer kleinen oder schwachen Völkerschaft an einen großen oder mächtigen Staat, ohne dass diese Völkerschaft ihr Einverständnis und ihren Wunsch genau, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht hat, unabhängig davon, wann diese gewaltsame Angliederung erfolgt ist, sowie unabhängig davon, wie entwickelt oder rückständig eine solche mit Gewalt angegliederte oder mit Gewalt innerhalb der Grenzen eines gegebenen Staates festgehaltene Nation ist, und schließlich unabhängig davon, ob diese Nation in Europa oder in fernen, überseeischen Ländern lebt. Wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten wird, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsche – gleichviel, ob dieser Wunsch in der Presse oder in Volksversammlungen, in Beschlüssen der Parteien oder in Empörungen und Aufständen gegen die nationale Unterdrückung geäußert wurde – das Recht vorenthalten wird, nach vollständiger Zurückziehung der Truppen der die Angliederung vornehmenden oder überhaupt der stärkeren Nation in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatlichen Existenz ohne den mindesten Zwang selbst zu entscheiden, so ist eine solche Angliederung eine Annexion, d. h. eine Eroberung und Vergewaltigung.“

  3. Als prominentester Fall hatte im Herbst 1968 der Prozess gegen den (2001 verstorbenen) Schriftsteller und Dramatiker Thomas Brasch für Aufsehen gesorgt, sogar DDR-Zeitungen berichteten darüber. Bis hin zur New York Times interessierte man sich für die angeklagten Töchter und Söhne prominenter Funktionäre. Sie hatten entweder „Dubček“ auf Häuserwände gepinselt oder Flugblätter verteilt. Vom 21. bis zum 28. Oktober standen sie vor dem Berliner Stadtgericht. Angeklagt waren: Thomas Brasch, damals 23 Jahre alt, Sohn des stellvertretenden Kulturministers Horst Brasch, der wegen der Verurteilung seines Sohnes abgelöst wurde. Erika Berthold, Tochter des Direktors des Instituts für Marxismus-Leninismus beim SED-Zentralkomitee. Lothar Berthold verlor noch im selben Jahr seinen Posten. Rosita Hunzinger, die Tochter einer bekannten Bildhauerin, Sandra Weigel, eine Nichte von Helene Weigel, Hans-Jürgen Utzkoreit, Sohn des Direktors der Dresdner Musikhochschule, und die beiden Havemann-Söhne Frank und Florian, 18 und 16 Jahre alt. Die Urteile reichten von zwei Jahren und drei Monaten für Hunzinger und Brasch bis zur sogenannten erzieherischen Maßnahme bei Florian Havemann. Noch im November 1968 wurden alle auf Bewährung freigelassen, da sie, so schrieb die Berliner Zeitung „reuevolle Einsicht“ gezeigt hatten. Vermutlich war es der Druck der Funktionärsväter, dass der Generalstaatsanwalt der DDR im Dezember 1968 eine Amnestie für alle 16- bis 20-Jährigen verkündete. Etwa 300 junge Leute kamen frei.

Doris Liebermann ist freie Autorin für Funk- und Printmedien. In der DDR studierte sie zunächst Theologie, wurde aber nach drei Semestern exmatrikuliert, weil sie 1976 eine Künstler-Petition gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns unterschrieben hatte. Sie wurde festgenommen und ein Jahr später zusammen mit der sogenannten Jenaer Gruppe, dazu gehörte der Schriftsteller Jürgen Fuchs, ausgebürgert. In West-Berlin studierte sie Osteuropäische Geschichte und Slawistik und arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Politik/Osteuropa der Freien Universität Berlin. Heute ist sie Mitglied des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland und der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial St. Petersburg/Berlin. Sie ist Herausgeberin des Buches: "Gespräche mit Oppositionellen", erschienen im Berliner Metropol-Verlag 2016.