Der Versuch, einen Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“ aufzubauen, löste 1968 in der tschechoslowakischen Gesellschaft euphorische Zustimmung aus. Dieses Ziel, Sozialismus und Demokratie zu verbinden, wurde 1968 von oben, aus der Partei heraus, ermöglicht, aber schon in den Vorjahren vor allem durch Schriftsteller und Intellektuelle in Gang gesetzt. Auch in der DDR hofften viele Menschen auf eine Aufweichung des starren, rigiden Systems, und hofften, dass der Funke aus Prag auch auf Ost-Berlin überspringt. Einer von ihnen war Bernd Eisenfeld, damals Bankangestellter und Wehrdienstverweigerer. Mit Folgen: er verlor seinen Job. 1968 erfolgte seine Inhaftierung nach einer Flugblattaktion gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei. Sein Prozess erfolgte unter Ausschluss der Öffentlichkeit - das Urteil: zweieinhalb Jahre Haft. Während Funktionärskinder, die wegen ähnlicher Delikte inhaftiert wurden, schon im November 1968 durch eine Amnestie auf freien Fuß kamen, musste Eisenfeld seine Strafe absitzen. 1975 konnte er nach zahlreichen Ausreiseanträgen die DDR verlassen – er hatte sich zwischenzeitlich hilfesuchend sogar an die UNO gewandt. Er studierte Geschichte und arbeitete als Historiker im Gesamtdeutschen Institut, bzw. später der Bundeszentrale für politische Bildung. Mit Gründung der Stasi-Unterlagen-Behörde übernahm er dort die Leitung des Fachbereichs Forschung. Eisenfeld starb 2010. Das nachfolgende Gespräch hatte kurz zuvor die Autorin Doris Liebermann mit ihm geführt.
Doris Liebermann: Herr Eisenfeld, Sie wurden 1968 im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Prager Frühlings verhaftet. Könnten Sie zunächst etwas zu Ihrer Lebenssituation vor der Verhaftung erzählen?
Bernd Eisenfeld: Ich hatte 1968 bereits ein Berufsverbot. Ich hatte Finanzwirtschaft in Gotha studiert, über den zweiten Bildungsweg, den es in der DDR gab, wenn man kein Arbeiterkind war. Danach war ich bei einer Bank in Halle beschäftigt, sie war zuständig für die Finanzierung der Elektrochemie und dann des Kombinats Chemische Werke Buna. Aber ich konnte dort nicht lange bleiben. Denn 1967 hatte ich mich für den damaligen Wehr-Ersatzdienst in der DDR, den Bausoldaten-Dienst entschieden. Als ich von den Bausoldaten zurückkam, erhielt ich quasi ein Berufsverbot. Die Begründung lautete: "Wer nicht bereit ist, den Ehrendienst mit der Waffe zu leisten, hat im Staatsapparat, zu dem die Banken der DDR gehören, nichts zu suchen". Das beschnitt automatisch auch viele Zugänge zu anderen Bereichen des – heute würde man sagen – öffentlichen Dienstes der DDR.
Wegen Engagements im ökumenischen Friedenskreis in Halle, waren Sie damals schon ins Visier der Stasi gekommen. Da muss die Nachricht von der Entmachtung des tschechoslowakischen Präsidenten und Parteichefs Antonín Novotný und der Wahl Alexander Dubčeks im Januar 1968 zu seinem Nachfolger große Hoffnungen in Ihnen geweckt haben?
Bernd Eisenfeld: Bis zum Prager Frühling hatten wir Andersdenkenden keine Legitimationsbasis. Wir mussten uns auf den Westen oder auf Jugoslawien berufen, wenn es um bürgerliche Freiheiten ging. Nun gab es erstmals die Situation, dass man sich auf das Programm eines Ostblockstaates stützen konnte, das Demokratie und Sozialismus vereinte. Deswegen war ich von Anfang an ein Anhänger des Prager Frühlings. Ich engagierte mich sehr stark und sprach mich offen dafür aus, sowohl in meinem Arbeitsfeld als auch öffentlich durch Diskussionsbeiträge, Leserbriefe an Zeitungen und ähnliches. Im Frühjahr 1968 versuchte ich, an einem öffentlichen Forum in Halle teilzunehmen und die Vorstellungen über die Entwicklungen in der Tschechoslowakei unterzubringen. Ich sprach mich offen für mehr Informationsfreiheit und Demokratie aus. Ich berief mich auf den Reformkommunisten Robert Havemann und auf die Entwicklung in der Tschechoslowakei. Heute weiß ich nach der Einsicht in meine Stasi-Unterlagen, dass unmittelbar nach dieser Veranstaltung ein operativer Vorgang gegen mich eingeleitet wurde mit dem Ziel, mich wegen staatsfeindlicher Hetze zu verurteilen.
Sind Sie 1968 auch nach Prag gefahren?
Ja klar, im Mai 1968 mit zweien meiner Brüder, übrigens ohne, dass die Stasi das mitbekam. Prag war natürlich eine richtige Offenbarung. Das Klima, die Stimmung, die Euphorie, auf der anderen Seite aber auch Ängste. Die Leute waren besorgt: geht das denn so weiter? Wir sprachen mit Medienvertretern, besuchten Radio Prag, suchten eine deutschsprachige Zeitung in Prag auf und informierten uns. Wir führten Diskussionen und waren sehr beeindruckt von dieser Entwicklung, vor allem, was die Gesellschaft betraf. Einer meiner Brüder ist Maler. Wir suchten Galerien auf, und die Künstler schwärmten damals in Prag: Sie konnten frei reisen, sie durften ihre Bilder verkaufen, sogar gegen westliche Währung. Auch was sich in der Literatur und Musik tat, war faszinierend. Deshalb war für mich dann natürlich klar, als wir in die vergleichsweise triste DDR zurückkehrten, dass man diesen Weg, der von so vielen Schichten der Bevölkerung getragen wurde, verteidigen muss und möglichenfalls auch in der DDR etwas auslösen könnte.
Wie stellten Sie sich das vor?
Ich versuchte, mit vielen Zeitungsredaktionen in der DDR in Kontakt zu kommen und die Prager Positionen zu verteidigen, zumal die DDR von Anfang an diesen Prozess scharf attackierte. Aber ich habe nie einen Leserbrief unterbringen können, obwohl ich zum Beispiel mit dem Leiter der Leserbriefredaktion der Sächsischen Zeitung einen langen Dialog führte, der sich aber immer mehr verschärfte. Am Ende drohte er sogar damit, dass er mich eigentlich belangen und den Schriftwechsel jemand anderem übergeben könnte.
Diese Zeit war von viel Hoffnung, aber auch Bangen darüber begleitet, was sich in der Tschechoslowakei entwickeln könnte. Wir waren uns bewusst, wenn sich der Prager Frühling mit seinem Programm durchsetzen sollte, würde das zu einem ernsten Problem für den Ostblock werden. Auch für die DDR. Dass dies mit Gewalt unterdrückt wird, war nie auszuschließen. Als es dann tatsächlich dazu kam, war ich trotzdem schockiert. Ich glaubte, dass man das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes nicht so mit Füßen treten könne. Ich dachte auch, das könne sich der Ostblock aus politischen Gründen, wegen der UNO, nicht leisten. Außerdem erwartete ich, dass in der Tschechoslowakei ein Generalstreik ausgerufen wird, um der Weltöffentlichkeit deutlich zu machen, das ganze Volk steht gegen diese Intervention.
Und innerhalb der DDR?
Nach dem Einmarsch führte sich die SED wie eine siegreiche Partei auf. Ulbricht triumphierte. Bei der DDR-Bevölkerung löste der Einmarsch Entsetzen aus und rief Proteste hervor, auch wenn die SED-Propaganda das Gegenteil verkündete. Das MfS verzeichnete 2.129 Protestbekundungen, wovon es 1.360 zu den „wesentlichen Vorkommnissen“ zählte. Damit war gemeint: Anschmieren von „Hetzlosungen“ [1690], Verbreitung selbst gefertigter „Hetzschriften“ [7587], anonyme „Hetze“ in Form von Telefonanrufen und Briefen [294], zum Beispiel bei Zeitungen und SED-Kreisleitungen oder organisierte Sympathiebekundungen [74].
Wie haben Sie reagiert?
Unmittelbar nach der Intervention, am 23. August, schickte ich ein Telegramm an die Tschechoslowakische Botschaft in Ostberlin, natürlich mit Adresse und Absender: „Halten Sie Stand. Behalten Sie Hoffnung.“ Solange die Dubček-Leute noch im Amt waren - er selber blieb ja standhaft noch bis zum 17. April 1969 Parteichef - war die Sache für mich noch nicht endgültig verloren.
Deshalb glaubte ich, dass man besonders solidarisch sein müsse, dass die Reformkräfte vielleicht an der Macht bleiben und man Wege finden würde, dass sie allen Gegenwind geschickt umschiffen, um dann wieder ihren Kurs durchzusetzen. Ein moralischer Aspekt spielte für mich allerdings auch eine Rolle. Ich hatte mit meinem Vater hin und wieder Diskussionen über das Dritte Reich. Er war von Anfang an bei der NSDAP, zunächst aus Idealismus, wie er mir glaubhaft vermittelte. Darüber gab es dann aber Streit: Warum hat er sich später dieser Partei nicht entzogen, als Hitler und das Dritte Reich immer aggressiver wurden? Ich fühlte mich nun in einer ähnlichen Situation. Ich dachte mir: Die Deutschen sind wieder dabei, ein Volk mit Gewalt zu unterdrücken, noch dazu ein Volk, das sie schon einmal unterdrückt hatten. Wie verhältst du dich jetzt in dieser Situation? Reicht es aus, wenn man sich nur argumentativ damit auseinandersetzt, oder muss man etwas in Bewegung setzen?
Ich entschied mich, Flugblätter zu fertigen, allerdings vom Inhalt und von der Art der Verteilung her so, dass ich glaubte, mich im Rahmen der DDR-Gesetze zu bewegen. Ich wählte einen Text von Lenin und vervielfältigte ihn mit der Schreibmaschine. Nicht weil ich Leninist war, im Gegenteil, ich glaubte, dass Lenin Marx auf den Kopf gestellt hatte. Doch ich wusste: Lenin ist der geistige Vater der DDR, da sollen die SED-Funktionäre doch mal sehen, wie sie mit dem Zitat klarkommen. Es war ein Zitat aus dem „Dekret über den Frieden“. Dort hat Lenin den Begriff der Annexion definiert - als "....jede Angliederung einer kleinen oder schwachen Völkerschaft an einen großen oder mächtigen Staat, ohne dass diese Völkerschaft ihr Einverständnis und ihren Wunsch genau, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht hat..". Ich dachte, das trifft ja wie die Faust aufs Auge. Über das Flugblatt schrieb ich: „Denk bitte nach! Bitte schweig nicht!!“. Dann das Lenin-Zitat, dass eine Annexion auch als "Eroberung und Vergewaltigung" kritisiert. Und unten drunter in Klammern: "Lenin, aus dem Dekret über den Frieden". Ohne Kommentar
Ich fertigte 180 Exemplare mit dem Durchschlagverfahren an und verteilte sie einen Monat nach der Intervention. Ein Exemplar ließ ich absichtlich im Zug liegen, als ich zu meinen Eltern fuhr. Die anderen verteilte ich vom 20. zum 21. September 1968. Am ersten Abend lief das noch einigermaßen reibungslos ab. Ich hatte zwar Konflikte am Haus der Gewerkschaften in Halle, wo eine Veranstaltung stattfand und ich das Flugblatt verteilte. Da kamen zwei – heute weiß ich es – Mitglieder der SED-Kreisleitung und wollten diese Blätter von mir haben. Das habe ich verweigert, ich sagte: „Bitte, ist nicht kommentiert, ich verteile ein Lenin-Zitat, was wollen Sie überhaupt?“ So entzog ich mich diesen Leuten, die mich eigentlich schon greifen wollten. Den Hauptteil dieser Flugblätter verteilte ich auf dem Theaterplatz in Halle. Passenderweise wurden dort gerade „Die Räuber“ gespielt. Als die Tür aufging und die Leute herausströmten, gingen die Flugblätter weg wie warme Semmeln. An den Lichtsäulen bildeten sich kleine Grüppchen, es waren auch viele junge Leute dabei, auch Abiturienten, und lasen, was auf diesem Blatt stand. 60 Exemplare hatte ich noch zu Hause und plante am nächsten Tag erneut loszugehen.