Der bekannte Spruch "Zwei Juden, drei Meinungen" spiegelt einen wichtigen Aspekt jüdischer Mentalität wider: das konstante Bedürfnis, sich durch Fragen, Diskussionen und Debatten mit dem Leben auseinanderzusetzen. So wird seit jeher über die genaue Bedeutung des Wortes Gottes oder über die unterschiedlichen Auslegungen der Bräuche und Gesetze des Judentums debattiert. Ein offizielles religiöses Oberhaupt, also jemand, der die Antwort auf all diese Fragen hat und eine Autorität für alle Juden ist, gibt es im Judentum nicht. Eine weitere Säule jüdischen Lebens besteht aus dem Einhalten der Tradition und dem Verantwortungsgefühl gegenüber vorherigen und nachfolgenden Generationen, diese Traditionen am Leben zu erhalten.
Alle Strömungen des Judentums beschäftigen sich mit diesen beiden Aspekten. Sie fokussieren sich jedoch unterschiedlich stark auf die Auseinandersetzung mit jüdischen Gesetzen und welche Bedeutung diese für unser heutiges Leben haben. Entsprechend wird das Festhalten und Verstehen der Jahrtausende alten Traditionen und Gebote innerhalb der Strömungen unterschiedlich priorisiert oder ausgelegt. Das Spannungsfeld, in dem sich die Strömungen des Judentums befinden, besteht einerseits zwischen dem Streben nach einem jüdischen Leben im Einklang mit der modernen Welt und andererseits dem uneingeschränkten Glauben, die jüdischen Gesetzte, so wie sie von Gott offenbart wurden, zu befolgen.
Die Herausforderung, ein klares Bild über die unterschiedlichen Strömungen des Judentums und ihre Heterogenität zu schaffen, liegt darin, dass sich Juden und Jüdinnen in Deutschland sehr individuell innerhalb dieser Strömungen verhalten und ihr Judentum unterschiedlich praktizieren. Auch wenn man sich einer Strömung zugehörig fühlt, muss das nicht heißen, dass man diese auch so praktiziert wie vorgeschrieben. Aktuell kann man grob zwischen zwei Hauptströmungen des Judentums unterscheiden: auf der einen Seite das orthodoxe und auf der anderen Seite das liberale Judentum. Innerhalb der jeweiligen Strömung finden sich weitere Untergruppierungen.
Das orthodoxe Judentum
Die
Die Mehrheit der Juden und Jüdinnen in Deutschland identifiziert sich mit den Prinzipien des orthodoxen Judentums und lebt in orthodoxen Gemeindestrukturen. Dies liegt vor allem daran, dass das sehr vielfältige jüdische Leben in Deutschland mit der Shoah vernichtet wurde und
Die Mehrheit der Juden und Jüdinnen legt großen Wert auf orthodoxe Gemeindestrukturen, Gottesdienste und Interpretationen der Gesetze. Diese Strukturen geben ihnen die Möglichkeit, ein jüdisches Leben praktizieren zu können – so wird z.B. Wert auf einen nach orthodoxem Ritus ablaufenden Gottesdienst an Feiertagen oder am Schabbat gelegt. Gleichzeitig behalten sie sich vor, im Alltag säkularer zu leben und sich nicht an die strengen Gesetze der Halacha, auch in Bezug auf das Zusammenleben mit den nicht-jüdischen Teilen der Bevölkerung, zu halten. So entscheidet ein jeder selbst, wie die eigene Religion auszuleben ist, unabhängig von den genauen Definitionen der einzelnen Strömungen. So wie vieles im Judentum, spielt die Familientradition auch hier eine wichtige Rolle. Die meisten Juden und Jüdinnen, die über Generationen gewisse Traditionen und Riten weitergegeben haben, halten stark an diesen fest, mit der Absicht auch selbst Träger in der Kette der Traditionsweitergabe zu werden. Somit werden auch die Traditionen, welche für einige als veraltet oder irrelevant empfunden werden, trotzdem praktiziert und an die nächste Generation weitergegeben.
Innerhalb der orthodoxen Strömung kann man unterschiedliche Gruppierungen finden, die sich entweder als Teil der Einheitsgemeinden mitorganisieren, oder eine eigene separate Gemeinde gegründet haben. Der gemeinsame Nenner aller sich als orthodox nennenden Juden und Jüdinnen liegt in der verbindlichen Anerkennung der Ge- und Verbote, der Halacha. Die wichtigsten Unterschiede beziehen sich auf die Strenge des Praktizierens dieser Gesetze, der Beziehung mit der nicht-jüdischen Umwelt oder der Haltung gegenüber dem Staat Israel als Teil der jüdischen Identität.
Nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion gab es einen starken
Die Ronald S. Lauder Foundation ist insbesondere in Berlin vertreten. Die Mitglieder identifizieren sich als
Das liberale Judentum
Das liberale Judentum vereint eine Mehrzahl an Bewegungen und wird hier daher als Überbegriff verwendet. Im Gegensatz zum orthodoxen Judentum, welches die religiösen Gesetze von Gott gegeben und als (absolut) bindend sieht, haben die liberalen Bewegungen unterschiedliche Beziehungen zur Halacha.
Im Laufe der
Zu einem Wiederaufblühen des liberalen Judentums kam es mit dem großen Zuwachs an Juden und Jüdinnen, die in den 1990er Jahren aus der Ex-Sowjetunion als
Von außen betrachtet kann man bereits auf den ersten Blick einige Unterschiede des liberalen und orthodoxen jüdischen Lebens erkennen. So werden während eines orthodoxen Gottesdienstes keine Instrumente benutzt, Männer und Frauen sitzen getrennt voneinander und es wird ausschließlich auf Hebräisch und Aramäisch gebetet. Während eines liberalen Gottesdienstes werden Musikinstrumente benutzt, Männer und Frauen sitzen nebeneinander und neben Hebräisch wird auch die Landessprache verwendet.
Masorti
Das konservative Judentum, welches Masorti (hebräisch: "traditionell") genannt wird, entstand in Deutschland bereits im 19. Jahrhundert. Laut der "positiv-historischen" Schule von Zecharia Frankel (1801–1875) sind Juden und Jüdinnen als Mitglieder der Masorti-Bewegung an die Gesetze der Torah gebunden, erkennen aber an, dass die Gesetze historisch entstanden und deshalb veränderbar sind. Eines der Grundprinzipien der Masorti-Bewegung lautet daher: "Die Bedeutung der Erhaltung einer dynamischen jüdischen Praxis, die ihre Basis auf Halacha und Mitzwot hat, die in der jüdischen Kenntnis und Beachtung geerdet ist, die Liebe zur Tradition zeigt und gleichzeitig die Modernität und die positiven Aspekte des Wandels umarmt."
Reform – Progressives Judentum
Das Reformjudentum, welches heute "progressives Judentum" genannt wird, entstand im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Emanzipation der Juden in Europa. Juden und Jüdinnen waren mit der Gründung des
Nach der Shoah brauchte es mehrere Jahrzehnte, bis sich das progressive Judentum wieder in Deutschland etablierte. In der Zeit der großen Veränderung innerhalb der jüdischen Gemeinden in Deutschland während der 1990er Jahre unterstützte die internationale Bewegung World Union of progressive Judaism diesen Prozess. Als Folge gründete sich die Union progressiver Juden, welche einige progressive Gemeinden in Deutschland vereint, fördert und unterstützt.
Kleinere liberale Gruppierungen
Von Anhängern des jüdischen Rekonstruktionismus wird das Judentum als eine "sich entwickelnde Zivilisation" definiert.
Jewish Renewal ist eine strömungsübergreifende Bewegung, welche in Deutschland nur von einer sehr kleinen Gruppe repräsentiert wird. Ihr Ziel ist es, eine Erneuerung des Judentums anzustoßen. Mitglieder verstehen das Judentum als eine tiefgehende spirituelle Praxis, welche zur Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt beiträgt. Durch Meditationen, Tanz, Theater und Bewegung treten Mitglieder mit der Torah und Gott in Verbindung.
"Nur Liberal"
Nach dem Modell der jüdischen Gemeinde Frankfurt ("Frankfurter Modell")
Fazit
Auch wenn man der Unterscheidung eines orthodoxen und liberalen Judentums folgt, wird deutlich, dass es innerhalb dieser Hauptströmungen noch einige weitere Gruppierungen gibt und diese wiederum auch von einzelnen unterschiedlich praktiziert werden. Die Strömungen des Judentums klar zu unterteilen und zu strukturieren mag sie greifbarer und verständlicher erscheinen lassen, jedoch verschwimmen die Grenzen der Definitionen und Unterteilungen sehr häufig in der Realität.
Bei genauerer Betrachtung erkennt man eine starke Heterogenität innerhalb des jüdischen religiösen Lebens in Deutschland, welche nicht nur auf die unterschiedlichen Strömungen, sondern auch auf das eigentliche Praktizieren der jüdischen Gesetze, Traditionen und Bräuche jedes*r Juden und Jüdin selbst zurückzuführen ist. Während der Einwanderung der Juden und Jüdinnen aus der Ex-Sowjetunion in den 1990er Jahren – die heute die Mehrheit der in Deutschland lebenden Juden und Jüdinnen ausmachen – wurde mit viel Anstrengung und Unterstützung (inter-)nationaler Akteure dafür gesorgt, ihnen auch eine religiöse Heimat zu bieten. Seither wurden Gemeinden, Synagogen, Kindergärten und Religionsschulen gegründet, welche, unabhängig von der religiösen Strömung, ein Zeichen für ein wiederaufblühendes heterogenes jüdisches Leben in Deutschland sind.