Gemeinsam mit einem Kollegen saß ich im Januar 2021 bei einer Aufnahme im Corona-bedingt geschlossenen 1. Rang des Theatersaals des Maxim Gorki Theaters. Das Jahr hatte gerade begonnen und damit auch die Feierlichkeiten für 1.700 Jahre jüdisches Leben auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands. Mit Blick auf die in immer kürzeren Abständen eintrudelnden Anfragen war uns bereits im Laufe des vorhergehenden Jahres klar geworden, dass diese Feierlichkeiten anstrengend würden. High Noon für das deutsch-jüdische Gedächtnistheater – Sie kennen diesen Begriff vielleicht aus dem gleichnamigen Buch von Michal Bodemann, in dem er die Instrumentalisierung von Jüdinnen und Juden für eine Neuerfindung eines positiven deutschen Selbstbildes herausarbeitete.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hatte also zu einem Interview gebeten und es fing direkt gut an. Auf unsere Frage, wer eigentlich noch zur geplanten Dokumentation über jüdisches Leben in Deutschland eingeladen worden war, antwortete unser Gegenüber: Na wer so auftaucht, wenn man Antisemitismus und Juden googelt. Kein Scherz. Ein weiterer Klassiker, diesmal aus dem bislang ungeschriebenen Ratgeber "Wie man ein Jude für Deutsche wird".
Die Kritik der Erzeugung der Juden
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"Was ist das für ein arroganter Glauben, man käme so billig davon? Als könnte irgendwie irgendetwas irgendwann jemals wieder normal sein. Ich fordere einen Zusatz zur Ewigkeitsklausel des Grundgesetzes: Es wird nie wieder alles gut."
Unser Gegenüber wollte das nicht auf sich sitzen lassen und sagte, es mache ihn traurig, dass wir sagen, es wird nie wieder alles gut. Und dann: "Meinen Sie wirklich, dass es da keine Möglichkeit mehr gibt?" Diese Traurigkeit begegnet mir seit Jahren immer dann, wenn ich mich mit nicht-jüdischen Deutschen über dieses Thema unterhalte. Ich finde sie schon allein darum bemerkenswert, weil die Traurigen ehrlich erstaunt scheinen, dass es bei der Erinnerung etwas geben könnte, was nicht wieder gutzumachen ist. Oder, um es etwas schärfer zu formulieren: dass die Bereitschaft, sich endlich mit der eigenen Gewaltgeschichte zu befassen, einhergeht mit der Erwartung, dass die andere Seite es einem dann auch nicht so schwer machen sollte.
Vielleicht kennen Sie das ja aus eigener Erfahrung: Sie befinden sich in einer Diskussion mit Tante Rosamunde oder wahlweise auch einem Publikum und erklären, wie sie die Welt sehen. Ist diese Perspektive kritisch, steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit irgendwann jemand auf, räuspert sich und sagt: ja schön und gut, aber was ist denn die Lösung für das Problem? Falls man nun die Lösung nicht direkt liefert, schüttelt die Gegenseite den Kopf und verliert akut jedes Interesse. Kritik, scheint es, wird hierzulande dadurch legitimiert, dass man wie die Cola zur Pizza auch gleich die Lösung mitliefert. Und das ist natürlich eine eigenartige Erwartung. Politische Essays sind keine Kochbücher, bei denen man die Rezepte vorkocht, die das Publikum dann zuhause nachkochen darf. Nein, diese Rezepte müssen wir - wenn überhaupt - gemeinsam finden. Und Versöhnung steht sicherlich nicht auf dem Menü der Desintegration.
I.
Anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von
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"Fünfundsiebzig Jahre nach der Befreiung von Auschwitz stehe ich als deutscher Präsident vor Ihnen allen, beladen mit großer historischer Schuld. Doch zugleich bin ich erfüllt von Dankbarkeit: für die ausgestreckte Hand der Überlebenden, für das neue Vertrauen von Menschen in Israel und der ganzen Welt, für das wieder erblühte jüdische Leben in Deutschland. Ich bin beseelt vom Geist der Versöhnung, der Deutschland und Israel, der Deutschland, Europa und den Staaten der Welt einen neuen, einen friedlichen Weg gewiesen hat."
Liest sich ganz gut, oder? Allerdings möchte ich Ihre Aufmerksamkeit gern darauf richten, wie unvermittelt der Begriff der Versöhnung im Text auftaucht! Man lädt den deutschen Bundespräsidenten zu einer Erinnerungsfeier an die Shoah ein, der spricht über Schuld, über Dankbarkeit und sagt dann: danke für diesen Geist der Versöhnung. Huch. Ich finde das bemerkenswert. So als würde ich meiner Nachbarin meine Bohrmaschine leihen, die sie dankbar entgegennimmt und dann sagt: danke für dieses schöne Geschenk!
Wir sind uns vermutlich einig, dass schenken und leihen nicht das gleiche ist. Und ich meine: auch Erinnerung ist nicht gleichbedeutend mit Versöhnung. Zumindest nicht automatisch. In der wechselhaften deutschen Geschichte ist es immer wieder zu Diskriminierung, Verfolgung, Enteignung und Mord gekommen. Und schließlich kam es im Zwanzigsten Jahrhundert zur industriell betriebenen Ermordung der europäischen Juden. Ich denke es ist nicht übertrieben zu sagen, dass sich weite Teile der deutschen Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten erstmals systematisch mit der Frage befasst haben, wie das gerade hier in Deutschland passieren konnte und welche Traditionen und Ideologien dazu beigetragen haben.
Dabei hat sich der Blick auf die Vielfalt existierender Gewaltgeschichten ausgeweitet – neben
Zurück zum Gedächtnistheater. Bodemanns These lautet ja 1996, dass es sich bei der Erinnerungskultur gar nicht so sehr um eine Verhinderung einer Wiederholung von Geschichte handele. Stattdessen würden die toten Juden und Jüdinnen und ihre lebenden Repräsentant*innen dafür gebraucht, dass die deutsche Seite sich als gutes und geläutertes Deutschland neu erfinden könne. "Die Wiedergutwerdung der Deutschen" hat Eike Geisel das einmal in einem seiner Essays genannt.
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"'Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.' Diese oft zitierte jüdische Weisheit will wohl besagen, daß der Glaube an Gott ein Glaube an sein Wirken in der Geschichte ist. […] Diese Erfahrung schafft Hoffnung, sie schafft Glauben an Erlösung, an Wiedervereinigung des Getrennten, an Versöhnung."
Weizsäcker unterstrich in seiner Rede, wie wichtig es sei, dass sich die deutschen Täter*innennachkommen (von Juden sprach er genau genommen nur als nicht-Deutsche) an ihre eigene Geschichte erinnerten. Der Horizont, den er für eine solche Erinnerungsarbeit sah, war die Versöhnung. Das unterstreicht auch das Zitat. Das Judentum, soweit deutet Weizsäcker den Ausspruch des jüdischen Legendenrabbis Baal Schem Tov korrekt, verstehe Erinnerung als Teil religiöser Praxis. Aber daraus schließt der Bundespräsident fälschlicherweise, dass diese Erinnerung auch Versöhnung bedeuten müsse. Überprüfen Sie das gern noch mal selbst. Von Versöhnung ist beim Baal Schem Tov keine Rede.
Der vorauseilende Fehlschluss Weizsäckers ist symptomatisch für ein deutsche Verständnis von Erinnerungskultur. Weitere Belege finden sich in der Rede Steinmeiers und ihrer Gleichsetzung von Erinnerung und Versöhnung. Sie lassen sich auch an der eingangs beschriebenen Traurigkeit unseres Gesprächspartners darüber ablesen, dass nie wieder alles gut wird. Dabei entsteht der Eindruck, die deutsche Seite habe sich vor allem darum auf die Erinnerungsarbeit eingelassen, weil sie sich davon etwas versprochen habe. Als sei die lang überfällige Beschäftigung mit den diversen deutschen Gewaltgeschichten unmittelbar an Versöhnung gekoppelt, die Aufarbeitung an die Bewältigung, das Eingeständnis von Schuld an die Begnadigung durch die Überlebenden.
Damit hier kein falscher Eindruck entsteht: Ich finde es nachvollziehbar, dass die Einsicht in die Verbrechen der eigenen Vorfahren einhergeht mit dem Wunsch nach Vergebung. Aber es muss klar sein, dass es sich dabei um den Ausdruck der Bedürfnisse eines bestimmen Teils der Gesellschaft handelt. Nämlich der Täter*innen und ihrer Nachkommen. Insofern dieses spezifische Bedürfnis in der deutschen Erinnerungskultur, in Reden von Bundespräsidenten, in Interviews oder bei Publikumsgesprächen als universell behauptet wird, möchte ich von einem Versöhnungstheater sprechen.
Die Pointe des deutschen Versöhnungstheaters liegt in der Identifikation von Erinnerung und Versöhnung: Danke, dass ihr uns die Bohrmaschine geschenkt habt! Es ist der Grund dafür, dass die deutsche Gewaltgeschichte bei Erinnerungsritualen häufig als kitschige Versöhnungsfeier inszeniert wird. Als das Flattern weißer Tauben über Buchenwald, als Kaddish über Stolpersteinen, als Versöhnung in Yad Vashem. Und wie das Gedächtnistheater erfüllt auch das Versöhnungstheater eine Funktion für die Dominanzkultur. Denn es erzeugt das Bild einer mit den Juden und damit sich selbst versöhnten Gesellschaft, die nun mit all ihren unterschiedlichen Herkünften eintreten kann in einen Prozess der Normalisierung.
II.
Aleida Assmann ist eine der wohl bekanntesten Theoretikerinnen der deutschen Erinnerungskultur. In einem Vortrag aus dem Jahr 2019 ging die Gedächtnisforscherin auf etwas ein, was sie titelgebend als "Jüdisches Unbehagen" an der deutschen Gedenkkultur bezeichnete.
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"In der EU […] identifiziert man sich in allen Mitgliedsstaaten zuerst als Bürger*innen der Nation und erst an zweiter Stelle als Europäer*innen, während in Deutschland weithin das Umgekehrte gilt. Von Normalisierung kann hier also noch nicht wirklich die Rede sein, solange es noch keinen entspannten und entkrampften Umgang mit nationalen Symbolen gibt"
Normalisierung bedeutet für Assmann also einen entkrampften Umgang mit nationalen Symbolen. So weit, so gewöhnlich. In den Seiten vorher beschreibt Assmann, wie sie das einordnet, was sie als Jüdischen Unbehagen an der Erinnerungskultur bezeichnet. Dabei geht sie ausführlich auf Bodemanns und meine Arbeiten ein. Zwar sei der Imperativ Desintegriert Euch! "wichtig, um das Selbstverständnis der jüdischen Minderheit in Deutschland zu klären und zu stärken".
Nun zielt die Kritik, die wir mit dem Konzept der Desintegration formuliert haben, nicht auf eine Infragestellung der Demokratie, sondern auf eben jenen "entspannten und entkrampften Umgang mit nationalen Symbolen", von dem Assmann annimmt, er sei das Ziel aller Erinnerungsarbeit. Es ist schon bemerkenswert, welche These die Gedächtnisforscherin hier formuliert: Das jüdische Unbehagen an der Normalisierung eines deutschen Nationalismus verhindert einen Zustand, der wiederum als Voraussetzung dafür gilt, dass Deutschlands ein normaler Teil der EU sein könne. Juden verhindern die Wiedergutwerdung Deutschlands.
Aleida Assmann erklärt mit dieser Kritik an Gedächtnistheater und Desintegration wie nebenbei die Normalisierung des Nationalen zum Ziel einer Erinnerungskultur in der postnationalsozialistischen Gesellschaft. Ich möchte argumentieren, dass diese weit verbreitete Vorstellung einer Normalisierung mittels Erinnerungskultur in Deutschland dazu beiträgt, dass die Interner Link: Kontinuitäten rechten Terrors und
Hinter dieser Vorstellung der Normalisierung ist unschwer die Externer Link: Fantasie von der angeblich guten bürgerlichen Mitte in Deutschland auszumachen. Denn wo Mitte ist, da kann ja kein Extrem sein – sondern da herrscht: Normalität. Wenn sich nun eben diese Mitte ein wenig mehr Heimat und Nationalgefühl wünscht, hat man zwei Möglichkeiten: entweder, man schließt daraus, dass die Mitte und damit auch die Vorstellung von Normalität nicht so gut ist, wie man sich das dachte. Oder man kommt zu dem Schluss, dass der Wunsch nach Nationalismus und Heimat Teil der Normalität sein muss, die man einfordert. Linke und jüdische Forderungen nach einem antifaschistischen und nationalismuskritischen Konsens scheinen dann unnormal und zerstörerisch. Und so ist es auch bei Assmann, die eine Art erinnerungspolitische
Dem möchte ich eine eigene These gegenüberstellen: die Erinnerungskultur ist nicht dazu da, eine Normalisierung von Nationalsymbolen zu fördern, sondern die Gesellschaft so einzurichten, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Dazu gehört eine Kritik von Diskriminierung, eine Thematisierung der Vielfalt an Gewaltgeschichten und ein Fokus auf die Bekämpfung rechten Denkens, rechter Politiken und rechten Terrors. Und für eine solche Haltung gibt es einen Begriff, der die Differenz meiner Konzeption zu Assmanns Vorstellungen vielleicht am deutlichsten markiert: den Antifaschismus. Wenn, so würde ich das auf den Punkt bringen, die deutsche Gesellschaft nach 1945 keine antifaschistische ist, weiß ich auch nicht, wofür sie eigentlich steht.
Aleida Assmann ist wie beschrieben anderer Meinung. Aber es ist doch wichtig, dass es sich dabei dezidiert um unterschiedliche Perspektiven auf die Gegenwart handelt, die auf unterschiedlichen Annahmen darüber beruhen, was diese Gegenwart ist und was sie braucht, um auch die nächsten Jahrzehnte zu überstehen. Und nicht um irgendwelche persönlichen Befindlichkeiten. So spekuliert Assmann etwa in Bezug auf meine Kritik an der nationalen Euphorie zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006, mich hätten die nationalen Symbole wohl retraumatisiert.
Warum eigentlich wünscht sich ein Teil dieser Gesellschaft ein unverkrampftes Verhältnis zur deutschen Nation? Wo kommt das her? Und warum nicht einfach mit den jüdischen und vielen anderen Kritiker*innen ein Unbehagen hegen für Glaubenssätze, Symbole und Denkweisen, die dieses Land schon einmal ins Verderben gestürzt haben? Was genau ist es, das einen Teil der deutschen Gesellschaft auch in der Gegenwart in Richtung Nationalstolz und völkisches Denken zieht? Und wie kommen wir da raus?
Die Perspektive der Desintegration könnte diese Fragen zulassen, weil sie den Spiegel umkehrt, in dem Assmann ein jüdisches Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur zu erkennen meint. Demgegenüber formuliert Desintegration einen Ansatz, der eine Alternative zur Sehnsucht nach Normalisierung und Versöhnung beschreiben möchte. Der erste Schritt für eine solche Umkehr der Betrachtungsweise ist die Markierung des Bedürfnisses der Dominanzkultur nach Normalisierung als Besonderes. Denn erst wenn das Bedürfnis nach Normalisierung nicht als allgemein geteilte Hoffnung, sondern als spezifischer Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Position verstanden wird, können die Perspektiven und Erfahrungen der von Gewalt betroffenen Minderheiten sichtbar werden.
Von einem solchen Perspektivwechsel sind wir augenscheinlich weit entfernt. Sei es drum. Die Kritik am Versöhnungstheater zielt nicht darauf, alle Menschen zu überzeugen, sondern zu unterstreichen, dass in dieser Gesellschaft auch Perspektiven existieren, für die Erinnerung nicht Versöhnung bedeutet. Das hat weniger mit Retraumatisierung zu tun, als mit historischer Einsicht, dass es Traditionen und Ideologien gibt, die den Nationalsozialismus möglich gemacht haben.
Aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts lässt sich durchaus lernen, dass es zur Verhinderung seiner Wiederholung nicht mehr Sicherheitszäune, Polizist*innen und entkrampfte Verhältnisse zu Nationalsymbolen braucht – sondern eine gänzlich andere Art, Gesellschaft zu denken. Und das bedeutet auch eine Kritik von Erinnerungskultur.
III.
Im letzten Abschnitt möchte ich überlegen, was genau bei der Vorstellung, Erinnerungskultur laufe auf Normalisierung hinaus, eigentlich ausgeblendet bleibt. Da wäre zum einen die Tatsache, dass Enteignung, Verfolgung, Vernichtung und Verwertung von jüdischem Eigentum und jüdischen Körpern auch in der Gegenwart weiterhin wirksam sind. Und zwar auf jüdischer Seite, weil die toten Verwandten nicht zurückkommen – und aufseiten der Täter*innen und ihrer Nachkommen, weil aus der Nazi-Zeit herrührende materielle Vorteile für Firmen, Familien und Individuen bis heute Vorteile bedeuten. Das hat die Debatte der letzten Monate um #Nazihintergrund neuerlich gezeigt. Das ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist, dass diejenigen, die für die Shoah verantwortlich waren, in der Regel frei von Strafe blieben. Es ist eine Geschichte unfassbarer Kränkung, dass die (west)deutsche Öffentlichkeit Naziverbrecher*innen über Jahrzehnte nicht nur nicht verfolgte und bestrafte, sondern vielfach mit fetten Pensionen ausstattete, während ehemalige Zwangsarbeiter*innen in Armut lebten. Und das hat der jüdischen Seite sehr deutlich kommuniziert, wer nach wie vor zur Gesellschaft gehört und von ihr geschützt wird. Das ist der Ausgangspunkt.
Und nun kommt mit den 1980er Jahren eine Erinnerungskultur auf, die über eine Reihe von symbolischen Akten versucht, die Geschichte zu bearbeiten. Man errichtet Denkmäler, baut Synagogen wieder auf, initiiert Gedenkstunden im Bundestag und lädt Juden*Jüdinnen für Ansprachen ein. Sicherlicht ist das besser, als hätte die Seite der Täter*innen und ihrer Nachkommen auf ihrem Schweigen bestanden. Für manche ist das bestimmt auch eine schöne Sache. Aber es wichtig zu unterstreichen, dass diese symbolischen Gesten keine Rückgabe von Eigentum, keine auch nur irgendwie angemessene Entschädigungszahlungen und keine Verfolgung der Täter*innen bedeutete. Zu einem solchen Schritt fehlte der politische Wille. Und damit setzt sich die Geschichte der Kränkung fort.
Ich schreibe das, damit deutlich wird, wie anmaßend der Anspruch auf Versöhnung, Normalisierung und Wiedergutwerdung auf viele jüdische Menschen wirken muss. Der Glaubenssatz des Versöhnungstheaters hingegen lautet: Gesellschaften könnten nur funktionieren, wenn Opfer vergeben, was man ihnen antat. Und das ist doch eine Frechheit, wenn man erst die Synagogen niederbrennt, die Konten pfändet und die Verwandten umbringt – und dann fordert, man möge den Täter*innen um des lieben Friedens willen vergeben. Derweil ist man dann übrigens schon vorausgeeilt, sich für die erfolgte Versöhnung zu bedanken.
Und so ist der Weg frei, allen, die jetzt noch die gute Miene zum versöhnlichen Spiel verweigern, einen Vorwurf zu machen. Man empört sich gegen Auschwitzkeulen und Denkmäler der Schande, die einem das gute Gefühl versauen, gegen Holocaust-Profiteure und vermeintlich unversöhnliche Juden, so als trügen sie die Schuld an den Abgründen der Geschichte – und nicht die Seite der Täter*innen, die diese Abgründe aufgeworfen haben. So als wäre die jüdische Seite traumatisiert und nicht derjenige Teil der Gesellschaft, der sich nach allem, was passiert ist, Normalisierung wünscht. Und lange bevor die andere Seite überhaupt dazu gekommen ist, die eigenen Toten zu zählen, verkündet die eine Seite bereits die Normalisierung nach der Schreckenszeit. Diese Toten aber, das sollte klar sein, sind zahllos.
Während das Versöhnungstheater also auf der einen Seite Normalisierung fordert, findet man auf der anderen Seite den Vorwurf gegen Juden*Jüdinnen, ihre Untröstlichkeit setze die deutsche Seite moralisch unter Druck. Martin Walsers umstrittene Rede in der Frankfurter Paulskirche, in der er anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1998 über die Existenz einer "Auschwitzkeule" fantasierte, ist hierfür nur das bekannteste Beispiel.
Es stimmt, Versöhnung ist der Traum derjenigen, die von Unterdrückung profitiert haben oder es immer noch tun. Ihr Horror ist, dass die Unterdrückten unversöhnlich bleiben könnten. Und gerade weil man weiß oder zumindest ahnt, dass die Diskriminierten alles Recht auf ihre Wut haben, wird sie zur Angstvorstellung schlechthin. Die andere Seite, heißt es dann, sei rachsüchtig, traumatisiert und unverschämt. Oder, was auch nur eine Variation dieses Themas ist: sie trage zur Spaltung der Gesellschaft bei.
Die neueste Ausgabe dieses Vorwurfs können wir gegenwärtig als Kritik an einer sogenannten Identitätspolitik beobachten, bei der die Diskriminierten angeblich die Fragmentierung der Gesellschaft betrieben. So als hätten Spaltungen innerhalb der Gesellschaften an den Trennlinien arm und reich, Schwarz und weiß, jüdisch und nicht-jüdisch nie existiert – oder als wären sie normal. Auch an dieser Stelle wird die enge Verbindung sichtbar, die zwischen der Forderung nach Normalisierung und dem Versöhnungstheater existiert.
Noch einen dritten und letzten Punkt zum Versöhnungstheater: Rechter Terror wird bis in die Gegenwart verharmlost und verniedlicht. Das gilt für den
Allen, die selber potentielle Opfer rechter Gewalt sind oder die sich auch nur einen Deut um ihr Schicksal scheren, ist über jeden Zweifel hinaus klar, dass rechter Terror bis auf wenige Ausnahmen auf die physische Vernichtung der als Feinde markierten Anderen zielt. Und dafür muss man nichts lesen, keine Dokumentation schauen und kein Studium absolvieren. Ein allgemeines Wissen um die Geschichte des 20. Jahrhunderts genügt.
Der Vorstellung des guten und normalisierten Deutschlands steht eine Realität gegenüber, in der Menschen bis heute fürchten müssen, dass die Polizei ihre Adressen an Nazis weitergibt, in der Waffen gehortet werden und Sprengstoff einfach so aus den Beständen der Bundeswehr verschwindet. Und die vorauseilende Dankbarkeit für die (nicht nur) jüdische Versöhnung verstellt den Blick darauf, dass die deutsche Gewaltgeschichte nicht zu Ende ist, weil eine Seite sich das wünscht. Sondern dass sie in neuen Formationen weiterhin lebensbedrohliche Realitäten erzeugt und Ungerechtigkeit fortschreibt.
Angesichts dieser Situation muss die Gleichsetzung von Erinnerung und Versöhnung als das bezeichnet werden, was sie ist: Ausdruck der Bedürfnisse eines Teils dieser Gesellschaft, der sich seiner Handlungen schämt und wünscht, diese unangenehme Geschichte möge sich recht bald in Wohlgefallen auflösen. Die darin enthaltene Hoffnung auf die Normalisierung von Nationalhymne bis Heimat ist Teil dieser Wunschvorstellung. Das mag nachvollziehbar sein, es mag auch politisch opportun sein – aber es gilt eben nicht für alle Menschen, die in diesem Land leben. Und die untröstlich sind über das, was ihnen und ihren Familien angetan wurde. Und es bleiben werden.
Damit möchte ich auf den Spruch des Baal Schem Tov zurückkommen: "Das Vergessenwollen verlängert das Exil, und das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung". Dieses Zitat hebt hervor, dass Erinnerung ein zentraler Dreh- und Angelpunkt des jüdischen In-Der-Welt-Seins ist. Sie gedenkt dem Wirken Gottes in der Geschichte. Sie ist aber auch eine Vergegenwärtigung der Verfolgungsgeschichte, die erst das Volk Israel und später das Judentum durch die Jahrhunderte und Länder nahezu ununterbrochen erlitten.
Als Teil religiöser Praxis stellt die Erinnerung so eine Verbindung her zur Vergangenheit – und mit ihr ein Gefühl von Kontinuität, welches auch ein Gefühl ist, dass man trotz allem überlebt hat. Man erinnert an das Leiden, die Verfolgung und die Zerstreuung. Man erinnert auch daran, dass viel zu viele dieser Taten ungesühnt geblieben sind. So unterstreicht nahezu jedes jüdische Fest die gemeinschaftsstiftende Bedeutung dieser Erinnerung an die eigene Verfolgung. Und markiert zugleich die Hoffnung, dass Gott, wenn nicht heute, dann am Ende aller Tage für Gerechtigkeit sorgen werde. Es geht dabei um Erinnerung. Um Versöhnung geht es nicht.
Das plurale Deutschland der Gegenwart ist eine post-nationalsozialistische und post-koloniale Gesellschaft. In einer solchen Gegenwart ist Normalität nicht verfügbar. Ich glaube auch nicht, dass sie wünschenswert wäre, sicherlich nicht als Teil von Erinnerungskultur. Denn Erinnerungskultur bedeutet, die Gesellschaft so einzurichten, dass die Geschichte sich nicht wiederholt. Sie bedeutet auch, dass es Räume der Untröstlichkeit braucht, in denen gilt, was selbstverständlich sein sollte: es wird nie wieder alles gut.
Was nicht bedeutet, dass wir es in der Gegenwart nicht besser machen sollten. Aber das ist Gegenstand einer anderen Diskussion.