Im Frühjahr 2021 diskutierten die deutschen Feuilletons den Vorschlag zweier Künstler*innen – Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah – den Begriff "
Ein Rückblick auf die erinnerungskulturellen Debatten der vergangenen Jahrzehnte zeigt, dass diese vornehmlich innerhalb des "herkunftsdeutschen” Kollektivs geführt wurden. So fanden Debatten über den Umgang mit der NS-Geschichte immer wieder unter dem Aspekt des Generationenkonflikts statt, etwa in der Auseinandersetzung der 68er-Bewegung mit ihrer Elterngeneration (vgl. Schneider / Jureit 2010). Auch wissenschaftliche Debatten wie der "Historikerstreit" 1986/7 wurden als eine interne Angelegenheit der Herkunftsdeutschen geführt (vgl. Gryglewski 2017). Andere Debatten wurden im Spannungsfeld zwischen Tätern und Opfern oder ihrer Nachfahren diskutiert, erinnert sei nur an die Proteste gegen die Uraufführung des umstrittenen Theaterstücks "Der Müll, die Stadt und der Tod" von Rainer Werner Fassbinder 1985, oder die Walser-Bubis Debatte 1998, in dessen Folge es zwischen dem Schriftsteller Martin Walser und dem seinerzeit Vorsitzenden des Zentralrats der Juden Ignatz Bubis zu einer öffentlichen Kontroverse kam.
Mit dem Vorschlag von Hilal und Varatharajah nahm die deutsche Öffentlichkeit – vielleicht zum ersten Mal – einen Anstoß von nicht jüdischen Migrant*innen wahr, wie die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit gestaltet werden soll. Unabhängig von der Frage, ob der Vorschlag sinnvoll ist oder nicht, ist festzustellen, dass die große öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf Identität und Biografie der Initiator:innen beruhte. Die Debatte macht deutlich, dass in der deutschen
Erinnerungskulturelle Kämpfe
Die Debatte um "Nazihintergrund" reiht sich in die Tradition erinnerungskultureller Kämpfe, die besonders seit Mitte der 1980er Jahre die bundesrepublikanische Öffentlichkeit beschäftigten. Ein prominentes Beispiel waren die Äußerungen von Ernst Nolte im sogenannten Historikerstreit, der die nationalsozialistischen Verbrechen lediglich als Reaktion auf das Gulag-System der Sowjetunion verstanden wissen wollte. In der Folge wurde die Singularität des Holocaust von zahlreichen prominenten Stimmen infrage gestellt (vgl. Brodkorb 2011). Die Proteste gegen die Uraufführung von Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod" sind ein weiteres Beispiel. Die Kritik richtete sich dabei insbesondere gegen die rein negative Darstellung eines jüdischen Geschäftsmanns ("der reiche Jude"), in dem unschwer Ignatz Bubis zu erkennen war, der sich prominent in der jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main und im Zentralrat der Juden engagierte (vgl. Bodek 1991).
Bei beiden Debatten fällt auf, wie sehr das Bedürfnis, über vermeintlich jüdische oder alliierte Verbrechen zu sprechen, als Ausdruck einer Normalisierung empfunden wurde: Die Zurückhaltung in diesen Dingen wurde als künstlich, eigentlich unnötig und als Abweichung vom Regelfall konstruiert. Antisemitische Narrative wurden als die internationale Normalität gesehen, die eigentliche Abweichung seien die aufgrund ihrer Geschichte zum Schweigen verdammten Deutschen. Fand diese Konstruktion in den vorangegangenen Debatten vor allem unterschwellig statt, wurde sie 1998 in der Rede Martin Walsers in der Frankfurter Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels zum ersten Mal eindeutig artikuliert. Walser behauptete, dass die "Dauerpräsentation unserer Schande" eine instrumentalisierende Funktion habe, und sprach von der "Moralkeule" Auschwitz. Diese Rede eines bis dahin eher dem linksliberalen Spektrum zuzurechnenden Autors kann als Geburtsstunde eines neuen nationalen Selbstverständnisses gedeutet werden, in welchem die Aufarbeitung der Vergangenheit als abgeschlossen gilt: als eine von außen auferlegte Strafarbeit, die nun aber erledigt sei und sogar zu neuem nationalen Selbstbewusstsein berechtige.
Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass sich an Walsers Äußerungen eine Reihe weiterer antisemitischer Entgleisungen anschloss – erinnert sei nur an den damaligen CDU- und heutigen AfD-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann, der 2003 in einer Rede zum Tag der Deutschen Einheit über Juden als "Tätervolk" räsonierte. Im kulturellen Bereich wäre Günter Grass zu nennen, der 2012 mit einem Gedicht ein vermeintliches Tabu behauptete, wonach er als Deutscher zum "Schweigen untergeordnet" sei und deshalb die "ausgesprochene Wahrheit" über Israel bisher nicht aussprechen durfte: nämlich, dass Israel eine singuläre Bedrohung des Weltfriedens darstelle. Mit einer besonderen Relevanz für Jugendliche entflammte
Erinnerungskultur in Zeit von Rechtspopulismus
Mit dem Aufstieg der AfD und ihrem Einzug als größte Oppositionspartei in den Bundestag steht die Erinnerungskultur zunehmend unter Druck. Der damalige AfD-Bundessprecher Alexander Gauland behauptete: "Hitler und die Nationalsozialisten sind nur ein Vogelschiss in 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte". Und der thüringische AfD-Fraktionsvorsitzende Björn Höcke sagte: "Wir sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat." Mit solchen Grenzverletzungen kämpft die
Es ist nur eines von vielen geschichtspolitischen Schlachtfeldern, die die Neue Rechte derzeit eröffnet hat, auf der sie die Deutungshoheit über Begriffe, Symbolik, Daten und Namen beansprucht. Wenn die Novemberpogrome nur mehr ein Ereignis unter vielen Feier- und Gedenkanlässen sind, so das Kalkül, muss sich Deutschland mit seiner lästigen Vergangenheit nicht mehr herumschlagen – oder gar Konsequenzen daraus ziehen.
Die aktuellen
Erinnerungskultur aus jüdischer Perspektive
An diesen Beispielen fällt auf, wie eine vermeintliche Identifikation mit den Opfern von den Täternachfahren gegen die Opfer gerichtet wird. Schon die Eröffnung des
Alles anderes als überraschend war, als Rosh 2019 eine weitere Aktion mit Überresten von Holocaust-Opfern befürwortete: Das Künstler*innenkollektiv "Zentrum für politische Schönheit" (ZPS) hatte in Sichtweite des Reichstagsgebäudes eine Säule mit Asche der Ermordeten errichtet. Laut den Initiator*innen handelten sie im "Auftrag der Toten". Denn der bedeute, "über unser abstraktes Gedenken hinaus den Faschismus ganz konkret und ganz real zu verhindern (…) Gedenken heißt kämpfen."
Diese Beispiele zeigen, wie tote Juden für die Erinnerungskultur instrumentalisiert werden. Mit dem Begriff "Gedächtnistheater" beschreibt der jüdische Soziologe Y. Michal Bodemann treffend, wie tote oder lebende Juden in der deutschen Erinnerungskultur gebraucht werden – nicht als reale Menschen, sondern als fiktive Wesen, als Symbole für die Identitätsfindung, "damit Deutsche in jüdische Schuhe schlüpfen und sich mit ihrer Schuld befassen können" (Bodemann 1996, S. 118).
Das Verhältnis der jüdischen Gemeinschaft zur Erinnerungskultur hat sich über die Jahre gewandelt. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis man sich traute, öffentlich Kritik zu äußern. Im Oktober 1985 besetzten Jüdinnen und Juden die Große Bühne des Frankfurter Schauspielhauses, um die Premiere von Fassbinders Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod" zu verhindern. Die Bühnenbesetzung und die Protestaktionen markierten ein neues, bewussteres jüdisches Selbstverständnis. Zwei Jahre später wurde, erneut in Frankfurt, ein öffentlicher Konflikt zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der Stadt ausgetragen: Im Börneplatz-Konflikt protestierten Jüdinnen und Juden vehement gegen die Errichtung eines städtischen Verwaltungsgebäudes auf den Ruinen der Judengasse.
Im Spannungsfeld zwischen dem selbstbewussten jüdischen Auftreten seit den 1980ern und der Instrumentalisierung der Juden im "Gedächtnistheater" bis heute plädiert der Lyriker Max Czollek für eine Absage der Juden und Jüdinnen an die Erwartungshaltung der Dominanzgesellschaft, die sich "gar nicht zufällig bei der immer gleichen Themenfolge Antisemitismus, Shoah und Israel" beschränke (Czollek 2018, 27).
Erinnerungskultur im Umbruch
Das Gedächtnistheater gilt jedoch nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern auch Menschen, die als Migrant:innen markiert sind. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus wird exklusiv praktiziert: diejenigen, die keinen biografischen Bezug zur Tätergesellschaft oder zu den Opfern haben, werden selten mitgedacht (Vgl. Gryglewski 2017, 191). Die hier implizit mitschwingende Annahme, als Migrant*innen markierten Personen könnten keinen Bezug zur oder Interesse an der nationalsozialistischen Vergangenheit entwickeln, hat im Gedächtnistheater auch eine Funktion. So werden immer wieder Probleme wie Antisemitismus auf diese Gruppen externalisiert, gegen die die Herkunftsdeutschen aufgrund ihrer angeblich vollumfänglichen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit immun seien. In einer migrationsfeindlichen Abwehr gegen fremd gemachte Andere wird der Antisemitismus und die Geschichtsvergessenheit derer, die sich zu einer national definierten Mehrheitsgesellschaft zählen, oft den "Fremden" zugeschrieben (vgl. Mendel/ Messerschmidt 2017).
Um auf dem Vorschlag von Hilal und Varatharajah zurückzukommen: Kann uns die Bezeichnung der Nachkommen der Täter als "Menschen mit Nazihintergrund" helfen, Minderheitengruppen stärker in die deutsche Erinnerungskultur einzubinden? Eher nicht. Genau diese Markierung von Differenz aufgrund von Herkunft dient immer wieder dem Ausschluss migrantisierter Menschen aus der kollektiven Erinnerungskultur, wie der Briefwechsel zwischen dem Verleger Jakob Augstein und der Migrationsforscherin Naika Foroutan zeigt. Augstein bat Foroutan um einen Debattenbeitrag zur Frage "Wie geht man als migrantische Autorin mit der deutschen Schuld um?" Ganz selbstverständlich ging er davon aus, dass Foroutan als migrantische Autorin mit der "deutschen Schuld" anders umgehen müsse als er selbst. Die Antwort von Foroutan ist aufschlussreich: "Ich finde Ihre Frage an mich irritierend: weniger, weil Sie so selbstverständlich davon ausgehen, dass ich als Muslimin, oder als Migrantin, oder als was auch immer Sie mich anfragen, keine Deutsche und somit auch nicht verwoben mit dieser Geschichte sein kann. Vielmehr, weil Ihre Täter-Opfer-Außenseiter-Kategorisierung so wenig die Komplexität des Holocaust und seiner Geschichten reflektiert. Der Holocaust ist keine rein deutsche Geschichte, er ist eine Geschichte, die an der Menschlichkeit zweifeln lässt und daher ebenso universal wie die von Kain und Abel."
Zusätzlich zeigt die Erfahrung der historisch-politischen Bildung der letzten Jahrzehnte deutlich, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht ausschließlich durch die Abstammung der Adressat*innen begründet werden darf. Diese Haltung ist nicht nur moralisch falsch, sondern auch pädagogisch kontraproduktiv, da sie Abwehr produziert. Die Aufforderung "Du muss dich jetzt mit der Shoah auseinandersetzten, weil dein Opa Täter war" wird von Jugendlichen berechtigterweise als unzulässig abgewiesen. Eine emanzipatorische Pädagogik soll an die Gerechtigkeitsempfindung der Adressat*innen appellieren - nicht an ihre Schuldgefühle. Nicht umsonst werden die Begriffe "Kollektivschuld" und "Erbschuld" als politische Schlagwörter rechter und rechtsextremer Gruppen verwendet.
Selbstverständlich ergibt sich für die Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgestaat des Naziregimes eine besondere Verantwortung. Sie ist allerdings nicht biologisch vererbt, sondern Teil der politischen Kultur. Treffend beschreibt der Schriftsteller Navid Kermani, wie er als Besucher in der Gedenkstätte Auschwitz seine deutsche Identität spürte, als er 2016 für die deutschsprachige Führung den passenden Aufkleber auf die Brust heften sollte: "Das war es, diese Handlung, von da an wie ein Geständnis der Schriftzug auf meiner Brust: deutsch. Ja, ich gehörte dazu, nicht durch die Herkunft, durch blonde Haare, arisches Blut oder so einen Mist, sondern schlicht durch die Sprache, damit die Kultur. Wenn es einen einzigen Moment gibt, an dem ich ohne Wenn und Aber zum Deutschen wurde, dann war es nicht meine Geburt in Deutschland (...). Es war letzten Sommer, als ich den Aufkleber an die Brust heftete, vor mir die Baracken, hinter mir das Besucherzentrum: deutsch."
Migrantische Stimmen wie von Naika Foroutan und Navid Kermani zeigen das Potenzial einer inklusiven postmigrantischen Erinnerungskultur, die alle Menschen in der Gesellschaft anspricht, unabhängig von ihrer Herkunft und ohne moralische Selbsterhöhung. Die Erinnerung an die Ermordeten darf nicht zu einem weiteren Schlachtfeld der identitätspolitischen "Unterdrückungsolympiade" (Chimamanda Ngozi Adichie) werden. Eine postmigrantische Erinnerungskultur sollte Auschwitz nicht nur "zur Signatur eines ganzen Zeitalters" werden lassen, wie Jürgen Habermas schrieb (1987; S. 163). Sie soll auch als zukünftiger Kompass für humanistische und universalistische Identifikationen funktionieren – für Schon-immer-Deutsche und für neue Deutsche gleichermaßen.