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Musikalischer Ausdruck jüdischer Identität: Jüdische Musik in Deutschland | Jüdisches Leben in Deutschland – Vergangenheit und Gegenwart | bpb.de

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Musikalischer Ausdruck jüdischer Identität: Jüdische Musik in Deutschland

Jascha Nemtsov

/ 15 Minuten zu lesen

Bis in die Neuzeit hinein war jüdische Musik eine ausschließlich mündliche Tradition – Resultat eines spezifischen Musikverständnisses des jüdischen Welt- und Gottesbildes. Die frühesten Manuskripte jüdischer Musik stammen aus dem 18., die ersten gedruckten Noten gar aus dem 19. Jahrhundert.

Konzert des israelischen Sängers Idan Reichel im Jüdischen Gemeindezentrum (© David Bachar )

Im Mittelpunkt die Gesangsstimme

Am 29. November 1911 vermerkte Franz Kafka in seinem Tagebuch: "Die Gesellschaften der Chassidim, bei denen sie sich fröhlich über Talmudfragen unterhalten. Stockt die Unterhaltung oder beteiligt sich einer nicht, entschädigt man sich mit Gesang. … Ein Wunderrabbi versenkte bei einer solchen Unterhaltung plötzlich sein Gesicht in die auf den Tisch gelegten Arme... Als er erwachte, weinte er und trug einen ganz neuen lustigen Marsch vor." Was Kafka hier notierte, ist für das traditionelle Judentum generell typisch: Musik ist ein unentbehrlicher Teil des gesamten religiösen Lebens – es wird zumeist nur singend gelernt, gelesen und gebetet.

Bis in die Neuzeit hinein war jüdische Musik eine ausschließlich mündliche Tradition. Während die christliche Musik seit dem Mittelalter notiert wurde (von ersten Notationsversuchen bis hin zur Erfindung einer Notenschrift), stammen die frühesten Manuskripte jüdischer Musik aus dem 18., die ersten gedruckten Noten gar aus dem 19. Jahrhundert. Das hat vor allem mit unterschiedlichen Musikauffassungen zu tun.

Im Gegensatz zur Kirchenmusik wird die Musik im Judentum nicht als Abbild einer idealen, himmlischen Harmonie, sondern als Ausdruck der persönlichen Hingabe an Gott betrachtet – ein Seelenzustand, der flüchtig ist und nicht mit Noten festgehalten werden kann. Dieses in der Spätantike nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels herausgebildete Musikverständnis resultierte aus dem jüdischen Welt- und Gottesbild. Das jüdische Konzept der Freiheit und Eigenverantwortung des Individuums setzt voraus, dass jeder Mensch im Gottesdienst selbst in einen persönlichen Dialog mit Gott treten sollte. Dabei steht nicht die Schönheit der musikalischen Form im Vordergrund, sondern die Aufrichtigkeit und emotionale Intensität des Gebets.

Die einzelne Gesangsstimme als Ausdruck religiöser Empfindung eines Menschen bildet daher den Mittelpunkt der traditionellen jüdischen Musik. Die einstimmigen Gesänge verkörpern die Intimität und Vertraulichkeit des Verhältnisses zwischen Mensch und Gott. Diese persönliche und spontane musikalische Äußerung muss nicht unbedingt in einer ästhetisch vollendeten Form zum Ausdruck kommen. Das Klangbild des jüdisch-orthodoxen Gottesdienstes kann daher für ein an Harmonie und musikalische Ordnung gewöhntes Ohr irritierend sein: Oft hört man viele einzelne melodische und rhythmische Elemente, die scheinbar in keiner Verbindung zueinander stehen, sondern vielmehr ein musikalisches Stimmengewirr bilden. Musikwissenschaftlerin Judit Frigyesi spricht in diesem Zusammenhang von der "Hässlichkeit" des jüdischen liturgischen Gesangs. Und Musikwissenschaftlerin Jasmina Huber wiederum führt aus, dass die Funktion des Synagogengesangs "durch die ihr innewohnende Tendenz erfüllt [wird], bei allen unterschiedlichen Vortragsweisen des Gebets primär dem Ausdruck der Gefühle zu verhelfen. Die Frage des künstlerischen Werts dieser überwiegend aus Gefühlsregungen entstehenden, religiöse Texte übergelagerten Musik bzw. des musikalisch ummantelten Gebets ist nachrangig, da sich der Gesang nicht an ein Publikum … richtet, sondern als Mittel zur Förderung des religiösen Innenlebens dient."

Folge dieser Musikauffassung war unter anderem die konsequente Verbannung des Instrumentalspiels im jüdischen Gottesdienst – das erst im Rahmen der Reformbewegung im 19. Jahrhundert wieder Eingang in die liturgische Musik finden sollte. Das Verbot der Benutzung von Musikinstrumenten in der Synagoge wird zwar traditionell als Ausdruck der Trauer um den zerstörten Tempel erklärt, in der Tat hängt es aber eher mit dem Charakter des jüdischen Gottesdienstes zusammen: Die Intimität des Gebets wäre – nach traditioneller Auffassung – mit dem gleichzeitigen Einsatz von Musikinstrumenten schlichtweg unvereinbar.

Ein gewisses Korrektiv zu dieser im Grunde anti-ästhetischen Musikauffassung in der jüdischen liturgischen Musik bildete der Vorbeter (chasan). Traditionell baal tefilah (Meister des Gebets) oder sheliach tzibbur (Gesandter der Gemeinschaft) genannt, sollte der Vorbeter keine Ausnahmeposition besetzen, sondern lediglich eine ordnende und organisierende Rolle erfüllen – eine Aufgabe, die theoretisch auch von jedem anderen Gemeindemitglied übernommen werden konnte. Auch heute noch verzichten viele orthodoxe Gemeinden auf speziell musikalisch ausgebildete Vorbeter. Die Schönheit der Gesänge und der Stimme des Vorbeters wird begrüßt, solange sie keinen Selbstzweck erfüllt, sondern als Ausdruck der Hingabe (kawanah) wahrgenommen wird. Diese Vorstellungen prägen auch das Berufsbild des jüdischen Vorbeters, der heute nach dem christlichen Vorbild oft "Kantor" genannt wird.

Musikalischer Kulturtransfer

Lange Zeit war es anscheinend dem Geschmack des Vorbeters und der Gemeinde überlassen, mit welchen Motiven die Gebete vorgetragen wurden. Erst seit dem Spätmittelalter gab es Bemühungen, die Synagogenmusik im deutschen Sprachraum zu ordnen. Bahnbrechend in dieser Hinsicht war die Tätigkeit des Rabbiners Jaakov haLevi Moelin (ca. 1375–1427), der in Mainz wirkte und als Erster versuchte, Gebetsmelodien der Juden aus dem Rheinland zu systematisieren. Diese Melodien nannte er mi-Sinai (vom Sinai), um ihre Bedeutung in der Liturgie als Teil der Tradition neben der Torah zu unterstreichen. Die mi-Sinai-Melodien stellen bis heute das Herzstück der aschkenasischen Synagogenmusik dar. Ursprünglich enthielten sie Elemente unterschiedlicher Provenienz, darunter Motive aus den Werken des französischen Komponisten und Dichter Guillaume de Machaut (um 1300–1377), aus dem deutschen Minnesang, dem gregorianischen Choral oder aus französischen und deutschen Volksliedern. Diese Elemente wurden dabei in die eigene musikalische Sprache integriert.

Überhaupt war der Synagogengesang im mittelalterlichen Aschkenas (wie das deutsche Sprachgebiet traditionell auf Hebräisch bezeichnet wurde) – im Gegensatz zur jüdischen Musik in orientalischen Ländern – sehr offen gegenüber den Einflüssen der nichtjüdischen Umgebung. Der Komponist und Musikwissenschaftler Jakob Schönberg (1900–1956) betonte in seiner Untersuchung Die traditionellen Gesänge des israelitischen Gottesdienstes in Deutschland (Nürnberg 1926): "In den aschkenasischen Weisen müssen wir … eine gewisse Verwirrung infolge des Einflusses der europäischen Musik feststellen. Die Tradition ist hier nicht überall ganz streng gewesen. So hat sich z.B. auch der Motivbestand der Weisen nicht immer rein erhalten, und es sind Vermengungen eingetreten, die es in den Gesängen der anderen Juden in diesem Maße nicht gibt." Schönberg beschreibt in seiner Monographie ein eigenartiges musikalisches Verfahren aus jenen Zeiten: Häufig wurden die Anfangsmotive populärer deutscher Volkslieder benutzt, während die Fortsetzung dann eigenständig war und nichts mehr mit dem ursprünglichen Modell zu tun hatte. Ab dem 16. Jahrhundert kam der protestantische Kirchengesang hinzu, der seinerseits vom volkstümlichen Melos geprägt war und den jüdischen Vorbetern nunmehr auch durch gedruckte Quellen zugänglich wurde. Hierzu schreibt Schönberg weiter: "Die Sangesfreudigkeit, die während des 16. Jahrhunderts in dem deutschen evangelischen Volksgesang zum Ausdruck kam und die im Zusammenfassen von alten und neuen Volksliedern und volkstümlichen Tönen ein glückliches Bestreben zeigte, war sicherlich nicht ohne Einfluss auf die jüdischen Volksgesänge der Liturgie geblieben." Ein Beispiel dafür ist das populäre Chanukka-Lied Maos tzur, das mit dem lutherischen Choral "Nun freut euch, lieben Christen g‘mein" verwandt ist. Möglicherweise gehen beide Melodien auf eine gemeinsame Quelle zurück, ein deutsches Volkslied. Auch manche andere alte aschkenasische Melodien, etwa die Hymne Adon olam oder das Pessach-Lied Adir hu, basieren auf deutschem Volkmelos.

Die ältesten bekannten jiddischen Volkslieder sind ebenfalls eng mit der deutschen Volksmusik verbunden: Da es keine schriftliche Überlieferung jüdischer Musik gab, sind nur diejenigen Lieder erhalten, die auf Motive bekannter deutscher Volkslieder nach dem Prinzip der Umgestaltung und Wiederverwendung von Melodien gesungen wurden. Eine wichtige Quelle dazu ist das sogenannte Wallich-Manuskript aus dem 16. Jahrhundert, das in Oxford aufbewahrt wird und einige Dutzend Lieder in westjiddischer Sprache enthält.

Die Musik der Reformbewegung

Die jüdische Musik des 19. Jahrhunderts wurde ganz wesentlich durch die Reformbewegung geprägt, die in deutschsprachigen Ländern entstand und sich überall in West- und Mitteleuropa (wie auch in der Neuen Welt) verbreitete.

Im Gegensatz zur Interner Link: christlichen Reformation rund 300 Jahre zuvor, rührte die jüdische Reform nur wenig an den religiösen Grundsätzen. Umso stärker wurden dagegen die äußeren Formen der Religionsausübung verändert. Grund dafür war nicht zuletzt die staatliche Forderung nach einer Interner Link: kulturellen Assimilation, die als Vorbedingung für die angestrebte bürgerliche Emanzipation der Juden in allen deutschen Ländern erhoben wurde. Seit den 1820er Jahren übernahmen die Regierungen der verschiedenen deutschen Klein- und Mittelstaaten immer mehr die Kontrolle über das jüdische Gemeindewesen und über jüdische Bildungseinrichtungen. Damals wurden staatliche "Synagogenordnungen" oder "Judenordnungen" erlassen, die minutiöse Regelungen für alle Aspekte des jüdischen Gemeindelebens enthielten, darunter auch die musikalische Gestaltung der Gottesdienste. So forderte die Synagogenordnung von Kassel unter anderem, "die unpassenden traditionellen Gesänge, die das Gebet unterbrechen, tunlichst zu vermeiden". Als "unpassend" wurden dabei vor allem die Kantoren-Improvisationen mit reichlicher Melismatik (Kunst der melodischen Verzierung) bezeichnet, die einen wichtigen Teil der traditionellen Chasanut (Kantorenkunst) bildeten. Diese Improvisationen – die bestimmten Regeln folgten und auf der Grundlage traditioneller Melodien bzw. vorgefertigter melodischer Floskeln (nussach) entstanden – trugen wesentlich zu der besonderen spirituellen Atmosphäre im jüdischen Gottesdienst bei und wurden von den Betern geschätzt. Auch die Synagogenordnung aus Braunschweig von 1832 verlangte von den Vorbetern, "auf alle überflüssige und oberflächliche Gesänge zu verzichten."

Viele deutsch-jüdische Musiker trugen damals zu einer radikalen Erneuerung der synagogalen Musik bei. Angestrebt wurde nach den Worten des Kantors Hermann Ehrlich (1815–1879) "Gleichheit und Einförmigkeit durch Gebet und Gesang in allen Synagogen Deutschlands". Dieses ästhetische Ideal bewegte damals alle Reformatoren der Synagogenmusik, denn die mündlich überlieferte jüdische liturgische Musik entzog sich bis dahin jeglicher Standardisierung. Der Übergang von der oralen Tradition zu Druckausgaben mit Sammlungen synagogaler Gesänge war daher eine bedeutende Zäsur in der Geschichte jüdischer Musik. Während die kantorale Kunst früher in jahrelangem Austausch zwischen Meister und Schüler erarbeitet werden musste, bekamen junge Kantoren nun gedruckte Musiksammlungen, die das Erlernen fertiger Vortragweisen in einer modernen, "kultivierten" und dazu noch leicht ausführbaren Form ermöglichten. Davon konnten insbesondere mäßig begabte Kantoren profitierten, die keine ausgeprägte künstlerische Persönlichkeit besaßen. Auf der anderen Seite versetzte die neue Verbreitungsform der synagogalen Gesänge der kantoralen Kunst der freien Improvisation einen Todesstoß.

Die wichtigsten Komponisten der Reformbewegung – Salomon Sulzer (1804–1890) in Wien, Louis Lewandowski (1821–1894) in Berlin, Samuel Naumbourg (1817–1880) in Paris und einige andere – orientierten sich an zeitgenössischer protestantischer und katholischer Kirchenmusik und entwickelten einen Stil, der sich an die romantische Musik jener Zeit anlehnte. Dabei wirkten etliche renommierte christliche Komponisten sogar mit, darunter Franz Schubert, Ignaz von Seyfried, Joseph Drechsler, Wenzel Wilhelm Würfel und andere.

Eine besonders heftig umstrittene Neuerung war die Einführung der Orgel, von der nicht zuletzt eine "disziplinierende" Wirkung erwartet wurde. Lewandowski formulierte es damals folgendermaßen: "Die Orgel, das Instrument der Instrumente, ist vermöge ihrer weit ausgebenden Tonfülle allein im Stande, große Massen in großen Räumen zu beherrschen und zu leiten." Die Reformkomponisten, die in der europäischen Musik geschult waren, hörten den Klang des Gebets in der traditionellen Synagoge inzwischen mit den Ohren ihrer christlichen Zeitgenossen – sie empfanden ihn als Störung der Schönheit. Statt dem Geist der Freiheit sollte in der Synagoge ihrer Auffassung nach eine preußische Disziplin herrschen. Die Musik in der Synagoge sollte nicht mehr die persönliche Angelegenheit eines jeden Betenden sein, sondern ausschließlich von den professionellen Musikern gestaltet werden, wie im Konzert. Der Einsatz der Orgel spielte dabei eine maßgebliche Rolle. Als 1859 in Budapest die damals größte Synagoge der Welt eröffnet wurde, war sie selbstverständlich mit einer Orgel ausgestattet. Auch Lewandowskis Wirkungsstätte, die 1866 eingeweihte Neue Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin, wurde mit einer Orgel gebaut. Die Eröffnungsfeier, bei der Fürst Interner Link: Bismarck zugegen war, geriet zu einem Triumph der jüdischen Emanzipation.

Jüdische Musik und Musiker im 20. und 21. Jahrhundert

Seit dem frühen 20. Jahrhundert begannen einige deutsch-jüdische Musiker unter dem Interner Link: Einfluss kulturzionistischer Ideen, sich mit ihren eigenen musikalischen Wurzeln zu beschäftigen. Eine besondere Rolle spielte dabei der Berliner Verleger und Volksmusiksammler Leo Winz (1876-1952), der aus Osteuropa stammte und 1901 die Zeitschrift "Ost und West" gründete. Als eine vordringliche Aufgabe betrachtete er, "Ost und West – nicht nur geographisch, sondern auch die kulturell auf verschiedenem Boden stehenden Elemente des Judentums einander wieder näher zu bringen". Das erste Heft der Zeitschrift enthielt einen Artikel von Interner Link: Martin Buber (1878–1965) unter dem Titel "Jüdische Renaissance" – ein Ausdruck, der für die kulturzionistische Bewegung prägend wurde. Ab 1905 publizierte "Ost und West" fast in jedem Heft Werke jüdischer Musik, überwiegend Bearbeitungen von jüdischen Volksmelodien aus der eigenen Sammlung von Leo Winz.

Einer der wichtigsten Künstler dieses Kreises war Arno Nadel (1878–1943). Er wurde in Wilna geboren, kam mit 12 Jahren nach Königsberg und lebte seit 1895 in Berlin. Nadel war ein Multitalent, gleichermaßen als Dichter, Maler und Musiker tätig. Seit 1916 leitete er Chöre an verschiedenen Berliner Synagogen, für die er außerdem liturgische Werke schuf. Im Auftrag der Berliner Jüdischen Gemeinde verfasste Nadel in den Jahren 1922 bis 1938 ein siebenbändiges Kompendium jüdischer liturgischer Musik, das er "Halleluja" nannte. Das Abschlusswerk dieses Kompendiums – eine Vertonung des Psalms 150 ("Das große Halleluja") aus dem Buch der Psalmen der Hebräischen Bibel für Kantor, Chor und einige Instrumente – komponierte Nadel Anfang November 1938. Drei Tage nach der Fertigstellung dieser Komposition wurde Nadel beim November-Pogrom festgenommen und im Interner Link: Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert, später musste er in Berlin Zwangsarbeit leisten. Der ungewöhnlich vielfältig begabte Künstler wurde im Interner Link: Vernichtungslager Auschwitz ermordet und geriet nach dem Krieg in Vergessenheit.

Janot Roskin (1884–1946) stammte ebenfalls aus Osteuropa, er kam 1903 nach Berlin. 1916 gründete er den Verlag für nationale Volkskunst, Berlin-Wilmersdorf, der ab 1921 "Musikverlag Hatikwah" hieß. Dort erschienen sowohl seine eigenen Werke, darunter "Jüdische Nationaltänze" (1919), "Gesammelte jüdische Lieder" (1916, 1921) oder der Doppelband "50 Jüdische Volkslieder", als auch Kompositionen von Siegfried Friedländer, Josef Neger, Boris Grossmann, James Rothstein u. a.

Außer Nadel und Roskin gehörten einige andere jüdische Komponisten dem Kreis um "Ost und West" an: Hirsch Lifschütz, Bogumil Zepler, Jacob Beymel, Leo Kopf oder Mischa Portnoff. Ihre Volksmusikbearbeitungen wurden nicht nur in der Zeitschrift veröffentlicht, sondern auch in vielen Konzertveranstaltungen aufgeführt, die die Zeitschriftredaktion von "Ost und West" organisierte.

Auch auf dem Gebiet der Synagogenmusik wurden ab den 1920er Jahren nationale Bestrebungen bemerkbar. Die Dominanz der "Klassiker" der Reformsynagoge, wie Sulzer oder Lewandowski, wurde in Frage gestellt. Die Kritiker betrachteten diese Musik nun als Ausdruck des Assimilationsgeistes. Sie verlangten eine "Reform der Reform", eine Abkehr vom romantischen Stil des 19. Jahrhunderts und Rückkehr zu den ursprünglichen Quellen der jüdischen liturgischen Musik: Kantillationen (Motive, mit denen die Torah-Texte im Gottesdienst vorgetragen werden), mittelalterliche mi-Sinai-Melodien, Nussach-Motive (traditionelle Melodien), jüdisches volkstümliches Melos aus Osteuropa und dem Orient. Viele deutsche Juden, Interner Link: die bereits vor 1933 mit der wachsenden Feindseligkeit ihrer Umgebung konfrontiert waren, besannen sich zunehmend auf ihre eigene kulturelle und/oder religiöse Identität; die Assimilation in all ihren Formen erschien Interner Link: angesichts des erstarkenden Antisemitismus als unwürdig. Seit Anfang der 1930er Jahre förderte die Jüdische Gemeinde zu Berlin die Entstehung und Aufführung großformatiger liturgischer Werke jüdischer Komponisten, darunter Werke von Leo Kopf, Jakob Dymont, Heinrich Schalit, Ernest Bloch, Hugo Adler, Jacob Weinberg, Max Ettinger oder Oskar Guttmann. Sogar noch 1939 wurde eine neu entstandene Freitagabend-Liturgie des Kantors Leo Ahlbeck der Berliner Synagoge Rykestrasse aufgeführt. Auf solche Weise versuchte man eine Alternative zum etablierten Repertoire zu kreieren. Die in den Jahrzehnten zuvor vernachlässigten traditionellen Elemente sollten wiederbelebt und in einen zeitgemäßen Stil integriert werden. Dadurch entstand eine Synthese, die gewissermaßen das Westeuropäische und das Osteuropäische, das Interner Link: Liberale und das Interner Link: Orthodoxe miteinander verband. Diese vielversprechende Entwicklung wurde jedoch durch die Interner Link: Shoah abgebrochen. Das in den 1930er Jahren zum großen Teil unter den Bedingungen der Interner Link: NS-Herrschaft geschaffene neue Repertoire wurde vergessen.

In der NS-Zeit wirkten dennoch einige herausragende Komponisten jüdischer Kunstmusik. Der schon erwähnte Jakob Schönberg etwa stammte aus Fürth und lebte ab 1933 in Berlin, wo er Musikkritiker der zionistischen Zeitung "Jüdische Rundschau" wurde. Er sammelte und studierte als Erster in Deutschland systematisch die neue Musikfolklore der palästinensischen Juden. Große Popularität erlangte Schönbergs 1935 im Berliner Jüdischen Verlag publizierte Liedersammlung "Schirej Erez Israel" (Lieder aus dem Land Israel). Die jüdisch-palästinensische Folklore wurde auch zur Grundlage seiner eigenen Kompositionen. Sein wichtigstes Werk aus dieser Zeit ist die "Chassidische Suite" von 1937. Die Orchesterfassung dieses Werks wurde mehrmals im Rahmen der Veranstaltungen der Jüdischen Kulturbünde in Berlin und Frankfurt am Main aufgeführt.

Die Protagonistin des jüdischen Musiklebens in Frankfurt a.M. war damals die Komponistin Rosy Geiger-Kullmann (1886–1964). 1933 war sie Mitbegründerin des Jüdischen Tonkünstlervereins und des Frankfurter Jüdischen Kulturbunds, wo sie u.a. für die Programmgestaltung des Symphonieorchesters zuständig war. Geiger-Kullmann machte sich zudem als Autorin bedeutender Werke mit jüdischer Thematik einen Namen, darunter das Oratorium "Mose" (1929), "Fünf jüdische Volkslieder" (1933) oder die Kantaten "Ruth und Boas" und "Jakob und Esau" (1936).

Auch anderen jüdischen Komponisten der 1920er und 1930er Jahre wurde ihr Judentum zur Inspirationsquelle. Bezeichnend ist in dieser Hinsicht der schöpferische Weg Interner Link: Arnold Schönbergs (1874–1951). In seiner Jugend begeisterte er sich für Interner Link: Richard Wagner und dessen Ideologie, er ließ sich taufen. Anfang der 1920er Jahre setzte dann seine intensive Beschäftigung mit dem Judentum ein, die in der Oper "Moses und Aron" und anderen Werken mit jüdischer Thematik kulminierte. Später schuf er sogar religiöse Musik. "Ich nenne mich heute mit Stolz einen Juden", schrieb Schönberg 1932 an seinen Schüler Alban Berg, "aber ich kenne die Schwierigkeiten, es wirklich zu sein." Die "Schwierigkeiten" bezogen sich insbesondere auf den erstarkenden Antisemitismus. 1933 wurde Schönberg aus Deutschland vertrieben.

"Die Reinigung unseres Kultur- und damit auch unseres Musik¬lebens von allen jüdischen Elementen ist erfolgt," erklärte der Nazi-Musikwissenschaftler Herbert Gerigk 1940 mit Genugtuung in seinem "Lexikon der Juden in der Musik". Durch antisemitische Verfolgungen erlebte das Musikleben im Deutschen Reich, später auch in den annektierten und besetzten Ländern Europas einen beispiellosen Aderlass. Bis heute bleiben einige der verfolgten jüdischen Komponisten vergessen. Ein Beispiel ist das Schicksal von Hans Heller (1898–1969), der im thüringischen Greiz aufwuchs, in Berlin bei Franz Schreker studierte und 1933 nach Frankreich floh. Er musste später unter deutscher Besatzung schwerste Zwangsarbeit leisten und entging seiner Deportation nach Auschwitz nur knapp durch die Flucht. Mit Hilfe der französischen Interner Link: Résistance überlebte er in einem Versteck. Die weltweit erste CD-Einspielung mit Werken dieses herausragenden Komponisten wird vom Autor dieser Zeilen vorbereitet. Geplant ist ebenfalls, dass im September 2021 im Rahmen der Achava Festspiele Thüringen Hellers Bekenntniswerk, das "Requiem für den unbekannten Verfolgten", uraufgeführt wird.

In der Nachkriegszeit vermochte jüdische Musik, wie die jüdische Kultur überhaupt, breite Kreise des deutschen Publikums anzuziehen. Schon die ersten Radioübertragungen von Synagogenkompositionen Ende der 1940er Jahre stießen auf ein Interesse, das selbst für ihre Initiatoren überraschend war. Dieses Interesse hält bis heute an, die gut besuchten Konzerte jüdischer Musik sind ein Beweis dafür. Besonders beliebt sind Veranstaltungen mit Klezmer-Musik sowie mit der Musik der deutschen Reformsynagoge. Da wären die vielen Festivals zu nennen, wie z.B. das Louis Lewandowski Festival und die Jüdischen Kulturtage in Berlin, die ACHAVA Festspiele Thüringen, Yiddish Summer Weimar, die Internationalen Tage Jüdischer Musik in Norddeutschland oder die Jüdische Musik- und Theaterwoche in Dresden. Darüber hinaus sind auch Einrichtungen zu nennen, die sich der jüdischen Musikkultur im breitesten Sinne widmen: darunter die Villa Seligmann in Hannover, das Jewish Chamber Orchestra Munich (JCOM) oder die akademischen Forschungsstätten wie der Lehrstuhl für Geschichte der jüdischen Musik an der Musikhochschule in Weimar, das Europäische Zentrum für Jüdische Musik in Hannover und das Ben-Haim-Forschungszentrum an der Musikhochschule München. An der Universität Potsdam wurde vor einigen Jahren der erste Studiengang für jüdische Kantoren an einer europäischen Universität begründet. Der Studiengang wird im Rahmen des Abraham Geiger Kollegs und des Instituts für Jüdische Theologie organisiert.

Inzwischen wirken in Deutschland wieder zahlreiche jüdische Musikerinnen und Musiker, darunter auch einige bedeutende Komponisten. In unserer pluralistischen Gesellschaft muss sich keiner von ihnen für eine bestimmte Identitätsschublade entscheiden. Das Judentum kann auch musikalisch auf verschiedene Weise gelebt werden. In den Werken von Gilad Hochman, Eres Holz, Omer Klein, Sarah Nemtsov oder Matthias Pintscher sind Einflüsse jüdischer Musik und jüdischer Kultur zwar eine wichtige Facette, aber nur eine unter vielen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Jasmina Huber: "[... und sie] haben mir mit dem größten Spott vorgehalten, wie es in unseren Synagogen zugeht und wie wir unseren Gottesdienst verrichten", in: Antonina Klokova und Jascha Nemtsov: Einbahnstraße oder "die heilige Brücke"? Jüdische Musik und die europäische Musikkultur (= Jüdische Musik. Studien und Quellen zur jüdischen Musikkultur, Band 14), Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2016, S. 102.

  2. Musikalische Kompendien, die dem Bedarf an leichten Musikstücken für den reformierten jüdischen Gottesdienst entsprachen, wurden seit Mitte des 19. Jh. publiziert, darunter Israel Meyer Japhets "Schire Jeschurun" (1856), Hirsch Weintraubs "Shire Beth Adonai – Tempelgesänge" (1859), Samuel Naumbourgs "Zemiroth Yisrael" (1847 und 1857) oder Salomon Sulzers "Schir Zion" (1840 und 1866). Es war aber insbesondere die 1871 herausgegebene Sammlung synagogaler Gesänge "Kol Rinnah u-T’fillah" von Louis Lewandowski, die sehr bald zum Standardwerk auf diesem Gebiet wurde.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Jascha Nemtsov für bpb.de

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Jascha Nemtsov ist Pianist und Musikwissenschaftler, Professor für Geschichte der jüdischen Musik an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar und Akademischer Direktor der Kantorenausbildung des Abraham Geiger Kolleg Potsdam. Er wurde in Russland geboren und am Staatlichen Konservatorium in St. Petersburg ausgebildet. Als Pianist nahm er bislang rund 40 CDs auf, die mehrfach international ausgezeichnet wurden, darunter mit dem Preis OPUS KLASSIK.