Der Polizeichef von Orestiada
Die Schuldenkrise hat Griechenland längst im Griff, und so kommt es nicht oft vor, dass ein griechischer Beamter fünf Millionen Euro ausgeben darf. Salamagkas Georgios ist eine Ausnahme. Es ist August 2010, und Georgios ist Polizeichef von Orestiada, der nordöstlichsten Gemeinde Griechenlands und damit zuständig für die Landgrenze zur Türkei. Im Vorjahr war die Grenze schon von 47.000 Papierlosen überschritten worden, in den ersten Monaten des Jahres 2010 von 17.000. Nirgendwo sonst sind bis dahin mehr Menschen ohne Visum nach Europa gekommen. Die Regierung in Athen schreibt deshalb ein Bauprojekt aus: Ein zehn Kilometer langer Zaun, der die Flüchtlinge künftig abhalten soll. Ein Beispiel, das im Zuge der Flüchtlingsbewegungen auf dem Balkan inzwischen Schule gemacht hat.
Zaun der Schande sagen Kritiker damals. Ein Verstoß gegen die Menschenrechte, urteilt Amnesty International. Mit dem Zaun wird alles besser, erwidert Georgios im August 2010, ein Mann von damals Ende fünfzig, mit grauem Haar und großem Schnurrbart. An der Wand seines Büros im ersten Stock der kleinen Polizeistation von Orestiada hängen sieben Ikonen, die Heiligenbilder der Ostkirche, auf dem Tisch stehen eine Europaflagge und ein Wimpel der EU-Grenzschutzagentur Frontex. Das Problem hier wird immer größer, stellt er aus heutiger Sicht vorausschauend fest. Dabei wollen fast alle Flüchtlinge weiter nach Norden. Doch das europäische Asylrecht legt schon damals fest, dass Griechenland als Land des ersten Grenzübertritts die alleinige Verantwortung für sie trägt. Asylanträge in anderen EU-Staaten sind ausgeschlossen, eine legale Weiterreise ebenso. Um jeden, der bei Orestiada die Grenze passiert, muss sich Griechenland allein kümmern – oder auf eigene Kosten abschieben. Doch der bankrotte Staat verfügt schon damals über kein funktionierendes Asylsystem.
Georgios zeigt Fotos von seiner eigenen Polizeiwache, die damals erst einige Tage alt sind. Dutzende afghanische Flüchtlinge sitzen auf dem Boden und warten darauf, in das Internierungslager im nahen Fylakio gebracht zu werden. Dort landen alle Papierlosen, die die Polizei aufgreift. Entsetzlich nennt die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen im Dezember des Jahres die Zustände in Fylakio. Mehrfach legen Flüchtlinge in dem völlig überfüllten Lager aus Protest Brände. Georgios hat noch andere Bilder: von schwarzen Leichensäcken, in denen die im Grenzfluss Evros ertrunkenen und die im Winter erfrorenen Flüchtlinge stecken. Der Evros ist ein großer Fluss, es ist schwierig hindurch zu schwimmen. Am Ende des Sommers sei er allerdings stark ausgetrocknet, dann würden mehr Menschen versuchen herüberzukommen.
206 Kilometer lang ist die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. Der erste Abschnitt verläuft über Land. Diese Route wählen die meisten der Flüchtlinge und Migranten. Am 4. August 2010 schreiben die griechischen Behörden den Bau einer künstlichen Barriere aus, die vor illegalen Einreisen abschreckt. Auf Georgios' Schreibtisch liegen die Baupläne: zwei Zäune, 2,50 und 3 Meter hoch, im Abstand von 1,20 Metern, der Zwischenraum gefüllt mit 4 Meter hoch aufgetürmten Rollen Natodraht, dazu Wärmebildkameras und Bewegungsmelder. Schon im April 2011 soll der Zaun fertig sein. Das Wichtigste ist, dass die Flüchtlinge die Grenze gar nicht erst überqueren können, sagt Georgios.
Nach dem Zaun der Graben
Anfang August 2010 geht eine weitere Meldung durch die Agenturen: Griechenland habe begonnen, einen Graben gegen die Papierlosen auszuheben. 30 Meter breit, 7 Meter tief, geflutet, von der bulgarischen Grenze bis zum Mittelmeer. Von einem geheimen Plan für die vielleicht ultimative Flüchtlingssperre war in der Berliner Zeitung die Rede. 450 Soldaten seien im Einsatz, 14,5 Kilometer bereits fertig gestellt. Der damalige türkische EU-Minister Egemen Bagis spottete, Griechenland habe hoffentlich nicht vor, eine außenpolitische Krise zu provozieren, um von der Finanzkrise abzulenken. Es besteht das Risiko, dass derjenige in den Graben hineinfällt, der ihn gegraben hat.
Im Spätsommer 2010 auf den Graben angesprochen, winkt Georgios ab. Alle fragen jetzt nach dem Graben. Dabei hat der mit illegalen Migranten überhaupt nichts zu tun. Offiziell will er nichts sagen. Militärgeheimnis. Das antworten alle, die man fragt, die Regierung in Athen eingeschlossen. Doch unter der Hand sagen alle dasselbe: Das Militär hat den Graben schon vor Jahren aus Angst vor einer türkischen Invasion als Panzersperre angelegt. Aus dem gleichen Grund ist die Grenzregion bis heute vermint. Immer wieder sterben Papierlose, weil sie auf eine Mine treten.
Später sollen militärische Strategiepapiere aus der Türkei bekannt geworden sein, die Möglichkeiten für eine Invasion nach Griechenland durchspielen. Zudem soll die Türkei neue Brückenpanzer mit einer größeren Spannweite bestellt haben. Deshalb habe das Militär den Graben breiter gemacht – und wolle ihn bis an die Adria verlängern. Einen Blick darauf zu werfen ist unmöglich: Das gesamte Gebiet ist militärische Sperrzone. Der Graben sei kilometerweit im Inland, sagt Georgios. Zur Flüchtlingsabwehr nützt er gar nichts, weil die Flüchtlinge dann schon längst auf griechischem Territorium sind. Und genau das wollen wir ja verhindern.
Eine Fahrt zur Grenze
Draußen vor der Wache parken Polizeiautos aus verschiedenen Ländern, darunter ein Bus der Bundespolizei aus Fuldatal. Junge Männer und Frauen mit Cargohosen laufen umher, auf dem Rücken tragen sie schwarze Sporttaschen, ihre Ausrüstung bringen sie aus dem Hotel mit. Es sind deutsche Beamte, die die EU-Grenzschutzagentur Frontex nach Griechenland geschickt hat. Je zwei der Frontex-Grenzer patrouillieren mit zwei griechischen Beamten.
Eine von ihnen ist Sophia Raptia. Sie ist jung und trägt eine große, verspiegelte Sonnenbrille. Georgios schickt die vielen ausländischen Journalisten, die sich in Orestiada die Klinke in die Hand geben, oft mit ihr los. Schon der Name ,Frontex' erschreckt die Migranten, sagt sie. Die wissen: Frontex verteidigt die Grenzen der EU. Das ist doch gut. Sie sei sehr froh über die Anwesenheit der ausländischen Kollegen. Wir können viel voneinander lernen.
Die Tour geht bis an die Grenze der Sperrzone östlich der Ortschaft Nea Vyssa. Hinter einem Maisfeld ist ein Bunker, irgendwo dahinter ist der Graben. Am Horizont sieht man die Minarette der Moscheen von Edirne in der Türkei. Raptia bittet zwei Dokumentarfilmer, sie nicht mit Zigarette und Eiskaffeebecher in der Hand zu filmen. 1.100 Euro netto im Monat verdienen die Grenzer damals, durch die EU-Sparauflagen war fast ein Drittel weggefallen. Löhne wie in Osteuropa, sagt Raptias Kollege.
150 bis 200 Kilometer pro Schicht fahren die Grenzer, und fast jedes Mal entdecken sie Papierlose. 50 bis 100 kommen jede Nacht, sagt Raptia. Ihr Ziel ist es, sie schon auf der türkischen Seite zu erspähen. Dann machen wir das Blaulicht an, damit das türkische Militär sie verhaftet.
Als Unterzeichnerstaat der Genfer Flüchtlingskonvention muss Griechenland Flüchtlingen die Möglichkeit geben, einen Asylantrag zu stellen. Die Praxis, sie von den Türken verhaften zu lassen, schließt das eigentlich aus. Zumindest vor dem EU-Türkei-Abkommen vom März 2016.
Was ist denn, wenn sie Terroristen sind?, entgegnet Raptia sechs Jahre zuvor. Man kann schließlich auf vielen Wegen Asyl beantragen, sagt sie dann noch. Ob der Grabenbau diese neue Zusammenarbeit nicht massiv gefährdet? Kein Kommentar. Militärgeheimnis. Wen Raptia und ihre Streife zu spät aufspüren, den dürfen sie nicht über die Grenze zurückdrängen. Die verhaften sie dann selbst. Es kommt vor, dass manchmal einer nicht will, sagt der Kollege. Aber das ist ja sonst im Polizeidienst auch so.
Die Situation in Fylakio, die sei in der Tat schrecklich, sagt Raptia, meint damit aber die Wachleute. Es ist so voll, die Kollegen können sich nicht vor Ansteckungen schützen. Viele der Flüchtlinge bleiben mehrere Monate in dem Lager. Wenn wir die Leute nach drei Tagen freilassen, dann rufen sie zu Hause an, und es kommen noch mehr, sagt ihr Kollege. Es gebe in Athen linke Kritiker, denen tun die Leute leid. Aber die Gesellschaft müsse sich eben entscheiden: Soll es eine Grenze geben oder nicht? Solange es aber eine gibt, werden wir sie auch bewachen.
Der Fluss des Todes
Hunderte sollen es sein, die im Evros bis heute ertrunken oder auf einem der Minenfelder gestorben sind, als sie versuchten nach Europa zu gelangen. Genau weiß das niemand. Nur manche Unglücke sind dokumentiert, von vielen der irregulären Migranten aber verliert sich die Spur. Am 25. Juni 2010 etwa ertrinken im Evros 19 Menschen in einer Nacht, als sie versuchen, die Grenze zu überwinden. Eine afghanische Frau und ihre drei Kinder gehören zu denen, die das Unglück überleben. Ihr Mann und zwei seiner Freunde verschwinden im Wasser. Auf verschlungenen Wegen schafft die Afghanin es bis in ein Asylbewerberwohnheim im schleswig-holsteinischen Neumünster. Dort erfährt die Hamburger Fotografin Marily Stroux von der verzweifelten Suche der Frau nach ihrem vermissten Mann.
Stroux entscheidet, ihr zu helfen. In Athen erfährt sie von einer Beratungsstelle, dass die Afghanin mit ihren Kindern dort angekommen war. Wir bekamen die Namen der Vermissten, Fotos und Beschreibungen ihrer Kleidung und der Ringe, die sie trugen. Die Frau setze große Hoffnung darauf, dass wir die Vermissten finden.“ Ihre Suche führt Stroux in die Gerichtsmedizin der griechischen Stadt Alexandropoulos, nahe Orestiada. Alle am Evros Gestorbenen werden dort in der Gerichtsmedizin untersucht. Da die meisten toten Flüchtlinge ertrunken sind, sind sie nur selten identifizierbar. Daher werden DNA-Proben genommen, damit sie mit denen von möglichen Verwandten verglichen werden können. Die Leichen kommen ja nicht mit einem Pass zwischen den Zähnen zu uns“, sagte ein Gerichtsmediziner zu Stroux.
Und er gibt ihnen einen Hinweis, der sie schließlich in die Berge nahe des Ortes Sidero führt, wo der griechische Staat die toten Papierlosen in einem anonymen Massengrab verscharrt. 14 der 19 der Leichen aus jener Nacht werden auf der griechischen Seite angespült und von einem Beerdigungsunternehmer aus Orestiada aus der Gerichtsmedizin nach Souflí gebracht. Statt auf dem muslimischen Dorffriedhof aber werden die Leichname in einem Massengrab in unzugänglichem Gelände bestattet. Am Rand steht ein Schild: Friedhof der illegalen Einwanderer – Muftia von Evros“. Bulldozer haben Erdlöcher ausgehoben, je zehn Leichen kommen hinein. Wir standen da und trauten unseren Augen nicht“, sagt Stroux. Wir wollten ein respektvolles Grab finden und dies der Familie zeigen können. Stattdessen kamen wir zu einem Massengrab, das noch nicht einmal ein Friedhof ist. Und dann haben auch noch irgendwelche Idioten das rassistische Schild beschossen. Wie oft kann man Menschen umbringen?“ fragt Stroux.
Der Friedhof der Flüchtlinge
Über den Verbleib des Afghanen können sie nichts herausfinden. Doch ihre Recherchen ergeben, dass die toten Migranten schon seit Jahren so begraben werden. Der Beerdigungsunternehmer hat zu diesem Zeitpunkt schon rund 200 Tote in dem Massengrab verscharrt. Obwohl der Auftrag der Bezirksregierung eine Waschung und Beerdigung nach muslimischen Gebräuchen beinhaltete, um den Toten jedenfalls auf diese Weise eine Art letzte Ehre zu erweisen, werden die Verstorbenen ohne jeden Respekt vor ihnen und ihren Angehörigen verscharrt“, sagt Stroux. Eine Exhumierung sei so nicht mehr möglich, falls Angehörige die Leichname ihrer Toten an einem anderen Ort beerdigen wollen.
Kurz nachdem Stroux die unwürdige Grabstätte im August 2010 publik macht, erklärt der damalige Vizepräfekt der Region, Jannis Papaioannou, Anfang 2011 dem Spiegel-Reporter Manfred Ertel, das Massengrab sei nun legalisiert“. Papaioannou lässt einen hohen Drahtzaun um das Gelände ziehen und es mit einem Eisengatter versperren. Notdürftig verscharrt liegen dort die Toten, in Sichtweite der Moschee von Sidero, aufgeschüttete Sandhügel bedecken die Grabstätten, kein Hinweis auf einen Friedhof, kein Schild. Es sehe aus wie auf einer Sondermülldeponie“, befindet Ertel. Grabsteine werde es auch in Zukunft nicht geben, sagt Mehmet Serifdamatoglou, 56, der Mufti von Sidero. Was sollen wir denn darauf schreiben? Ende der 1980er Jahre habe Serifdamatoglou die ersten Toten begraben, Kurden aus der Türkei. Die Kurden hätten Ausweise gehabt, so sei ihre Identität zu klären gewesen. Nun hätten die Toten keine Papiere mehr. Über 400 Flüchtlinge habe er in mehr als 20 Jahren beerdigt. Bei jedem bete er, es möge der letzte sein, sagt der Mufti. Das ist nun sieben Jahre her.