Der Völkermord an den Armeniern 1915/16 war das wohl schwerste Verbrechen des Ersten Weltkriegs und ein unheimlicher Vorläufer der Shoah. Er müsste schon deshalb die Deutschen interessieren – tut es aber kaum. Deutschland war im Ersten Weltkrieg der engste Verbündete des Osmanischen Reichs und viele Türken hielten schon damals die Vernichtung der Armenier für eine deutsche Idee, was sie nicht war.
Dolchstoßlegenden
Die beiden betroffenen Nationen hatten den Ersten Weltkrieg verloren. Deutschlands Militärführer Erich Ludendorff und seine Anhänger schanzten die Niederlage per Dolchstoßlegende der an die Macht gekommenen Opposition zu, die die Republik ausgerufen hatte, und exkulpierten sich damit. Als dann im Versailler Vertrag Deutschland die alleinige Kriegsschuld zugesprochen wurde, schob die alte Elite die eigenen Verfehlungen im Weltkrieg beiseite, die deutschen Kriegsgreuel in Belgien und die Mitverantwortung am Völkermord an den Armeniern inklusive. Als am 15. März 1921 der nach Berlin geflüchtete Großwesir Talaat Pascha von einem armenischen Rächer erschossen wurde, blendete das Gericht die deutsche Mitverantwortung aus, indem es Hintergründe der Tat gar nicht behandelte und den Prozess nach zwei Tagen beendete. Das Auswärtige Amt hatte dem wohl bestinformierten Zeugen des Völkermords an den Armeniern, dem deutschen Konsul in Aleppo, Walter Rössler, sogar die Aussage im Prozess verweigert.
Das Osmanische Reich hatte zwar ebenfalls kapituliert, aber Mustafa Kemal, später Atatürk genannt, hatte den Krieg im Innern gegen die Griechen weitergeführt und gewonnen. Seither ist in der Türkei die Leugnung des Völkermords an den Armeniern Staatsdoktrin und auch Deutschland machte bei diesem Spiel weitgehend mit, obgleich kein Archiv der Welt eine so komplette Sammlung von hochrangigen diplomatischen Akten über den Völkermord an den Armeniern und anderen christlichen Minderheiten besitzt, die das Verbrechen einwandfrei belegen, wie das deutsche Auswärtige Amt. Die wichtigsten dieser Dokumente sind sogar im Internet veröffentlicht (Externer Link: www.armenocide.net), und Genozid-Forscher verwenden sie weltweit als Beweise für die Vernichtung des armenischen Volkes.
Der Völkermord als Politikum
Als am 24. April 2005 die 90. Wiederkehr des Beginns dieses Genozids in aller Welt begangen wurde, vermied der deutsche Bundestag in einer von allen Fraktionen getragenen Resolution noch den Begriff "Völkermord". Was machte es eigentlich den Deutschen bis heute so schwer, den Armenier-Genozid einen Völkermord zu nennen, ein Begriff, der 1949 von den Vereinten Nationen – auch von der Türkei – offiziell angenommen wurde? Schon damals war klar, dass die eigentlichen Völkermörder an den Armeniern und anderen Christen im Osmanischen Reich während des Ersten Weltkriegs eine Gruppe von Jungtürken des "Komitees für Einheit und Fortschritt" waren. An deren Spitze standen der Innenminister und spätere Großwesir Talaat Pascha, der den Deutschen besonders verbundene Kriegsminister Enver Pascha sowie der einstige Marineminister und spätere Herrscher von Syrien und Palästina Djemal Pascha. Sie und ihre Gefolgsleute initiierten und leiteten die Vernichtungsaktionen.
Die Rolle der Deutschen bei diesem Verbrechen ist differenzierter. Politiker im Reich hatten sich nicht für eine Unterdrückung der Armenier und anderer Christen in Nahost ausgesprochen, weil die Armenier für sie nicht von politischer Bedeutung waren. An den osmanischen Griechen bestand traditionell ein gewisses Interesse, das durch die familiäre Verbindung Kaiser Wilhelms II, dessen Schwester griechische Königin war, verstärkt wurde. Es reichte allerdings nicht aus, die Griechen in der Türkei vor allen Verfolgungen zu schützen, die bereits 1914, also vor dem Völkermord an den Armeniern, begonnen und nach dem Krieg ihren Höhepunkt hatten.
Deutsche Einflussnahme
Deutsche Botschafter in der Türkei hatten nach Beginn der Deportationen und Ermordung der Armenier außer Protesten nichts unternommen. Während die Appelle der an den Verbannungsrouten stationierten deutschen Konsuln an ihre Vorgesetzten noch von ehrlicher Empörung bestimmt waren, lesen sich die Eingaben der Botschafter an die türkische Regierung wie klassische Protest-Placebos. Einzige Ausnahme war Paul Graf Wolff Metternich zur Gracht, aber Kanzler Bethmann Hollweg hatte einen Protestartikel von ihm abgeschmettert mit der Bemerkung: "Unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht." In der Folgezeit erzwangen deutsche Militärs in der Türkei die Absetzung des Botschafters.
Deutsche Spitzenmilitärs in der Türkei waren sogar Mittäter beim Völkermord. Einer von ihnen, Eberhard Graf Wolffskeel von Reichenberg, ein hoher Artillerie-Offizier, hat die Armenier in den Orten Zeitun, Fundadschak (bei Marasch) sowie Urfa zusammenschießen lassen. Ein anderer, der schon genannte Silvester Böttrich, im Großen Türkischen Generalstab verantwortlich für das Eisenbahnwesen, schickte Tausende von Armeniern, selbst jene, die bei der von den Deutschen erbauten Bagdadbahn einen provisorischen Schutz gefunden hatten, in den Tod.
Die Einflussnahme deutscher Offiziere ist von einem auch eingestanden worden. Der deutsche Oberst Otto von Feldmann, Chef der Operationsabteilung im türkischen Großen Hauptquartier, berichtete, deutsche Offiziere, zu denen auch er gehört habe, hätten den Türken geraten, "gewisse Gebiete im Rücken der Armee von Armeniern freizumachen". Vom deutschen Türkei-Spezialisten im Berliner Auswärtigen Amt, Otto Göppert, zu diesen Ratschlägen befragt, antwortete Feldmann: "Wo es notwendig war, gegen die Armenier militärische Ratschläge zu erteilen, da lagen gewisse schwerwiegende Gründe vor." Welche Gründe das waren, konnte kein deutscher Offizier nennen, denn sie hatten schlicht die Vorurteile ihre türkischen Kameraden übernommen, ohne sie zu überprüfen.
Theoretisch unterstanden die deutschen Offiziere in der Türkei zwar dem Leiter der deutschen Militärmission Otto Liman von Sanders, in Wahrheit aber folgten fast alle den Instruktionen des türkischen Kriegsministers Ismail Enver. Der hatte sich zum Befehlshaber auch der deutschen Militärs in der Türkei gemacht, indem er mit Liman einen Vertrag geschlossen hatte – wohl nur mündlich, denn ein schriftlicher ist bislang nicht aufgetaucht – , nach dem Liman zwar eine Leitungsfunktion inne hatte, Enver aber Oberbefehlshaber war. Botschafter Wangenheim hatte frühere Bedenken gegen das Bündnis – denn er hatte sich stark genug gefühlt, auch in einer neutralen Türkei die deutschen Vorstellungen durchzusetzen – auf Druck des Kaisers zurückgestellt.
Deutsch-türkisches Machtgerangel
Denn Wilhelm II war den Verlockungen der Türken erlegen. Um einen Bündnisvertrag mit den Mittelmächten (Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien) abzuschließen, hatte Großwesir Said Halim anfangs den Deutschen die direkte Befehlsgewalt über ein Viertel der türkischen Armee angeboten, was Kanzler Bethmann Hollweg nicht genügte. Schließlich machte Enver den Deutschen so viele Versprechungen, dass der Kaiser den Befehl zum Bündnis gab, das am 2. August 1914 geschlossen wurde. Nachdem es dem deutschen Schlachtschiff "Göben" und dem Kleinen Kreuzer "Breslau" gelungen war, ins Marmarameer einzulaufen – wo sie zum Unmut der Deutschen als türkische Schiffe deklariert wurden –, fühlte sich die weiter unter deutscher Leitung stehende osmanische Marine stark genug, gegen den Unmut nun der Türken die Russen im Schwarzen Meer anzugreifen und die von der obersten deutschen Heeresleitung erwünschte Kriegserklärung Russlands an die Türkei herbeizuführen.
Vorgeschützte Gründe
Im Frühjahr 1915 fiel im "Komitee für Einheit und Fortschritt" der Entschluss, die Armenier auszurotten. Den deutschen Militärs wurde von den Türken ganz offensichtlich eingeredet, dass armenische Aufstände die Jungtürken dazu gezwungen hätten. Diese Versionen stützten sich oft nur auf Programme armenischer Parteien, auch solchen, die in der Türkei keine Bedeutung hatten. Sie fanden auch bei den deutschen Botschaftern Glauben, obgleich ihnen Recherchen ihrer eigenen Konsuln vor Ort entgegenstanden, die keinen offenen militärischen Widerstand der Armenier gemeldet hatten. Deportationen und Vernichtung der Armenier wurden fortan mit den türkischen Argumenten begründet.
Einige wenige Vorbehalte der deutschen Konsuln über den angeblichen Landesverrat der Armenier sollen hier zitiert werden. "Besondere Vorsicht dürfte sich jedenfalls gegenüber der Anklage ‚militärisch gegliederter Verschwörung’ empfehlen", schrieb der deutsche Vizekonsul von Alexandrette (dem heutigen Iskenderun), Hermann Hoffmann-Fölkersamb, "gewisse örtliche Aufruhrbewegungen können zum Beweise einer solchen nicht verwertet werden." Zwar seien die Widerstandsbewegungen teilweise "militärisch gegliedert", aber "örtlich beschränkt und nicht als Ausfluss einer weiter angelegten Verschwörung, sondern durch die Drohung der Verschickung gereift. Die Erhebung der Armenier in der Gegend von Suedije [Musa Dagh] war selbst nach Schilderung von militärisch-türkischer Seite keine Verschwörung, sondern eine vom Augenblick geborene Erhebung. Dafür sprechen die Umstände und die Ansichten gut unterrichteter Türken."
Angeblicher Landesverrat
Hoffmann berichtete, er glaube nicht, dass sich die Armenier "landesverräterisch betätigt" hätten. Botschafter Wangenheim schrieb an seine Berliner Vorgesetzten: "In einem Punkte dürfte Übereinstimmung herrschen: dass die Armenier seit Einführung der Konstitution den Gedanken an eine Revolution aufgegeben haben, und dass keine Organisation für eine solche besteht." Der Armenienspezialist der deutschen Botschaft Johann Mordtmann referierte eine Unterredung mit dem deutschen Festungskommandanten von Erzerum, General Posseldt, der "glaubt, dass die Armenier sich ruhig verhalten würden, wenn sie nicht von den Türken bedrückt und gereizt wären. Die Aufführung der Armenier sei tadellos gewesen." Vize-Konsul Max Erwin von Scheubner-Richter berichtete aus Erzerum über die Ausweisungen: "Ein Aufstand seitens der hiesigen Armenier ist nicht zu befürchten. Wäre hier ein Aufstand geplant gewesen, so war dafür die günstigste Gelegenheit im Januar, als die Russen 35 km vor Erserum standen und die Garnison Erserums nur aus einigen hundert Mann Gendarmerie bestand, während sich in Erserum in den (zwangsrekrutierten) Arbeiter Bataillonen allein 3 4000 Armenier befanden."
Geheimpapiere
Kein deutscher Historiker hat bislang über die Rolle der deutschen Militärs in der Türkei und ihre Einflussnahme auf den Genozid ernsthaft recherchiert. Die Berichte der deutschen Militärs – sowohl der Botschaftsattachés als auch der in den türkischen Generalstäben tätigen deutschen Offiziere – waren seinerzeit an das preußische Kriegsministerium gerichtet, das nur ab und zu Kopien an das Auswärtige Amt weiterleitete. Fast alle Originale wurden bei einem Bombenangriff in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs in den Militärarchiven in Potsdam zerstört, nur die ans Auswärtige Amt gerichteten Kopien existieren noch. Aber auch die kompletten Originale gibt es noch. Sie sind – unter höchster Geheimhaltung – im Kriegsministerium der Türkei aufbewahrt. Kein ausländischer Historiker hat sie je gesehen.
Im Frühjahr 2015, zum 100. Jahrestag des Völkermordbeginns, stand erneut eine Debatte im Bundestag an. Doch im Gegensatz zu früher hatten drei höchste Vertreter des öffentlichen Lebens bereits zuvor klar Stellung bezogen: Papst Franziskus I. und Bundespräsident Joachim Gauck hatten die Vernichtung der Armenier vor hundert Jahren eindeutig einen Völkermord genannt, und gleich zu Beginn der Aussprache im deutschen Parlament stellte Bundestagspräsident Norbert Lammert kurz und bündig fest, es bestünde kein Zweifel daran, die Ereignisse damals seien ein Völkermord gewesen. Kein Sprecher der Fraktionen wich diesmal dem Terminus aus. In einem anschließenden Treffen mit zumeist armenischen Vertretern sagten mehrere deutsche Parlamentarier die Erarbeitung einer Resolution zeitnah zu. Doch der Strom der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten zwang das Auswärtige Amt einmal mehr, sich türkischem Druck zu beugen. Eine zweite und dritte Lesung der Armenierresolution wurde einfach abgesetzt – vermutlich für lange Zeit.
Und sollten die Flüchtlingsströme nach Deutschland einst versiegen, hätte die Türkei mit dem Besitz der deutschen militärischen Papiere immer noch genügend politische Druckmittel in der Hand. Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth hat im September 2015 auf einer Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, der die deutsche Erforschung des Armenier-Genozids von seinen Fesseln befreit. Seine Durchführung wäre ein guter Anfang für einen wichtigen Beitrag zur Erhellung eines der größten Versäumnisse der deutschen Geschichtswissenschaft.