Armenien und der osmanische Genozid
Schmerzhaftes Gedenken
Tessa Hofmann
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Wie erinnert Armenien den Genozid? Wie die armenische Diaspora? Tessa Hofmann zeichnet ein Bild der Erinnerungskultur, in der sie auch Parallelen zum Holocaustgedenken in Israel sieht.
Doppelbelichtung
Vieles in der armenischen Geschichte und Gegenwart gibt es doppelt, so wie den Doppelgipfel des Symbol- und Sehnsuchtsberges Ararat: zwei Staaten – der eine so klein wie das Bundesland Brandenburg, der andere, Berg-Karabach, winzig und international noch immer nicht anerkannt –, zwei kirchliche Oberhäupter (Katholikoi), und zwei Museen, die das traumatischste Ereignis der Landesgeschichte präsentieren.
Die "Schwalbenburg"
Das Museum und Institut des armenischen Genozids in der Landeshauptstadt Jerewan entstand im Anschluss an die noch heute eindrucksvolle Gedenkstätte, die sich die Bevölkerung Sowjetarmeniens 1965 bei der ersten großen Massenprotestkundgebung in der sowjetischen Geschichte erstritt: Hunderttausende demonstrierten damals vor dem Opernhaus, wo sich am 24. April jenes Jahres die politische Elite hinter verschlossenen Türen zu einer Veranstaltung aus Anlass der 50. Jährung des Gedenkens an den Genozid von 1915 versammelt hatte. Die Demonstranten auf der Straße verlangten die Rückgabe "unserer Gebiete" in Westarmenien, eine Forderung, die sich die postsowjetische Republik nicht zu Eigen gemacht hat. Dort bezeichnet man Westarmenien meist offiziell als "historische Heimat", deren Verlust der derzeitige Präsident Serge Sargsjan als "Patrizid" umschreibt.
Sowohl die sowjetarmenische Parteiführung, als auch Katholikos Wasgen I. stellten sich 1965 an die Seite der Demonstranten. Obwohl dieser radikale Tabubruch die Türkei- und Außenpolitik der sowjetischen Zentralregierung vorübergehend belastete, erlaubte Moskau seiner kleinsten Sowjetrepublik die Errichtung einer Gedenkstätte "Mets Jerern" ("Großes Verbrechen" bzw. "Frevel"). Viele Jerewaner wollten dennoch so schnell wie möglich bauliche Tatsachen schaffen und beteiligten sich freiwillig am Bau der Gedenkstätte. Der bereits im April 1965 ausgeschriebene Architektenentwurf verlangte, im Sinn des sowjetischen Geschichtsoptimismus, die Betonung des Überlebens der armenischen Nation dank der Sowjetmacht. Artur Tarchanjan und Saschur Kalaschjan, die den Wettbewerb für sich entschieden, stellten entsprechend eine ewige Flamme in den Mittelpunkt der Gedenkstätte, über die sich zwölf kreisförmig angeordnete Steinpylonen wölben; daneben ragt eine gespaltene Spitze zum Himmel, die die Wiedergeburt des Volkes, aber auch seine Teilung in Diaspora und Heimat symbolisieren soll. Die Gedenkstätte befindet sich auf einem Jerewaner Hügel, der nach einer bronzezeitlichen Festung "Schwalbenburg" (Zizernakaberd) benannt wurde und einen bis vor kurzem großartigen, weil noch unverbauten, Blick auf den Ararat eröffnete. Hunderttausende Menschen pilgern seit 1967 alljährlich am 24. April zu Fuß zur "Schwalbenburg", um dort Blumen, Gebinde und Kränze niederzulegen, obwohl der 24. April erst gegen Ende der Sowjetzeit zum offiziellen Gedenk- und Trauertag des Genozids erklärt wurde. Seit dem Zerfall der Sowjetunion bilden die Gedenkstätte und das der Gedenkstätte angegliederte Museum nebst Institut das staatliche Zentrum armenischer Erinnerungskultur und -politik. Obwohl der armenische Gesetzgeber am 23. März 2015 den Genozid auch an aramäischsprachigen und griechischen Mitopfern verurteilt hat und auch Minderheiten der Assyrer und Pontosgriechen in Armenien beheimatet sind bzw. an ihren Gedenktagen das Mahnmal ebenfalls aufsuchen, präsentiert das Museum bislang die Ereignisse im Osmanischen Reich nur mit Blick auf die Armenier und damit gleichsam als singuläres Ereignis. Wie die Museumsleitung berichtet, kommen täglich auch an die fünf Besucher aus der benachbarten Türkei, um das Museum zu besichtigen.
Das Armenian Genocide Museum of America
Das im Jahr 2000 initiierte und bis heute unvollendete Armenian Genocide Museum of America im einstigen Gebäude der US-Nationalbank (Washington) unweit des Weißen Hauses stellt den Versuch der transatlantischen armenischen Diaspora dar, in einem von Armenien unabhängigen Ausstellungsprojekt ihre Sicht auf den Genozid und die armenische Gegenwartsgeschichte zu präsentieren. Ein unter den Hauptsponsoren alsbald ausgebrochener Streit endete 2011 vor Gericht und blockiert, trotz eines Spendenaufkommens von fast 20 Millionen US Dollar, den erfolgreichen Abschluss dieses Bauvorhabens. So äußern sich in den parallelen Museumsprojekten auch Spannungen zwischen der armenischen Diaspora und dem heutigen Armenien, dessen Deutungsmonopol sowie erinnerungspolitischen Alleinvertretungsanspruch viele Diasporaarmenier nicht nur in den USA vehement zurückweisen. Sie pochen darauf, dass Armenien, mit nominell höchstens drei Millionen Einwohnern, allenfalls ein Drittel der heutigen armenischen Weltbevölkerung von neun Millionen Menschen repräsentiere.
So stehen die beiden Museen in Jerewan und Washington für zwei unterschiedliche Erinnerungskulturen: Im nationalstaatlichen Konzept des unabhängigen postsowjetischen Armenien werden die nationale Wiedergeburt und häufig auch die, meist vergeblichen, Versuche zur Selbstverteidigung während des Völkermords betont – wie etwa der von Franz Werfel in Romanform geschilderte Widerstand auf dem Mosesberg ("Die 40 Tage des Musa Dagh", 1934), denn mit bloßem Opferbewusstsein lässt sich keine Verteidigungsbereitschaft in einem Nationalstaat aufbauen, der sich von mindestens zwei seiner unmittelbaren vier Nachbarn bedroht sieht.
Erinnerungspolitische Parallelen zu Israel, das mit dem Gedenktag Jom Haschoa den Widerstand im Warschauer Ghetto betont, sind hierbei ebenso wenig zufällig, wie Ähnlichkeiten der Jerewaner Gedenkstätte mit der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem (etwa die Ehrung von "Gerechten" anderer Staats- und Religionszugehörigkeit).
Die diasporische Erinnerungskultur hingegen entspringt der Trauergemeinschaft der Überlebenden und artikuliert deren Schmerz sowie die Forderung nach "Gerechtigkeit", die allerdings sehr unterschiedlich gedeutet wird und von der Inklusion des Genozids in türkische Schullehrpläne und -bücher bis zur Umsetzung von Präsident W. Wilsons Schiedsspruch über die künftigen Staatsgrenzen Armeniens (22. November 1920) reicht. Doch vollzieht sich gerade bei der Vertretung rechtlicher und politischer Interessen ein Paradigmenwechsel, denn Armenien erhebt zunehmend den Anspruch, Sachwalterin "gesamtarmenischer" Interessen zu sein (s.u.).
Doppelte Opfer
Das Bedürfnis der armenischen Diaspora, erinnerungspolitisch unabhängig von Armenien zu bleiben, stützt sich aber auch auf negative Erfahrungen aus der Sowjetzeit. Hierfür ist ein Blick in die armenische Geschichte des 20. Jahrhunderts hilfreich. Anfangs hatte sich in der armenischen Intelligenzija die Ansicht durchgesetzt, dass – nach eintausend Jahren der Vertreibung, Auswanderung und Diasporaexistenz – eine Rückkehr bzw. Rückführung der Diaspora-Armenier in ihre Heimat und deren Aufbau die einzige Garantie für nationales Überleben darstellen. Der traditionelle armenische Neujahrs-Trinkspruch "Nächstes Jahr am Ararat!" entspricht dem jüdischen Abschluss der Pessach-Seder-Feier "nächstes Jahr in Jerusalem!". Dieser, der jüdischen "Alija" vergleichbaren Heimkehr-Bewegung, setzten der osmanische Genozid im Ersten Weltkrieg, die nachfolgenden türkischen Invasionen im Südkaukasus (1918, 1920) und die Entwicklung unter sowjetischer Herrschaft ein jähes Ende. Armenien verlor nicht nur seine westlichen Siedlungsgebiete im osmanisch-türkischen Herrschaftsgebiet, sondern musste auch die Abtretung ostarmenischer Siedlungsräume an die für Moskau wichtigeren Nachbarn Georgien (Dschawachk/Dschawacheti, 2.589 qkm) und vor allem Aserbaidschan (Nachitschewan und Berg-Karabach, 17.500 qkm) hinnehmen. Die Bezirke Kars, Ardahan und Surmalu, die seit 1878 zum Russischen Reich und 1918-20 zumindest nominell zur ersten Republik Armenien gehörten, trat Sowjetrussland mit dem Vertrag von Moskau 1921 an die Türkei ab.
Armenien als Zuflucht armenischer Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich
Schätzungsweise 300.000 bis 500.000 Armenier flüchteten ab 1915 aus den grenznahen osmanischen Provinzen Wan und Erzurum sowie aus den zeitweilig türkisch besetzten Gebieten des Südkaukasus in die Araratebene, wo sie sich Schutz beim dortigen Katholikat (Etschmiadsin) erhofften, oder in den Bezirk Surmalu, nach Alexandropol (heute Gjumri) und Achalzcha (georg. Achalziche, heute Georgien). Weitere 30.000 armenische Flüchtlinge aus den osmanisch eroberten Gebieten im Südkaukasus befanden sich in der georgischen Hauptstadt Tiflis. Vor diesem Hintergrund war zu Beginn der Sowjetzeit fast jeder zweite Einwohner der Republik Armenien ein obdachloser Flüchtling, die meisten davon aus dem Osmanischen Reich. Dieser Umstand widerlegt die in der Diaspora bis heute verbreitete Auffassung, wonach wiederum nur sie legitimiert sei, das Erbe der westarmenischen Völkermord-Überlebenden anzutreten bzw. zu vertreten.
Aber diese selektive Wahrnehmung stützt sich vermutlich auf den Umstand, dass sich Sowjetarmenien nicht als "Flüchtlingsrepublik" begreifen wollte und die in den Südkaukasus geflüchteten osmanischen Armenier dort während der Sowjetherrschaft erneut schweren Verfolgungen ausgesetzt wurden. Sie fielen nicht nur während der so genannten "Großen Säuberung" (1936-39) einem weiteren Elitozid – also der gezielten und systematischen Ermordung prominenter und einflussreicher Persönlichkeiten - überproportional häufig zum Opfer, sondern 1944 und 1947 auch Deportationen. Einzelschicksale verdeutlichen dies:
Einzelschicksale westarmenischer Intellektueller in Sowjetarmenien
Der aus der westarmenischen Stadt Wan gebürtige Erste Parteisekretär der KP Sowjetarmeniens, Arassi Chandschjan (1901-1936), starb während eines Verhörs in der georgischen Hauptstadt Tiflis, angeblich durch Selbstmord; Chandschjan hatte sich vergeblich für den Wiederanschluss Karabachs und Nachitschewans an Sowjetarmenien eingesetzt.Die aus Konstantinopel-Skutari stammende Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Sapel Jessajan (1878-1941?) war die einzige Frau, die auf der jungtürkischen Verhaftungsliste armenischer Prominenter in der osmanischen Hauptstadt stand. Sie konnte zwar ihrer damaligen Festnahme und Vernichtung durch rechtzeitige Flucht ins Ausland entkommen, entging aber nicht einem gewaltsamen Tod. Nach ihrer endgültigen Übersiedlung nach Sowjetarmenien 1934 wurde sie 1937 als ‚Volksfeindin’ verurteilt, nachdem sie sich für ihre verfolgten Kollegen eingesetzt hatte; das 1939 verhängte Urteil zur Erschießung wurde zwar zu zehnjähriger Verbannung abgewandelt, doch die Spuren der Autorin verlieren sich um diese Zeit; ihr letzter Brief stammte aus einem Gefängnis in Baku. Ob sie dort ermordet oder in westsibirischer Verbannung in einem Fluss ertränkt wurde, bleibt ungeklärt.
Der aus Kars gebürtige Dichter Jerische Tscharenz (1897-1936) nimmt innerhalb der armenischen Lyrik des 20. Jahrhunderts einen ähnlich hohen Stellenwert ein wie Wladimir Majakowski in der russischen Dichtung. Wortgewaltig und anfangs ein glühender Verfechter des Internationalismus, wurde Tscharenz dennoch wegen ‚konterrevolutionärer und nationalistischer Aktivitäten’ verurteilt und starb im Jerewaner Gefängnis des sowjetischen Inlandsgeheimdienstes NKWD.
Der Nationalismus-Vorwurf betraf besonders Westarmenier, die in mehr oder weniger stark fiktionalisierten Werken ihre Kindheits- und Jugenderinnerungen verarbeiteten, wie der aus der Provinzhauptstadt Mezreh (armenisch: Charberd; heute türk. Elazığ) stammende Wahan Totowenz (1889-1938) in seinem populären autobiografischen Roman "Das Leben an der alten Römerstraße" (1930). Totowenz war bereits 1922 nach Sowjetarmenien übersiedelt, wo er intensiv publizistisch tätig war, jedoch ohne "proletarische Inhalte". Als er sich weigerte, "klassenbewusste" Werke zu liefern, wurde er verhaftet und nach Sibirien verbannt, wo sich auch seine Spuren verlieren.
Sein aus Wan stammender Landsmann Gurgen Mahari (1903-1969) überlebte zwar gleich zwei fast unmittelbar aufeinander folgende Verbannungen (Wologda 1937-47; 1948-55), doch sein umstrittener autobiografischer Roman "Brennende Obstgärten" (1966) wurde drei Jahre nach seinem Erscheinen in der so genannten "Stagnationsära" unter Breschnjew verboten, weil Maharis Charaktere zu menschlich angelegt waren und in keine der akzeptierten Opfer-Täter-Schablonen passten. Die Publikation fiel in die Jahre der Errichtung der Gedenkstätte auf der "Schwalbenburg"; die Gesellschaft Sowjetarmeniens hatte sich gerade erst von dem ihr jahrzehntelang auferlegten Schweigen über den Genozid befreit, war patriotisch aufgewühlt, aber noch unfähig zu einer differenzierten Geschichtsbetrachtung ohne stereotype "türkische Schurken" und "armenische Opfer". In Jerewan wurde der Roman nach lautstarken Protesten prominenter Autoren öffentlich verbrannt und aus dem Buchhandel gezogen. Der schwerkranke Mahari starb, bevor er sein Werk ‚politisch korrekt’ umarbeiten konnte. Seine Witwe und Leidensgefährtin, die litauische Schriftstellerin Antanina Povilaitytė, schilderte die Reaktionen auf den Roman ihres Mannes:
"Man warf Steine und Abfall auf unseren Balkon. Der Briefkasten war voller anonymer Briefe: ‚Verdammter Türke!‘, ‚Wir werden dich dennoch töten!‘ Gurgen wachte mitten in der Nacht auf und schrie: ‚Ich halte das nicht länger aus!’ Mahari wollte sich aus dem Fenster stürzen. Er ging entsetzlich gekränkt aus dieser Welt und sagte auf seinem Sterbebett: ‚Endlich werde ich mich ausruhen!‘" Der armenische Literaturhistoriker Marc Nichanian weist allerdings darauf hin, dass die Reaktion der armenischen Diaspora auf "Brennende Obstgärten" nicht minder heftig und ablehnend ausfiel. Erst 2007 erschien die englische Übersetzung.
Repatriierung? Deportation!
Der sowjetarmenische Umgang mit Überlebenden des Genozids verlief nicht nur bei intellektuellen Westarmeniern ambivalent: Einerseits wollte man durchaus ihre Zuwanderung fördern, andererseits misstraute ihnen nicht nur die Parteiführung zutiefst. Das Projekt der Ansiedlung von Überlebenden des Genozids in Sowjetarmenien stammt vom ersten Hohen Flüchtlingskommissar des Völkerbundes, dem norwegischen Polarforscher Fridtjof Nansen. Da es ihm nicht gelang, eine internationale Finanzierung sicher zu stellen, blieb die Zahl der bis 1937 nach Sowjetarmenien Übergesiedelten mit 44.000 relativ gering; die meisten stammten aus Griechenland (das mit der Aufnahme von mehr als einer Million aus Kleinasien zwangsweise Ausgesiedelten bereits hoffnungslos überfordert war), dem Irak (1921-22) sowie aus Istanbul. Infolge der stalinistischen Säuberungen und Repressionen sank die Zuwanderung ab 1936 drastisch, denn die Ermordung namhafter sowjetarmenischer Intellektueller und die Repressionen gegen die armenisch-apostolische Kirche schreckten zuzugswillige Auslandsarmenier ab.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg kam die sowjetische Zentralregierung dem Wunsch der Armenier nach Fortsetzung des Zuzuges nach, diesmal offenbar unter dem Eindruck der hohen Menschenverluste, zu denen der Weltkrieg unter der arbeitsfähigen männlichen Bevölkerung Sowjetarmeniens geführt hatte: Von den 450.000 sowjetarmenischen Soldaten, die an Kampfhandlungen beteiligt waren, waren 175.000 gefallen, von insgesamt 600.000 ethnisch armenischen Soldaten aus der gesamten Sowjetunion jeder zweite. So kam es 1946-49 zu einer großen Repatriierungswelle, bei der ca. 100.000 Auslandsarmenier vor allem vom Balkan (Rumänien, Bulgarien, Griechenland), Staaten des Nahen und Mittleren Ostens (Syrien, Libanon, Ägypten, Iran), aber auch aus Frankreich und den USA einwanderten. Die Gesamtzahl armenischer Einwanderer nach Sowjetarmenien zwischen 1921 und 1962 wird mit 220.000 angegeben, die der 1962-1973 Zugewanderten mit 26.140.
Repatriierungen
Fast gleichzeitig stieg allerdings der Zuzug von Armeniern aus anderen Sowjetrepubliken: Schon zu Beginn der 1970er Jahre übertraf ihre Zahl mit 276.100 die Gesamtzahl der aus westlichen Staaten eingereisten "Repatrianten". Die Gesamtzahl aller "Repatrianten" zwischen 1921 und 1973 betrug ca. 522.240. Dieser Zuwachs machte Armenien zur ethnisch homogensten Republik im vormaligen sowjetischen Machtbereich, die mit einem Anteil der Titularnation von derzeit 98,1% (Zensus von 2011) auch im internationalen Vergleich einen seltenen Fall ethnischer Homogenität darstellt. Nach dem 2. Weltkrieg erlaubte die sowjetische Zentralregierung aus politischen und wirtschaftlichen Nützlichkeitserwägungen die "Repatriierung" von Auslandsarmeniern, obwohl sie nicht zu Unrecht befürchtete, dass eine starke Zuwanderung angesichts der chronischen Knappheit von Wohnraum, Nahrungsmitteln, Kleidung und anderen lebensnotwendigen Gütern zu erheblichen Versorgungs- und Integrationsschwierigkeiten führen könnte. Andererseits waren die Erwartungen vieler Zuwanderer unrealistisch: Sie hofften, in Sowjetarmenien eine ideale, zumindest aber bessere und gerechtere Gesellschaft als in ihren bisherigen Gaststaaten vorzufinden. Stattdessen stießen sie auf Korruption, Vetternwirtschaft und Klientelismus, auf Schlamperei und niedrige Arbeitsmoral. Auch die hohen Scheidungsraten, Promiskuität und versteckte Prostitution stießen die weitaus sittenstrengeren, patriarchalisch geprägten Auslandsarmenier ab.
Obwohl die sowjetarmenische Regierung die Diasporaführer aufgefordert hatte, nur die Arbeiterklasse zur Repatriierung nach Armenien zu ermutigen, weil man diese wirtschaftlich am dringendsten brauchte, handelte es sich im Unterschied zur Vorkriegseinwanderung nicht überwiegend um arme oder verarmte Menschen; die meisten besaßen einen urbanen Hintergrund. Viele Immigranten waren qualifizierte Handwerker, Kaufleute, Ärzte und Wissenschaftler, die bereits in ihren Herkunftsgesellschaften beruflich erfolgreich gewesen waren. In Armenien fanden sie sich in schwierigen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Verhältnissen wieder. Behörden und politische Entscheidungsträger misstrauten ihnen und hielten sie für Nationalisten. Ein nicht unerheblicher Teil der "Repatrianten" wurde zu Volksfeinden erklärt und 1947-49 nach Sibirien zwangsumgesiedelt. In der Nacht vom 13./14. Juni 1949 erfolgte die Deportation von 13.200 vermeintlichen Daschnaken (nationalarmenischen Revolutionären) und "ehemaligen türkischen Bürgern" aus dem Südkaukasus in den Altai sowie in die westsibirische Stadt Tomsk.
Die Daschnaken-Bewegung
Die nicht-marxistische, jedoch sozialistische Partei Daschnakzutjun ("Föderation") wurde 1890 als letzte der drei armenischen Traditionsparteien gegründet, typischerweise außerhalb des armenischen Siedlungsraums in der damals überwiegend von Armeniern bewohnten georgischen Hauptstadt Tiflis. Im Unterschied zu ihrer marxistischen Konkurrentin Hntschak ("Glocke") erstrebte sie keine Unabhängigkeit von osmanischer und russischer Fremdherrschaft, sondern beschränkte sich innerhalb des Osmanischen und Russischen Reiches auf Reformen und Verwaltungsautonomie, die sie zeitweilig allerdings auch gewaltsam bzw. mit Attentaten durchzusetzen versuchte. Ein Bündnis mit den seit 1908 im Osmanischen Reich regierenden jungtürkischen Nationalisten endete im Ersten Weltkrieg in der brutalen Verfolgung der Daschnaken, wie auch der übrigen politisch aktiven Armenier anderer Parteien. In der kurzlebigen ersten Republik Armenien (Mai 1918-Dezember 1920) regierten die Daschnaken als einzige Partei und wurden mit Beginn der Sowjetherrschaft verboten wie verfolgt. In der armenischen Diaspora ist die Daschnakzutjun stets die einflussreichste Partei geblieben.
Ein 1903 in Bursa geborener Überlebender des osmanischen Genozids, der 1947 nach Sowjetarmenien einwanderte, berichtete 1998 über die Schrecken der neuerlichen Verfolgung nach dem Zweiten Weltkrieg:
"Mein Traum war es, ein Stück Land zu erlangen, um mein eigenes Haus zu bauen und mich in Jerewan niederzulassen. Doch mein Traum erfüllte sich nicht, denn grundlos wurde ich 1949 festgenommen. Diejenigen, die wie ich aus Ägypten eingereist waren, hatten viel zu erleiden, denn Ägypten war britische Kolonie gewesen. Wir konnten Englisch. Wir pflegten zum 'Kamk'-Klub [einem Klub der Partei Daschnakzutjun; TH] zu gehen und Fußball zu spielen. Wir waren all dieser Dinge schuldig, waren uns aber keiner Schuld bewusst. Sie nahmen uns fest und steckten uns in die Keller des Gebäudes der Staatssicherheit. Die Menschen waren dort sehr beengt. Es gab keinen Platz zum Schlafen; alle verbrachten die Nacht im Stehen.
Satenik Mchitarjan war meine Richterin, zusammen mit zwei anderen Magistratsangehörigen. Ich war darüber erstaunt, dass sie uns in zwei bis drei Minuten verurteilen und in die Tiefen Sibiriens schicken konnten. (…) Jahrelang wurde ich gefoltert und gequält. Schließlich kehrte ich 1956 zurück, Chruschtschow sei Dank. Meine Frau wurde ebenfalls gefoltert, zusammen mit unseren drei Kindern. Sie nannten sie eine Daschnaken-Ehefrau und gaben ihr keine Arbeit. Nach meiner Freilassung und Rückkehr nach Jerewan bekam ich kein Haus zugeteilt. Man hat mich betrogen. Und so verging mein Leben. Trotz all dieser Schwierigkeiten ist es aber tröstlich zu wissen, dass meine drei Kinder eine solide Erziehung erhielten."
Kein Richter, kein Zensor Sowjetarmeniens musste sich je für seine oder ihre Willkürurteile verantworten. Kein Opfer der Willkürjustitz wurde je entschädigt, nicht einmal jene, die das nationalistische Regime der Jungtürken überlebt hatten. In der postsowjetischen Erinnerungspraxis Armeniens fehlt jegliche Aufarbeitung der doppelten Viktimisierung von Genozid-Überlebenden unter sowjetarmenischer Herrschaft. Das Versagen Armeniens gegenüber seiner nahöstlichen Diaspora setzte sich auch nach der Selbstauflösung der UdSSR fort, gegenwärtig vor allem gegenüber der armenischen Minderheit in und aus Syrien – direkten Nachkommen der Überlebenden von den nordostsyrischen und nordirakischen killing fields der Jahre 1915 und 1916.
Die Erinnerungs- und Geschichtspolitik des seit 1991 unabhängigen Armenien fügte sich schon bald der Realpolitik: Zwei der vier unmittelbaren Nachbarn – Aserbaidschan und die Türkei – hatten 1989 bzw. 1993 eine bis heute bestehende Blockade der Landwege sowie ein Energieembargo eingeführt. Die seit 1990 regierenden Nationaldemokraten des antikommunistischen Sammelbeckens HHSch (Hajoz Hamasgajin Scharschum; Gesamtnationale Bewegung der Armenier) schraubten daher das "nationale Programm" auf die Erlangung der Unabhängigkeit Armeniens sowie die Stärkung der jungen Republik herab. Ältere Forderungen, die bei dem Machtkampf mit der kommunistischen Elite aufgegriffen worden waren, ließ man alsbald fallen. Zu diesen Forderungen hatten der Haj Dat ("Armenisches Gericht") gehört, d.h. die juristische Aufarbeitung des osmanischen Völkermords, sowie die Aufkündigung des Karser Vertrages (1921), mit dem Sowjetarmenien den sowjetrussisch-türkischen Vertrag von Moskau (1920) und die damit verbundenen Gebietsabtretungen zuungunsten Armeniens anerkannt hatte; eine Kommission, die die Aufhebung des Vertrags vorbereiten sollte, wurde aufgelöst.
Im vorletzten Punkt der Unabhängigkeitserklärung Armeniens vom 23. August 1990 hieß es noch: "Die Republik Armenien unterstützt die Aufgabe, eine internationale Anerkennung des Genozids von 1915 in der osmanischen Türkei sowie in Westarmenien zu erlangen." Doch schon drei Monate später, auf dem 2. Parteitag der HHSch, erklärte der spätere erste Präsident des postsowjetischen Armenien, Lewon Ter-Petrosjan, am 25. November 1990 die internationale Anerkennung des Genozids zu einer nachrangigen Aufgabe: "(...) die Armenische Frage wird nur auf die Tagesordnung der Staatspolitik gesetzt werden, wenn der armenische Staat in der Lage sein wird, diese Aufgabe aus eigenen Kräften zu lösen."
Bis 1998 bewegte sich die Innen- wie Außenpolitik Armeniens entlang dieser Linie. Aschot Blejan strich als Amtierender Erziehungsminister im Februar 1995 den Völkermord aus den Schullehrplänen, um diesen "deprimierenden Themen" ein Ende zu setzen. Der damalige Premierminister Hrant Bagratjan erklärte im März 1996 auf einer Pressekonferenz, dass die Türken 1915 möglicherweise Gründe für ihr Vorgehen gegen das armenische Volk gehabt haben könnten und löste damit Empörung unter der inländischen Opposition aus. Wie schon die Kommunisten 74 Jahre zuvor ließ auch Präsident Ter-Petrosjan Ende 1994 die Partei Daschnakzutjun verbieten, diesmal unter dem fadenscheinigen Vorwand angeblichen Drogenhandels, der angeblichen Ermordung etlicher unter bis heute ungeklärten Umständen getöteter Prominenter sowie der Bildung von Geheimorganisationen; 31 Mitglieder der Partei, darunter ihr Vorsitzender sowie ein ehemaliger Abgeordneter, wurden angeklagt und Ende 1997 zum Tode bzw. zu Haftstrafen von zwei bis sieben Jahren verurteilt. Dutzende weiterer Mitglieder wurden ebenfalls festgenommen und in abgetrennten Verfahren wegen Geheimbündelei verurteilt.
Der Karabach-Konflikt – Diplomatische Verwicklungen mit der Türkei
Seine Rückgriffe auf totalitäre Regierungspraktiken halfen Ter-Petrosjan nicht. 1997 stürzte er über sein zu starkes Nachgeben gegenüber der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in der Karabachfrage und sah sich zum Rücktritt gezwungen, nachdem sich Schlüsselfiguren der armenischen Politik wie der einflussreiche Verteidigungsminister Wasgen Sargsjan von seiner Politik distanzierten. Die beiden nachfolgenden Präsidenten Robert Kotscharjan (Amtszeit 1998-2008) und Serge Sargsjan (seit 2008) stammen aus Berg-Karabach, was die ohnehin enge Verklammerung dieses Konflikts mit dem osmanischen Genozid beförderte. Denn viele Armenier nicht nur in Armenien, sondern auch in der Diaspora sehen die Massaker und Vertreibungen ihrer Landsleute im östlichen Südkaukasus einschließlich Karabachs nicht als Folge des Zusammenbruchs russischer Imperien im Verlauf des 20. Jahrhunderts, sondern als eine Fortsetzung des Vernichtungswillens ihrer türkischen Nachbarn. Dieser Wahrnehmung entspricht auf aserbaidschanischer Seite die von Präsident Haydar Alijew aufgestellte pan-türkische Doktrin von "einer (türkischen) Nation in zwei Staaten" (Aserbaidschan und Türkei).
Präsident Kotscharjan hob zwar das Verbot der Daschnakzutjun auf, setzte aber erinnerungs- und geschichtspolitisch kaum neue Akzente. Serge Sargsjan versuchte schon zu Beginn seiner Amtsübernahme 2008 einen Neuanfang im festgefahrenen türkisch-armenischen Verhältnis, indem er 2008 seinen türkischen Amtskollegen Abdullah Gül zu einem Fußballspiel nach Jerewan einlud und einer Gegeneinladung in die Türkei folgte. Wie seine Vorgänger hoffte Sargsjan, den türkischen Widerstand gegen die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu überwinden, denn obwohl Armenien zu keinem Zeitpunkt die Aufnahme diplomatischer Beziehungen von der türkischen Anerkennung des osmanischen Genozids abhängig gemacht hatte, verweigert die Türkei bis heute diplomatische Beziehungen mit Armenien aus Rücksicht auf Aserbaidschan und erhebt die Lösung des Karabach-Konflikts nach aserbaidschanischen Vorgaben zur Voraussetzung für armenisch-türkische Beziehungen. Der damalige türkische Regierungschef Erdoğan hatte bereits 2009 den Annäherungsprozess scheitern lassen, als er unmittelbar nach Unterzeichnung der "Zürcher Protokolle" bei einem Staatsbesuch in Baku Präsident H. Alijew versprach, die Türkei werde die Protokolle nur ratifizieren, falls sich die armenischen Streitkräfte aus den besetzten Gebieten Aserbaidschans zurückzögen.
Die am 10. Oktober 2009 unterzeichneten bilateralen "Zürcher Protokolle" scheiterten aber auch am erinnerungspolitischen Widerstand sowohl in der weltweiten Diaspora, als auch in Armenien selbst. Hauptkritikpunkt war der in die Protokolle aufgenommene türkische Vorschlag einer Expertenkommission zur Prüfung des Genozidvorwurfs Armeniens. Nicht nur Armenier, sondern auch die größte internationale Berufsorganisation von Genozidforschern, die International Association of Genocide Scholars, sahen dies angesichts der offiziellen türkischen Weigerung, den Völkermord anzuerkennen, als unzumutbare Bedingung an. Weder der türkische, noch der armenische Gesetzgeber ratifizierten folglich die Protokolle. Am 16. Februar 2015 setzte Präsident Sargsjan diese von der Tagesordnung des Parlaments ab und begründete diesen Schritt in seinem Schreiben an den Parlamentssprecher mit dem "fehlenden politischen Willen [in Ankara zur Ratifizierung der Protokolle], Entstellungen am Inhalt und Geist der Protokolle durch die türkischen Behörden sowie fortgesetzten Versuchen, Vorbedingungen zu stellen".
Präsident Sargsjan wurde Vorsitzender einer 2011 gebildeten Staatskommission zur "Koordinierung der Ereignisse, die dem 100. Jahresgedenken an den Armenischen Genozid gewidmet sind". Dieses Gremium hat am 29. Januar 2015 auf der "Schwalbenburg" am Genozidmahnmal eine gesamtarmenische Erklärung veröffentlicht, die unter anderem Armeniens Absicht ankündigt, auf gerichtlichem Weg die individuellen, kommunalen sowie gesamtarmenischen Rechte und legitimen Interessen in der Türkei zu erstreiten. Daraus spricht, im Vergleich mit früheren Jahrzehnten, ein spürbar gestiegenes politisches Selbstbewusstsein sowie eine erfolgreiche internationale Vernetzung, die sich ebenfalls in internationalen Initiativen zur Genozidprävention ausdrücken: am 23. April 2015 tagte in Jerewan erstmals das Globale Forum "Gegen das Verbrechen des Genozids", das in seiner Gründungserklärung – armenischen Bedürfnissen entsprechend – betont, dass "Leugnung [von Genozid], insbesondere auf staatlicher Ebene, nicht hinnehmbar ist (...)" ; Wissenschaftler_innen aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Israel, der Türkei, Armenien und anderen Staaten beteiligten sich daran.
Sollte es dem armenischen Außenministerium gelingen, das Globale Forum zu einer regelmäßig tagenden Einrichtung mit festem Arbeitsprogramm zu machen, könnte es zu einer bedeutenden Begegnungsinstanz mit Wissenschaftler_innen aus islamischen Staaten werden.
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Dr. Tessa Hofmann ist Soziologin und ehemalige Mitarbeiterin des Osteuropa Instituts der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migration und Minderheiten in Südosteuropa und dem Südkaukasus.
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