"Ich bin befremdet über die bevorstehende Abschaltung dieser einzigartigen deutschen Radiostation."
David Bowie, Musiker, in einem Interview mit Jugendradio DT64 am 16. Oktober 1991
Ein Sender für die Jugend
Anlässlich des Deutschlandtreffens 1964 richtet der Rundfunk der DDR vom 15. bis 18. Mai das "Sonderstudio DT64" ein. Das Serviceprogramm für die jugendlichen Teilnehmer sendet 99 Stunden nonstop ein Musik- und Informationsprogramm. Am 29. Juni 1964 wird das "Jugendstudio DT64" zu einem regelmäßigen Programmteil des Berliner Rundfunks. DT64 ist somit eines der ersten Radioprogramme für Jugendliche in Europa.
1986 fusionieren "Hallo - Das Jugendjournal" und "Jugendstudio DT64" zu "Jugendradio DT64" mit einer täglichen Sendezeit von 13.00 bis 24.00 Uhr. Die Sendung "Auf-Takt" am 7. März markiert den Sendestart von Jugendradio DT64 als eigenständiger Sender.
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erfreut sich Jugendradio DT64 stetig steigender Einschaltquoten. Hörten 1985 noch 2 Prozent der Bevölkerung der DDR über 15 Jahre DT64, so sind es im Januar 1989 bereits 11 Prozent.
Galt 1964 ein Programm mit Betonung auf Rockmusik noch als Novum, so ist in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre die Auseinandersetzungen um die Rock- und Popmusik in der DDR bereits ausgetragen, diese Musik gilt inzwischen als salonfähig. Dennoch herrscht auf dem DDR-Schallplattenmarkt ein Defizit an westlicher Rockmusik. Das sucht DT64 zu mindern, indem regelmäßig Musik zum Mitschneiden gesendet wird. Die Sendung "Parocktikum" mit Moderator Lutz Schramm wird eingerichtet, um einer neuen, jungen Musikergeneration einen Platz im Programm einzuräumen, die sich musikalisch aus Punk und New Wave heraus definiert und versucht, sich den Strukturen der staatlichen Kulturorgane zu entziehen.
Sämtliche Beiträge und Moderationsmanuskripte mussten der Chefredaktion vorgelegt und von dieser bestätigt werden. Mitarbeiter, die sich von den abgesprochenen Manuskripten lösten, mussten mit zeitweiligem Moderationsverbot und Versetzung rechnen. Der Fall von Silke Hasselmann, die am 19. November 1988 unter dem Eindruck des Verbots der sowjetischen Zeitschrift "Sputnik" in der DDR ihre Sendung mit den Worten "Ein Sputnik ist heute abgestürzt" und dem Titel "Aufruhr in den Augen" der Rockband Pankow eröffnete und daraufhin zur Rundfunksendung "Stimme der DDR" versetzt wurde, steht heute beispielhaft für die Kontrollmechanismen im DDR-Rundfunk. Neben den regulären Musikspezialsendungen werden im Programm von DT64 oft auch "Mammut-Musiksendungen" veranstaltet und Konzerte übertragen. Zum Beispiel "Rock 84" am 29. Dezember 1984 von 19.00 bis 4.00 Uhr, 1988 "Artists Against Apartheid" aus London und die großen Konzerte aus Berlin-Weißensee mit Marillion und Bruce Springsteen. Die Bedeutung des Mitschneidens wird auch von den Soziologen im Rundfunk der DDR erkannt: "Das Mitschneiden ist eine ganz spezielle Form der Radionutzung. [...] Für rund 1/4 der 12- bis 30-Jährigen ist der Wunsch, etwas mitzuschneiden, ein häufiger Grund, um Radio zu hören."
Mit der Öffnung der Grenzen der DDR ändern sich die äußeren Koordinaten für das DT64-Programm. Ab Herbst 1989 stehen den Jugendlichen die westlichen Tonträger zum Kauf zur Verfügung, auf den Mitschnittservice von DT64 sind sie nun nicht mehr angewiesen. Die Sendung "Duett - Musik für den Recorder" wird folgerichtig mit der Programmreform zum 1. April 1990 eingestellt. Außerdem fällt die sogenannte 60/40-Regel weg. Danach durften höchstens 40 Prozent der gesendeten Musik im "nichtsozialistischen Ausland" produziert worden sein, - die restlichen 60 Prozent sollten hauptsächlich Produktionen des Rundfunks und des staatlichen Labels Amiga sein. Der Anteil ostdeutscher Titel im Musikprogramm nimmt nun immer weiter ab. Hervorzuheben ist allerdings das Engagement des Senders für eine neue, junge Musikergeneration: Songs von Bobo In White Wooden Houses, Die Art, Herbst in Peking und anderen bilden im Tagesmusikprogramm des Jahres 1990 einen festen Bestandteil.
Neue publizistische Freiheit
Über 100.000 Bürger demonstrieren am 23.10.89 in Leipzig für ihre Forderung nach spürbaren Veränderungen der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR. (Bundesarchiv, Bild 183-1989-1023-022 / Fotograf: Friedrich Gahlbeck) Lizenz: cc by-sa/1.0/deed.de
Über 100.000 Bürger demonstrieren am 23.10.89 in Leipzig für ihre Forderung nach spürbaren Veränderungen der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR. (Bundesarchiv, Bild 183-1989-1023-022 / Fotograf: Friedrich Gahlbeck) Lizenz: cc by-sa/1.0/deed.de
Im Mai 1989 verkündet der Wahlleiter Egon Krenz das angebliche Wahlergebnis von 98,85 Prozent Ja-Stimmen für die "Kandidaten der Nationalen Front" bei den Kommunalwahlen. Zweifel daran finden in den Medien der DDR keinen Platz. Im Juni wird in Peking eine friedliche Studentendemonstration gewaltsam niedergeschlagen. Presse und Rundfunk der DDR verkünden die Solidarität mit der chinesischen Parteiführung. Im August strömen hunderte, später tausende, DDR-Bürger in die westdeutschen Vertretungen in Prag, Budapest und Ost-Berlin. Tausende reisen über die ungarisch-österreichische Grenze in die Bundesrepublik Deutschland ein. In den Medien der DDR wird dies ebenso wenig thematisiert wie die ersten Montagsdemonstrationen in Leipzig. Während der Feiern zum 40. Gründungstag der DDR werden hunderte Demonstranten festgenommen. Die Medien der DDR schweigen dazu.
Am 16. Oktober 1989 sind erstmals Journalisten von DT64 bei einer Montagsdemonstration und in der Nikolaikirche in Leipzig zugegen, wo sich Leipziger Bürger zum Friedensgebet vor den Demonstrationen versammeln. Am 17. Oktober strahlt DT64 eine Reportage über die Montagsdemonstrationen aus, der erste Bericht überhaupt zu diesem Thema im zentralen DDR-Rundfunk. Wenig später tritt Erich Honecker zurück. Die Redaktion von Jugendradio DT64 zeigt nun offen ihre Sympathie mit den Regimekritikern. Die Gespräche am Runden Tisch zählen im Wendeherbst 1989 zu den Dauerthemen auf DT64. Auch die außerplanmäßige Versammlung der Sektion Rockmusik des staatlichen Komitees für Unterhaltungskunst wird thematisiert. In einer Resolution der Sektion Rockmusik wird der öffentliche Dialog über die Probleme in der DDR gefordert. Am 18. Oktober ist Bärbel Bohley vom Neuen Forum zu Gast bei DT64. Am 8. November wird die Lesung von Walter Jankas Buch "Schwierigkeiten mit der Wahrheit" im Deutschen Theater in Berlin mit dem Schauspieler Ulrich Mühe ungekürzt übertragen. Hans Modrow, kurzzeitiger Ministerpräsident der DDR, stellt sich am 23. November den unbequemen Fragen der Moderatoren in der "DT64-Gaststube".
Die erste deutsch-deutsche Radio-Gemeinschaftssendung bestreiten das SFB2-Morgenecho und der DT64-Morgenrock am 20. November, Kooperationen mit dem WDR, mit Radio Bremen, Radio 100, Radio ffn und mit dem SDR folgen. Am 2. Dezember 1989 spielen Bettina Wegner, Wolf Biermann, Stephan Krawczyk und das Duo Pannach/Kunert erstmals wieder in der DDR. Die Veranstaltung im Berliner Haus der jungen Talente heißt "Verlorene Lieder, verlorene Zeiten" und wird von DT64 live übertragen.
Revolution Rock
Auf einer Belegschaftsversammlung am 8. November 1989 sprechen die Mitarbeiter von DT64 der Intendantin Marianne Hoebbel und der gesamten Leitung das Misstrauen aus. Damit ist DT64 der erste Sender im Rundfunk der DDR, der personelle Änderungen in leitenden Positionen vollzieht.
Nach dem Mauerfall folgt "eine Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten", wie Andreas Ulrich später formuliert, "das Programm wurde frech und kontrovers, dazu noch aufklärerisch, hilfreich und unterhaltsam".
Ungewisse Existenz
DT64 präsentiert sich fortan als Jugendkulturradio: Das Tagesprogramm ist in mehrere, der Tageszeit entsprechende Magazinsendungen gegliedert. Themenauswahl und Präsentation entsprechen der Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen. Der Anteil der Musik liegt bei 70, der Wortanteil bei 30 Prozent. Es wird nicht nur Wert gelegt auf die Unterhaltung des Hörers, sondern auch auf Informationen aus der Musikszene und auf die Anmoderation von Titeln. Die schwindenden Hörerzahlen am Abend werden ausgenutzt, um im Abendprogramm Schwerpunktsendungen anbieten zu können. Während das Programm am Tag bewusst durchhörbar gestaltet wird, sollen interessierte Hörer am Abend bestimmte Sendungen gezielt einschalten können. Dazu gehört auch die Idee vom "personality radio", in dem der Moderator nicht nur als Programmbegleiter fungiert, sondern sich selbst und seine Persönlichkeit in das Programm einbringt. Viele Sendungen auf DT64 werden gerade wegen bestimmter Moderatoren gehört, wie zum Beispiel die "Spätvorstellung" mit Marion Brasch oder das "Parocktikum" mit Lutz Schramm.
Gleichzeitig beginnt für die Redaktion von DT64 die Suche nach einem neuen Platz in der sich verändernden Radiolandschaft. Im Frühjahr 1990 legt Dietmar Ringel sein "Rationalisierungskonzept für den zukünftigen Rundfunk auf dem Gebiet der heutigen DDR" vor. Dieses sieht neben drei Länderrundfunkanstalten für Nordostdeutschland, Berlin-Brandenburg und Südostdeutschland die Einrichtung bzw. Beibehaltung zweier überregionaler Hörfunkprogramme mit Standort Berlin/Nalepastraße vor, ein Nachrichtenkanal und das Jugendradio.
Die Leitung von DT64 plant nun eine Zukunft im privaten Bereich - und zwar als erster Sender des Rundfunks der DDR. Kontakte gibt es vor allem zum niedersächsischen Privatfunkanbieter ffn.
Der Personalbestand des Rundfunks der DDR (Hörfunk und Fernsehen) beläuft sich zu Beginn des Jahres 1990 auf mehr als 14.000 Mitarbeiter. Von diesen sind für die fünf Programme des Hörfunks etwa 3.700 Angestellte in journalistischen, administrativen, künstlerischen oder Dienstleistungsfunktionen tätig. Für den Sendeablauf notwendig sind zusätzlich noch 1.000 Studio- und Sendetechniker, die nicht beim Rundfunk der DDR, sondern bei der Deutschen Post angestellt sind. Der Rundfunk der DDR gilt damit als personell überbesetzt. Die einzelnen Hörfunkprogramme werden von jeweils mehreren hundert Mitarbeitern gestaltet. Für DT64 sind 150 Mitarbeiter tätig. Nach Maßstäben, wie sie für den Rundfunk der DDR gelten, kann DT64 also als relativ schlanke Einheit betrachtet werden.
Personalabbau
Dennoch verringerte sich die Größe der DT64-Redaktion im Rahmen des Personalabbaus der Einrichtung nach Artikel 36 des Einigungsvertrages bis zum Januar 1991 auf 95 Mitarbeiter. Intendant Dietmar Ringel fürchtete, dass der Personalabbau auch Konsequenzen für das Programm haben wird: "DT64 könnte sicherlich effizienter arbeiten, aber mit unserer jetzigen Technik können wir mit dem halben Personal unser Niveau nicht halten."
Inzwischen werden auch Moderatoren aus Westdeutschland in das Team integriert, zum Beispiel die Nürnbergerin Marusha Gleiß, die seit November 1990 die samstägliche Sendung "Dance-Hall" moderiert. Die Deutsch-Griechin erlangte 1994 nationale Berühmtheit mit ihrer Techno-Version von "Somewhere over the Rainbow". Die "DT64 Dance-Hall" war eine der ersten Sendungen mit Techno-Musik im deutschen Radio überhaupt und legte den Grundstein für ihre Karriere als DJ, Moderatorin, Musikproduzentin und Schauspielerin. Lutz Bertram zeigt sich überzeugt, "daß der Personalabbau programminhaltlich keinen Schaden angerichtet hat".
Im August 1990 wird die Chefredakteurs-Position von Jugendradio DT64 ausgeschrieben, was gleichzeitig die Streichung der Stelle des Intendanten bedeutet. Am 17. August sprechen sich Redakteursrat und Belegschaft von DT64 gegen diese vom Generalintendanten Manfred Klein verfügte Ausschreibung aus: "Wir sehen in unserem Fall keinerlei Notwendigkeit für diese Ausschreibung und fürchten um den von der Belegschaft des Senders schon im November 1989 eingeleiteten Selbstreinigungsprozeß. Wir haben uns schon damals von zentralistischen Altlasten befreit und möchten daran erinnern, daß wir es waren, die sich als erste und bislang am konsequentesten von der Vergangenheit gelöst haben. [...] Unsere Leitung hat das von uns in sie damals wie heute gesetzte Vertrauen voll erfüllt, und es besteht also keinerlei Veranlassung, sie auszuwechseln."
Der Rias-Putsch
Mit einem unbefristeten Hungerstreik vor dem Gebäude des Ministerrates wird gegen die kurzfristige Abschaltung landesweiter Sendefrequenzen von Jugendradio DT64 protestiert. (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0908-015, Foto: Peer Grimm)
Mit einem unbefristeten Hungerstreik vor dem Gebäude des Ministerrates wird gegen die kurzfristige Abschaltung landesweiter Sendefrequenzen von Jugendradio DT64 protestiert. (© Bundesarchiv, Bild 183-1990-0908-015, Foto: Peer Grimm)
Am Freitag, dem 7. September 1990, Punkt 20.00 Uhr, strahlen zwölf von achtzehn DT64-Frequenzen plötzlich nicht mehr das Jugendradio aus, sondern das Kulturprogramm von Rias1. Die Mitarbeiter und auch die Hörer von DT64 haben erst kurz zuvor von der Frequenzumschaltung erfahren, das Programm ist nur noch in Berlin und Brandenburg zu empfangen. Noch in der Nacht zum Samstag formieren sich Demonstrationen und Mahnwachen im ganzen Gebiet der DDR. So blockierten zum Beispiel in Dresden etwa eintausend jugendliche Demonstranten die Ernst-Thälmann-Straße vor dem Kulturpalast. Unter dem Druck der Straße bekommt DT64 nach 24 Stunden seine Frequenzen am Samstagabend zurück - im gesamten Sendegebiet. So einfach die Fakten, so problematisch der medienpolitische Hintergrund. Seit Monaten schon hatte sich sowohl für den existenzgefährdeten Sender DT64 als auch für den Rias keine Lösung abgezeichnet. Durch den Mauerfall seiner Existenzberechtigung beraubt, sucht auch der "Rundfunk im Amerikanischen Sektor" nach neuen Aufgaben. Diese Aufgabe sehen Christoph Singelnstein, geschäftsführender Intendant des Rundfunks der DDR, und Rias-Intendant Helmut Drück in einem neuen nationalen Hörfunkprogramm für das Gebiet der DDR, in dem das Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands journalistisch begleitet werden soll, öffentlich-rechtlich organisiert und werbefrei. DT64 soll bei diesem medienpolitischen Schachzug die Rolle des Bauernopfers übernehmen. Als im Spätsommer 1990 klar wird, dass eine Privatisierung im überregionalen Rahmen nicht durchsetzbar sein würde, beschließt die DT64-Leitung: "Wir waren uns bereits in den letzten vier Wochen darüber einig, daß wir jetzt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gehen müssen. Um nicht ganz abgeschaltet zu werden, sind wir bereit, über eine Privatisierung für Berlin-Brandenburg zu verhandeln."
Also nutzen Drück und Singelnstein die Gelegenheit, das Programm von Rias1 zum überregionalen Kulturkanal zu machen, noch bevor diese Angelegenheit medienrechtlich geklärt werden kann. Geplant ist die Umschaltung für den 15. September, doch am 6. September (Donnerstag) lassen sich die Gerüchte nicht mehr zurückhalten. Schnell wird die Umschaltung auf Anweisung Singelnsteins auf Samstag früh um vier Uhr und dann auf Freitagabend 20 Uhr vorverlegt.
Weder der Medienausschuss der Volkskammer noch das Postministerium oder der Medienkontrollrat wurden im Vorfeld unterrichtet. Auch DT64-Chefredakteur Michael Schiewack und sein Stellvertreter Roland Schneider geben an, sie seien nicht informiert gewesen. Die DT64-Redakteure erfahren am Freitag gegen 14 Uhr von den Technikern, die mit den Vorbereitungen der Umschaltung begonnen hatten, dass der Sender zwölf seiner achtzehn Frequenzen verlieren soll. Die Nachricht geht sofort über den Äther, löst im gesamten Sendegebiet Verwirrung, Wut und Unsicherheit aus. Auch die Kollegen vom Rias sind völlig überrascht, vereinzelt gibt es Solidaritätsbekundungen.
Kurz vor 20 Uhr verliest Singelnstein auf DT64 eine Erklärung: "In einer geschichtlichen Situation, in der die beiden Teile Deutschlands zusammenwachsen, eröffnen sich auch neue Perspektiven für eine Zusammenarbeit der Rundfunkanstalten. Noch vor einem Jahr standen Radio DDR und Rias in unterschiedlichen politischen Lagern. Nachdem im Zuge der Perestroika in der Sowjetunion und in den Völkern Osteuropas - und natürlich auch das ganze deutsche Volk zu einer Selbstbestimmung finden, können sich die Medien der DDR demokratisch erneuern. So öffnet sich auch der Rundfunk der DDR den ehemals als gegnerisch empfundenen Journalisten von Rias Berlin, die uns ihre Hand reichen, um beim Aufbau eines demokratischen und pluralistischen Rundfunks zu helfen. Rias, dessen Programm ab sofort auf einigen Frequenzen von Jugendradio ausgestrahlt wird, baut mit Journalisten und Redakteuren von Radio DDR Arbeitsgruppen auf, die insbesondere die spezifischen Probleme der Bevölkerung auf dem Gebiet der DDR aufarbeiten. Gleichzeitig geht Jugendradio einer neuen Perspektive entgegen."
Kurz darauf führen Techniker des Rundfunks der DDR die Frequenzumschaltung in der Nalepastraße durch. Den Moderatoren bleibt kaum Zeit, sich von den Hörern zu verabschieden. Jugendradio DT64 ist nun nur noch in Berlin und Brandenburg zu hören, Rias 1 dagegen ist plötzlich mit einem flächendeckenden Sendenetz für das Gebiet der DDR ausgestattet. Nicht einmal das Medienministerium der DDR, zuständige Aufsichtsbehörde für den Rundfunk der DDR, wurde über die Umschaltungspläne informiert. Der so bei dem Frequenzcoup übergangene Medienminister Gottfried Müller ruft am Samstagvormittag unter anderem Singelnstein, Lutz Bertram von DT64, Vertreter von Redakteursrat, Personalrat und Hörfunkbeirat und den Medienexperten Konrad Weiß (Bündnis90) zu einer Krisensitzung zusammen. Jugendradio DT64, verkündet Müller auf einer eilig einberufenen Pressekonferenz, werde noch am Samstag seine Frequenzen zurückbekommen.
Für das Jugendradio bedeutet der Rias-Putsch vor allem eines: Medienpräsenz - nicht nur in Berlin, auch in der Tagesschau wird über die schwierige Lage des DDR-Jugendsenders berichtet. Die Pläne der ARD, die fünf neuen Länder den schon bestehenden (westdeutschen) öffentlich-rechtlichen Anstalten zuzuordnen, geraten ins Wanken. Trotzdem bleibt ein tiefes Misstrauensverhältnis zwischen der DT64-Redaktion und dem Intendanten Singelnstein.
Unklar bleibt die Rolle, die die Leitung von DT64 bei diesem Vorgang gespielt hat. Müller berichtet später, Singelnstein hätte "zusammen mit dem Rias und leider auch mit der Leitung des DT64-Senders die Umschaltung einer größeren Zahl von Frequenzen von DT64 auf Rias veranlaßt". In der Verhandlung am Samstagmorgen, in der es, so Müller, um eine schnelle und reibungslose Zurückschaltung der Frequenzen ging, sei es die Leitung von DT64 gewesen, "die sich am längsten dagegen wehrte, daß diese an den Rias gegebenen Frequenzen wieder zurückgeschaltet wurden". Müller vermutet hinter dieser Situation "Manipulationsversuche in Richtung Privatisierung."
Die "Einrichtung"
Am 3. Oktober 1990 tritt Artikel 36 des Einigungsvertrages in Kraft, der die Auflösung des zentralistischen Rundfunksystems und den Aufbau eines föderalen, dualen Systems vorsieht. Darin wird geregelt, dass der Rundfunk der DDR und der Deutsche Fernsehfunk bis 31. Dezember 1991 weitergeführt werden als "gemeinschaftliche staatsunabhängige, rechtsfähige Einrichtung" der fünf neuen Länder und Ostberlins. Von entscheidender Bedeutung ist Absatz 6, der vorschreibt, dass die Einrichtung bis spätestens 31. Dezember 1991 durch gemeinsamen Staatsvertrag der neuen Länder "aufzulösen oder in Anstalten des öffentlichen Rechts einzelner oder mehrerer Länder überzuführen" ist. Kommt ein solcher Staatsvertrag nicht zustande, so gilt die Einrichtung zum 1. Januar 1992 als aufgelöst.
Die Rundfunkhoheit wird am 3. Oktober 1990 mit dem Einigungsvertrag auf die Länder übertragen. Die DDR-weite UKW-Frequenzkette von DT64 wird gesplittet und geht in die Verantwortung der einzelnen Länder über, welche mit den Frequenzen jeweils unterschiedliche Pläne verfolgen. Länderübergreifende Frequenzketten sind zwar nicht ausdrücklich vorgesehen, wären per Kooperationsvertrag der Anstalten aber theoretisch nach wie vor möglich. Für DT64 heißt das, der Sender muss sich fortan um Sendefrequenzen in jedem der fünf neuen Länder einzeln bemühen.
Es ergeben sich zwei Perspektiven: Entweder die weitere Existenz von DT64 in einer oder mehreren der sich konstituierenden öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten oder die Fortführung der Privatisierungspläne. Zum Jahreswechsel 1990/91 verhandelt DT64 mit der Bertelsmann-Tochter UFA, mit dem Holtzbrinck-Verlag, mit Berliner Zeitungsverlagen und auch weiterhin mit Radio ffn. DT64 und auch der neue Rundfunkbeauftragte Mühlfenzl verweisen immer wieder auf die Zuständigkeit der Länder, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen oder per Vorabentscheidung der Ministerpräsidenten ein Herauslösen von DT64 aus der Einrichtung zu ermöglichen, um das Programm in private Trägerschaft überführen zu können. Das Problem, vor dem DT64 steht, ist, dass die Partner einer Betreibergesellschaft nur gebunden werden können, wenn sichergestellt werden kann, eine Sendelizenz und Frequenzen für das Programm zu erhalten. Umgekehrt ist eine Frequenzzuweisung aber nur mit einer starken Anbietergemeinschaft im Rücken wahrscheinlich. DT64-Chefredakteur Michael Schiewack sieht im September 1991 letztlich die Chancen für eine Privatisierung schwinden: "Die Länder beharren jetzt darauf, Landesmedienanstalten einzurichten und private Frequenzen auszuschreiben. Selbst wenn es gelänge, bis November diese Anstalten einzurichten, kann sich das alles immer noch ein halbes Jahr hinziehen, das heißt: Wir sind längst weg, bevor wir überhaupt eine Chance haben, uns zu bewerben."
Drei Monate vor dem Ende der Einrichtung erhalten die Mitarbeiter von DT64 ihre Kündigung zum 31. Dezember 1991. Die Redaktion des Senders zeigt sich gespalten: Ein Teil will im Falle des Weitersendens beim Sender bleiben, der andere Teil aufgrund der weiterhin unsicheren Situation die Redaktion verlassen.
Bewegte Hörer
Was beim Rias-Putsch begann, weitet sich 1991 zum bundesweiten Protest aus. Zehntausende demonstrieren im Herbst 1991 für die Fortführung des Programms. DT64 wird zur "Jugendbewegung mit Radio".
In dem Aufruf unter dem Titel "Keine Funkstille für die Jugend - Rettet DT64!" heißt es: "Mit seinem jugendgemäßen und kritischen Programm war DT64 beteiligt an den demokratischen Veränderungen im Herbst 1989. Heute ist dieses einzige überregionale Jugendprogramm Deutschlands für eine Million vorwiegend junge Hörerinnen und Hörer Wegbegleiter und Orientierungshilfe in neuen gesellschaftlichen Verhältnissen, es unterstützt Vergangenheitsaufarbeitung und Selbstfindung, befördert Integration und Verständnis zwischen Ost und West. [...] Wir wenden uns daher gegen die geplante Abschaltung. [...] Wo ein Wille ist, ist auch eine Frequenz!".
Das Netzwerk macht mit seinen Aktionen, Veranstaltungen, Demonstrationen, öffentlichen Anhörungen, Mahnwachen und Unterschriftensammlungen das Problem "Abschaltung von DT64" zu einem öffentlich diskutierten Thema. Bis zum Sommer 1992 sprechen sich fast eine halbe Million Hörerinnen und Hörer mit ihrer Unterschrift für den Erhalt des Jugendsenders aus; auf dem Höhepunkt der Sympathiewelle existierten 80 "Freundeskreise des Jugendradios DT64 e.V.", davon 30 auf dem Gebiet der früheren Bundesrepublik.
DT64 beim MDR
1991 zeichnet sich für die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten der fünf neuen Länder folgende Struktur ab: Der SFB wird Anstalt für Gesamttberlin; Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen gründen den MDR. Nachdem der NDR per Vorschaltgesetz mit der Rundfunkversorgung Mecklenburg-Vorpommerns beauftragt wird, gilt die Konzeption einer Nordostdeutschen Rundfunkanstalt (NORA) als gescheitert, in Brandenburg wird daraufhin der ORB eingerichtet. Mit der Zuordnung von Mecklenburg-Vorpommern zum NDR-Sendegebiet wird klar, dass es mit Jahresbeginn 1992 im Norden kein DT64 mehr geben wird.
Die neuen Länderanstalten möchten, wenn überhaupt, eigene Jugendprogramme einrichten. Auch MDR-Intendant Udo Reiter lehnt es zunächst noch ab, das Jugendradio "unter dem Dach des MDR weiterzuführen".
In Berlin-Brandenburg bietet der ORB mehreren DT64-Mitabeitern Arbeitsverträge an, um eine eigene Jugendredaktion einzurichten. Brandenburg bekundet zwar Interesse an der Fortführung von DT64, stellt aber klar, aus finanziellen Gründen nicht das gesamte Programm übernehmen zu können. Deshalb fordert der ORB, dass noch weitere Länder Frequenzen für den Sender bereitstellen.
Ende Oktober 1991 zeichnet sich eine Kompromisslösung ab. Die UKW-Frequenzen von DT64 sollen zum 1. Januar 1992 in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt - also im zukünftigen Sendegebiet des MDR - an private Hörfunkanbieter abgeben werden. Da aber keiner der Privatsender vor dem Sommer 1992 sendebereit sein würde, könnte DT64 noch ein halbes Jahr länger auf den alten Frequenzen senden - theoretisch. Was dem Sender dazu fehlt, ist ein öffentlich-rechtlicher Träger.
Konkrete Aussichten für DT64 ergeben sich erst mit der Konferenz der ostdeutschen Ministerpräsidenten am 12. und 13. Dezember 1991 in Wernigerode. Die Ministerpräsidenten gehen überraschend auf ein Angebot des MDR-Intendanten Reiter ein, DT64 befristet fortzusetzen. Sie beschließen, die "weitere Veranstaltung des Programms DT64 unter der rundfunkrechtlichen Verantwortung des MDR bis zur Erteilung von Erlaubnissen zur Veranstaltung von privatem Hörfunk, längstens bis zum 30.6.1992" zu dulden, machen aber deutlich, dass "eine dauerhafte Fortführung des Programms DT64 [...] nicht in Betracht" kommt.
Auf einer Belegschaftsversammlung im Dezember 1991 wird das Angebot des MDR diskutiert, das Jugendradio in den Ländern Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen befristet bis zum Sommer des kommenden Jahres auszustrahlen. Für die aus Berlin sendenden Mitarbeiter macht ein Weitersenden eigentlich nur Sinn, wenn sie das von ihnen gestaltete Programm selbst auch hören können. Michael Schiewack macht deshalb auf der anschließenden Pressekonferenz deutlich, Jugendradio DT64 würde das Angebot des MDR nur annehmen, wenn man auch in Berlin und Brandenburg weitersenden könne.
Das bereits verloren geglaubte Jugendradio steht somit zum Jahreswechsel 1991/92 vor der Aufgabe, anstatt abzuwickeln, so schnell wie möglich wieder aufzuwickeln. Denn nachdem der MDR am 30. Dezember 1991 gegenüber DT64 seine endgültige Bereitschaft signalisiert hatte, den Sender vorerst ein halbes Jahr auf UKW weiterzuführen, erklärt auch der ORB am Silvesterabend, das Jugendradio könne in Berlin und Brandenburg auf seinen bisherigen Frequenzen weitersenden - unterbrochen durch ein dreistündiges Fenster namens "RockradioB", das von ehemaligen DT64-Mitarbeitern gestaltet wird.
Gegenwind
Die Frequenzen von DT64 bilden allerdings die einzige sendebereite Frequenzkette, die für den Privatfunk in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen relevant ist. Würden die Privaten diese Frequenz verlieren, kämen sie auf unabsehbare Zeit nicht zum Zuge. Die Thüringer Landesanstalt für privaten Rundfunk wirft dem MDR im Januar Selbstherrlichkeit und eine "faktische Frequenzbeschlagnahmung" vor.
Ein Sputnik steigt auf
Reiter pokert - und gewinnt: Nach einem heute legendären Intermezzo auf der Mittelwellenfrequenz 1044 kHz startet die neue Jugendwelle des MDR 1993 in eine digitale Zukunft. Der sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf ist nicht ganz unbeteiligt an den Entscheidungen des MDR. Er gibt auf einer Pressekonferenz in Dresden bekannt, der neue Name des Jugendradios sei "MDR Sputnik".
Zitierweise: Stephan Sprang, Hörfunkjournalismus und Musikprogramm im gesellschaftlichen Wandel. Eine Chronik des Jugendradio DT64, in: Deutschland Archiv Online, 04.04.2013, Link: http://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/sprang20130404