I.
Am 17. Juni 2011 überreichte der polnische Staatspräsident Bronisław Komorowski in der polnischen Botschaft in Berlin posthum das Kommandeurkreuz des Verdienstordens der Republik Polen an
Ludwig Mehlhorn.
Im letzten Jahr haben wir viel über den Mauerbau 1961 und seine Folgen gehört, diskutiert, erfahren. Insgesamt kam dabei die gesellschaftspolitische und -geschichtliche Dimension für die DDR – meine ich – deutlich zu kurz.
Die Bischöfe der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Gottfried Forck (Region Ost) und Martin Kruse (Berlin-West), 1989. (© epd-bild, Foto: Andreas Schölzel)
Die Bischöfe der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg Gottfried Forck (Region Ost) und Martin Kruse (Berlin-West), 1989. (© epd-bild, Foto: Andreas Schölzel)
aus der im Spätsommer 1989 die Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" hervorging, praktisch keine Rolle.
Wenn es um Mauern in der DDR geht, sollte, muss dieser Brief beachtet werden. Er wird deshalb hier mit einigen Grundaussagen wiedergegeben – Bischof Forck hat diesen übrigens nicht nur als wichtig erachtet, hat den Aussagen nicht nur zugestimmt, sondern hat sich mit Ludwig Mehlhorn auch zu mehreren Gesprächen getroffen. Darin heißt es unter anderem:
"Mit Interesse habe ich Ihren Briefwechsel zum 13. August 1986 gelesen. Ihre Aussagen sind in die Form persönlicher Briefe gefasst. Aus der Tatsache der Veröffentlichung darf man aber schließen, dass es sich um eine quasi-offizielle Stellungnahme der Kirche zu einigen Aspekten handelt, die mit diesem Datum unserer jüngsten Geschichte verbunden sind. Deshalb habe ich mich entschlossen, von der Freiheit eines Christenmenschen einmal Gebrauch zu machen und Ihnen gemeinsam zu schreiben. (...) Ohne die verbrecherische 'Politik' der Nazis gegenüber den europäischen Völkern einschließlich des deutschen, das freilich der braunen Diktatur mehrheitlich zugestimmt hatte, wäre es nicht nötig gewesen, dass sich Europa bis zur Elbe von der Roten Armee und von der anderen Seite durch westliche alliierte Armeen befreien lassen musste. (...) Aber dennoch können wir nachdenken über eine Zukunft, 'in der eine Mauer nicht mehr sein wird', auch an der Perspektive der Einheit festhalten. Diese 'Einheit' braucht man sich nicht im nationalstaatlichen Sinne vorzustellen. Aber über die Stufen Entmilitarisierung und vertraglich gesicherte Neutralität könnte sie eines Tages auf friedlichem Wege erreicht werden, ohne Bedrohungsängste bei unseren Nachbarvölkern hervorzurufen. Hier sollten gerade kirchliche Kreise, die wissen und glauben, 'dass Gott die Welt nicht so lässt wie sie ist', den Mut haben, auch tabuisierte Fragen aufzunehmen. (...) Welche Folgen der Mauerbau für den Westen hatte, kann ich schwer einschätzen. Nach meinem möglicherweise sehr oberflächlichen Eindruck ist die Mauer für viele Menschen im Westen trotz gegenteiligen Bekundens nie ein wirkliches Problem gewesen. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein (...) Auch hier gilt: 'Deine Sprache verrät dich': von Europa wird geredet, wenn man die [Europäischen Gemeinschaften] EG meint. Im Empfinden vieler Menschen führt das wahrscheinlich dazu, dass wir hier gar keine richtigen Europäer mehr sind – von den Völkern weiter östlich ganz zu schweigen. (...) Für die DDR waren und sind die Folgen gänzlich anderer Art. (...) Im Schutz und im Schatten der Mauer ließ sich trefflich eine Politik der Abgrenzung und Abschottung realisieren, an deren Folgen unser gesamtes gesellschaftliches Leben schwer – und viele, die weggehen, meinen: tödlich – erkrankt ist.
Grenzen und Mauern sind geradezu eine Grunderfahrung für meine Generation geworden. Nahezu jedes Schlüsselerlebnis ist mit den Phänomenen Grenze und Abgrenzung verbunden. Ich kann gut verstehen, dass 'Mit der Teilung leben' – um an Müller-Gangloffs Buch zu erinnern
Aber zur Wahrhaftigkeit beim Reden über die Mauer gehört auch die Abgrenzung nach außen und innen, die ohne Mauer so nicht möglich wäre: die fast geschlossene Oder-Neiße-Grenze, Reiseverbote nach osteuropäischen Ländern für eine große Anzahl von DDR-Bürgern, Einreiseverweigerungen für Personen aus dem westlichen und östlichen Ausland, Kontaktverbote oder Kontaktmeldepflichten in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft.
Selbst eine so positive Entwicklung wie die seit jüngster Zeit praktizierte Erleichterung des Reisens in dringenden Familienangelegenheiten [in die Bundesrepublik] hat ihre Schattenseiten: sie schafft im inneren neue Grenzen zwischen denen, die Verwandte haben und den anderen. (...)
Dieser Katalog setzt sich bei den unsichtbaren Grenzen fort. Ich könnte vieles erwähnen, z.B. die Grenze um Bücher und Zeitschriften, Informationen und geistige Güter. Hier äußert sich die Abgrenzungs- und Abschottungspolitik als Zensur, die wie ein Krebsgeschwür in alle gesellschaftliche Bereiche, vor allem Kultur und Bildung, vordringt und das geistige Leben lähmt. (...) Wenn es nicht trotz Mauer und Abgrenzung hin und wieder Einflüsse von draußen gäbe, müssten wir am Mief der Provinzialität ersticken. (...)
Und was soll ich, sehr geehrter Herr Bischof, von Ihrer Formulierung halten, 'daß es in den vergangenen Jahren sehr schwierig war, eine Reisegenehmigung in das westliche Ausland zu bekommen'? Sehr schwierig – das heißt doch: immerhin möglich?! (...) War es nur mein Unvermögen, gewisse bürokratische Hemmnisse findig – pfiffig zu überwinden? Oder mangelnder Mut? Bin ich selbst Schuld, wenn ich noch nicht in Paris war, um ins Museum zu gehen oder auch nur, um ein paar Freunde aus verschiedenen ost- und westeuropäischen Ländern zu treffen, die seit Jahren aus wer weiß was für Gründen keine Einreise in die DDR bekommen? (...) Nein, dieses 'sehr schwierig' ist kein Euphemismus mehr, sondern schlicht die Unwahrheit! (...)
Zur Frage des Ausreisens für immer will ich mich hier nicht äußern – das ist ein weites Feld. Aber eins scheint mir sicher: für Christen gibt es keine Sonderargumente, weder fürs Bleiben noch fürs Gehen. Es ist ja nicht Christenverfolgung, worüber wir zu klagen haben. Darum ist es ein Verlust für unsere Gesellschaft, wenn Menschen weggehen, die sich der Mauerkrankheit entgegengestellt haben – und ab irgendeinem individuell je verschiedenen Punkt nicht mehr weiter konnten. Ob es sich dabei um Christen handelt oder nicht, ist unerheblich. Das vielleicht bitterste Kapitel wird in dieser Hinsicht die Literaturgeschichte, nicht die Kirchengeschichte zu schreiben haben. Nicht nur für Christen, auch für die Kirche als ganzes – wenn sie sich wirklich im Bonhoefferschen Sinne als Da-Sein für andere versteht – ist es ein Verlust, dass Jurek Becker und Wolf Biermann, Sarah Kirsch und Günter Kunert, Thomas Brasch und Jürgen Fuchs nicht mehr da sind. (...)
'Was hat die Kirche zum 13. August 1986 zu sagen?' – so lautete die Ausgangsfrage Ihres Briefwechsels.
Sie hätte meines Erachtens nicht nur die 'billige Anpassung an die gegebenen Verhältnisse' und den 'grundsätzlichen Widerspruch' zu den Realitäten zu verwerfen. Und sie dürfte die 'kritische Mitverantwortung für alles, was bei uns geschieht', nicht nur postulieren. Sie müsste diese Mitverantwortung auch ganz konkret wahrnehmen, indem sie sich eindeutig und unmissverständlich gegen Geist und Logik der Abgrenzung öffentlich ausspricht.
Eine solche Formel würde heute nicht mehr die Illusion wachrufen, die Mauer – von der Mauerkrankheit zu schweigen – könnte von heute auf morgen verschwinden. Aber sie würde deutlich machen, dass es in einer Zeit, in der das atomare Massengrab allenthalben als apokalyptisches Menetekel beschworen wird, prinzipiell keine Rechtfertigung dafür gibt, Menschen durch sichtbare und unsichtbare Mauern gegen ihren Willen voneinander zu trennen und ihre grenzüberschreitende Kommunikation zu behindern.
Und schließlich hätte eine sich an dieser Erkenntnis orientierende, den an Mauern und Mauerkrankheit leidenden Menschen zugewandte Seelsorge eine gewisse Chance, zur Heilung der verwundeten Herzen und zur Gesundung gestörter sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Verhältnisse beizutragen. Eine solche Seelsorge wäre wohl auch geeignet, 'Verantwortung zu wecken, Lethargie und Selbstsucht zu überwinden'. Ob wir stark genug sein werden, weitere 25 Jahre Ab-, Aus- und Eingrenzungen zu überleben, ohne weiteren Schaden zu nehmen an Geist und Seele? Gott allein weiß es."
Nur wenige Jahre später durchbrachen die DDR- und die ostmitteleuropäischen Gesellschaften das krankmachende Monstrum. Die Mauer wurde nicht einfach geöffnet, sondern ihr Fall von den Gesellschaften erzwungen. Sie wird uns noch lange beschäftigen, nicht nur in Gedenk- und Jubiläumsjahren.
II.
Der Potsdamer Romanist Ottmar Ette sieht in Grenzen auch sprachliche Konstrukte, die hochgradig arbiträr, also letztlich willkürlich, von subjektiven Wahrnehmungen abhängig, sind: "Sie sind im Sinne Roland Barthes' insoweit Mythen, als sie Natur zu sein vorgeben, wo sie in der Tat aus geschichtlichen Prozessen hervorgingen."
Grenzen motivieren geradezu dazu, sie zu überwinden, zum Grenzverletzer/zur Grenzverletzerin zu werden.
Vor dem Hintergrund dieser skizzenhaften, aber das Thema meiner Ausführungen kurz einordnenden Ausführungen wird zweierlei ersichtlich. Erstens haben wir es bei Systemgrenzen tatsächlich mit einer Vielzahl von Erscheinungen zu tun, die sich womöglich im Einzelnen auch noch gegenseitig ausschließen. Zweitens wiederum lassen sich Systemgrenzen kaum objektivieren, sondern unterliegen einer subjektiven Empfindung, die man im Konkreten abtun, als irrelevant oder gar lächerlich bezeichnen kann, die aber wiederum Ausdruck einer Vielfalt gesellschaftlicher Prozesse darstellen, die es eben auch im kommunistischen Gesellschaftsprojekt gab. Nicht einmal die Mauer ist in der DDR von allen gleichermaßen als bedrohliche oder bedrohende Grenze wahrgenommen worden, als Symbol für ein System, das strikt und strikte Grenzen zu setzen versuchte und Grenzverletzer/innen sanktionierte, im schlimmsten Fall erschoss. Dass die Mauer zugleich eine Außengrenze und innere Systemgrenzen symbolisierte, eine unzertrennliche Einheit, die gerade nur in dieser Dialektik von innerer und äußerer Abschottung Sinn ergab, war weder vor noch nach 1989 ein selbstverständliches Allgemeingut der im System lebenden bzw. gelebt habenden Menschen.
III.
Wenn wir Grenzen der DDR in den Blick nehmen, dann fallen zuerst die Zäsuren 1952/53 und 1961 auf. Zunächst beginnt programmatisch und mit vielfältigen, häufig analysierten Begleiterscheinungen die offensive Etablierungsphase des Systems, die mit dem 17. Juni 1953 kein abruptes Ende, aber eine deutliche Kurskorrektur erfährt. Allen waren die vielfältigen Systemgrenzen drastisch vor Augen geführt worden. Das Regime schwenkte nicht um, aber es organisierte seine Etablierung und Stabilisierung neu. Die Gesellschaft besaß neben bedingungsloser Unterstützung, bereitwilligem Mittun, missmutiger Loyalität, antikommunistischen Widerstand oder Flucht eine weites Spektrum von Handlungsoptionen, das auch deshalb zur Verfügung stand, weil erstens historische Erfahrungen aus der Zeit vor 1933 noch mehrheitlich lebensgeschichtlich verankert waren, weil zweitens die Erfahrungen von 1933 bis 1945 als Handlungs- und Positionierungsantriebe abrufbar waren und weil drittens die Bundesrepublik als reale Alternative ganz unmittelbar greifbar war und als Vergleichsfolie für die eigenen Lebensvorstellungen unmittelbar einwirkte. Als 1961 ein neuer Volksaufstand zu drohen schien – alle Anzeichen deuteten darauf hin, die entscheidenden gesellschaftlichen Parameter ähnelten denen von 1952/53 auffällig – zeigten die Herrscher, dass sie aus 1953 gelernt hatten. Sie vollendeten ihre "innere Staatsgründung" – wie ich diesen historischen Prozess von 1952 bis 1961 bezeichne – und schotteten mit der Mauer das Land endgültig ab, zeigten Grenzen auf und symbolisierten so auch – über das Todeswerk hinaus –, dass das System auf die Einhaltung innerer Begrenzungen unbedingten Wert lege.
Zwar standen der Gesellschaft nun noch immer genügend Handlungsoptionen zur Verfügung, aber diese waren nun nicht nur klarer umrissen, zugleich musste die Gesellschaft sich selbst neu erfinden, weil sich die Handlungsräume erheblich verändert hatten. Das führte unter anderem zu dem Paradox, dass das System in den folgenden etwa 15 Jahren zusehends an Stabilität und Prestige gewann, zugleich aber durch die starren Begrenzungen fast zwangsläufig zur finalen Grenzüberwindung beitrug. Denn, wie ich ganz am Anfang schon zitierte, Grenzen wohnt nun einmal der Traum ihrer Überwindung immanent inne.
Wachtturm an der Berliner Mauer 1981 (© picture-alliance/akg)
Wachtturm an der Berliner Mauer 1981 (© picture-alliance/akg)
Der gesellschaftliche Schock vom 13. August 1961 führte zu mindestens drei längerfristig wirkenden Ergebnissen. Ein größerer Teil der Gesellschaft begab sich (nun, da Flucht eine noch gefährdetere Option geworden war) ins innere Exil und lebte strikt nach offiziellem und privatem Leben getrennt; das war nicht schizophren, vielmehr begegnen uns hier multiple Persönlichkeiten, die sich mit dem Offenbaren arrangierten und zugleich vom Undenkbaren träumten. Ein ganz kleiner, geradezu verschwindend geringer Teil der Gesellschaft hielt an Opposition und Widerstand fest. Gerade Jüngere sind hier in den 1960er-Jahre durch grenzüberschreitende Einflüsse neuer Jugendkulturen erheblich beeinflusst und motiviert worden. Drittens schließlich wuchsen nach 1961 Kinder und Jugendliche heran, die vor eine ganz neue Herausforderung gestellt wurden: nämlich die vorhandenen Grenzen des Systems nicht als naturgegeben hinzunehmen, sondern als menschengemacht und damit kritikfähig und überwindungsfähig überhaupt anzuerkennen. Anders als in den Jahren bis 1961 kam auf dem Spektrum zwischen unbedingter, überzeugter Unterstützung und rigider Ablehnung nun also noch hinzu, die Grenzen als überwindungsfähig überhaupt wahrzunehmen. Medien, Bildungswesen, Erziehungsziele, Lehrpläne, öffentliche Propaganda, Militarisierung oder inszenierte Massenaufmärsche sollten die historisch-gesetzmäßige Endgültigkeit des Systems belegen und untermauern. Wer sich damit nicht abfinden mochte, für den stand ein breites Instrumentarium an Verfolgungs-, Disziplinierungs- und Abschreckungsmitteln bereit, die von Mord an der Mauer bis hin zur kollektiven Demütigung wegen individueller Selbstbehauptung oder Zweifel an der Richtigkeit des Marxismus-Leninismus reichten.
Die inneren Systemgrenzen waren zwar omnipräsent, aber zugleich tabuisiert, was wiederum ihre diskursive Verhandlung verhinderte. Die Frage ist ja nicht so sehr, was zu den inneren Grenzen gehörte und welche besonders nachhaltig funktionierten. Auch dass die Grenzwahrnehmungen von individuellen politischen, kulturellen, sozialen, religiösen, ideologischen und nicht zuletzt habituellen Momenten beeinflusst waren, ist zunächst unspektakulär. Mir scheint viel interessanter zu sein zu fragen, wie Grenzüberschreitungen im Inneren aussahen und wie sie motiviert wurden.
Dazu ist zunächst wohl festzuhalten, dass die totalen Ansprüche der kommunistischen Herrscher von vornherein selbst verhinderten, ein ihren Regeln entsprechendes Leben führen zu können. Die totale Regelanmaßung implizierte permanente Grenzüberschreitungen, es ging gar nicht anders, als die inneren Grenzen ständig zu verletzen. Die für die Herrschenden aber letztlich entscheidende Frage war die nach dem politischen Gehalt der Grenzüberschreitung. Und hier stand ihnen mit der Evangelischen Kirche eine Institution gegenüber, die bei aller Kritik im Einzelnen einen Gegenentwurf zur parteistaatlichen Praxis, Räume für anderes Denken, Handeln und Leben anbot. Es ist daher kein Zufall, dass die organisierte Opposition der 1980er-Jahre zu einem ganz großen Teil aus der Evangelischen Kirche entwuchs. Dass diese Opposition dann 1989 zur Keimzelle einer breiten Bürgerbewegung wurde und die Kirchen – die erst Schwierigkeiten hatten, die Opposition hereinzulassen; 1989 wollte sie sie dann teilweise nicht herauslassen – verließen, steht am Ende dieser Geschichte.
In den 1970er- und 80er-Jahren stehen wir im Gegensatz zu den 1950er-Jahren – die 60er nehmen eine Art Zwischenstellung ein – vor dem Phänomen, dass zwar die Legitimität des Systems, der Zuspruch zum System und die überzeugte, aktive Unterstützung des Systems nicht signifikant zugenommen hatten, aber zugleich der politisch offene Widerspruch, die organisierte politische Opposition, der Zeichen setzende Symbolwiderstand deutlich marginalisiert war. Dafür gibt es viele Gründe, nicht zuletzt außenpolitische Entwicklungen und die offiziellen politischen deutsch-deutschen Gespräche.
Ist aber dieser Befund gleichbedeutend damit zu sehen, dass Opposition und Widerstand auch gesellschaftlich marginalisiert waren? Hier möchte ich doch ein großes Fragezeichen setzen.
IV.
Die Kommunisten haben ihre Gesellschaft als eine Gemeinschaft der Gleichen und des Gleichen verstanden und propagiert und diese zugleich als Endpunkt der Geschichte markiert. Richtmaß für alles und jeden war das Kollektiv, das zwar ominös und undeutlich blieb, aber doch klar genug konturiert war, um Individualität als störend zu kennzeichnen, um Individualität als überkommenen Wert dastehen zu lassen. Wer dennoch seine Individualität bewahrte, geriet schnell zum Außenseiter, der oft genug gar nicht vom Staat drangsaliert werden musste, weil diese Aufgabe die Gesellschaft reflexartig übernahm. "Reflexartig" bedeutet auch, hier ging es weniger um politische oder ideologische Absichten. Vielmehr folgte dieser Reflex kulturellen, sozialen und habituellen Inspirationen, oft genug wollte das Kollektiv einfach nur seine Ruhe haben.
Die Motivationen für das Ausbrechen aus dem Kollektiv und das oppositionelle Engagement – was wiederum sehr breit gefächert aussehen konnte und hier durchaus von offen gezeigten Normenabweichungen wie der Kleidung und den Frisuren bis hin zu organisierter politischer Opposition reichte – lassen sich ebenfalls kaum auf einen Nenner bringen. Bestimmte Grunderfahrungen, die immer wieder als Motivation für oppositionelles Handeln angeführt werden – etwa erlebte Repressionen in der Familie oder im Bekanntenkreis -, lassen sich nicht generalisieren, weil so etwas viel mehr Menschen erlebten, als dann tatsächlich in der Opposition aktiv waren. Hier kommt man methodisch auch nicht durch immer neue Interviews weiter, weil eine entsprechende Mitläuferforschung für die DDR bislang gänzlich fehlt. Vielleicht ist das auch nicht zu lösen, weil sich bestimmte individualpsychologische Grundkomponenten nicht entschlüsseln lassen. Man kann meines Erachtens gut erklären, warum jemand mitmacht, warum jemand überzeugt mitmacht, warum jemand mitläuft, sich abduckt, man kann auch ganz gut erklären, wie oppositionelle Gruppen in sich funktionieren und wie sie ihre Stellung in und zur Gesellschaft und zu anderen Gruppen definieren, aber genau der Übergang in eine solche Gruppe lässt sich nur biografisch erzählen und erklären, jede Typologie hätte das Manko einer Zwangsläufigkeit, die es ja nun gerade nicht gab.
Das führt mich nun zu meinem letzten Punkt, nämlich der Stellung der Oppositionsgruppen innerhalb der Gesellschaft. Über ihre Marginalisierung ist viel geschrieben und debattiert worden. Das scheint auf den ersten Blick auch plausibel, gerade weil sie nach 1961 bis weit in die
Blick nach Ost-Berlin über die Mauer entlang der Bernauer Straße, 1980. (© picture-alliance/AP, Foto: Elke Bruhn-Hoffmann)
Blick nach Ost-Berlin über die Mauer entlang der Bernauer Straße, 1980. (© picture-alliance/AP, Foto: Elke Bruhn-Hoffmann)
Achtzigerjahre hinein kaum sichtbar waren. Allerdings kann mit neueren Forschungen ja nicht nur gezeigt werden, dass die gesellschaftliche Grundstimmung gegenüber den Herrschenden latent konfrontativ blieb und sich auch immer wieder offen zeigte, nicht nur 1968 oder 1976 oder dann ab 1985, zugleich wird immer deutlicher, dass die Interaktionsverhältnisse zwischen Gesellschaft und Oppositionsgruppen – die natürlich Teil dieser Gesellschaft waren – eher die These aufwerfen, dass die Oppositionsgruppen aus der Mitte der Gesellschaft heraus argumentierten.
Zum einen hilft also die Beschäftigung mit den vielen Systemgrenzen, einer möglichen Starrheit historischer DDR-Bilder vorzubeugen bzw. diese abzubauen, und deutet meines Erachtens den Weg hin zu einer Gesellschaftsgeschichte, die gerade vermeintliche Widersprüche, die vielen Brüche und die Handlungsalternativen betont. Zum anderen gehört die Geschichte von Opposition und Widerstand als integraler Bestandteil in eine solche Gesellschaftsgeschichte. Bislang werden Opposition und Widerstand zumeist separat abgehandelt, was einem dynamischen Gesellschaftsbild eher abträglich ist. Insofern müssen auch Forscher und Forscherinnen Grenzen überschreiten, die sie sich selbst auferlegt haben.
V.
Acht Jahre nach dem Mauerbau schrieb Wolf Biermann das Lied "Enfant perdu". Darin beklagte er, dass ein Sohn seines von der SED verfolgten Freundes Robert Havemann in den Westen gegangen war: "Jetzt ist er meine Trauer / Jetzt hockt er hinter der Mauer / und glaubt, dass er vor ihr sitzt."
Wolf Biermann bei seinem legendären Konzert am 14. November 1976 in Köln. (© picture-alliance/AP)
Wolf Biermann bei seinem legendären Konzert am 14. November 1976 in Köln. (© picture-alliance/AP)
Am 13. November 1976 trat Wolf Biermann vor Tausenden Zuschauern in der Kölner Sporthalle auf. Drei Tage später verfügte die SED-Führung seine Ausbürgerung. Biermann hätten den ganzen Abend, wie er später einmal erklärte, "Hänschen klein" singen können, er wäre dennoch nicht zurückgelassen worden. Der WDR fasste sich ein Herz und strahlte in der Nacht vom 19./20. November 1976 das Konzert in voller Länge – 4:30 Stunden – aus. Hunderttausende Zuschauer auch aus der DDR hörten und sahen zu. Es war ein Fernsehereignis von historischem Rang: Ein deutscher Kommunist durfte 270 Minuten lang kommunistische Propaganda im Westfernsehen verbreiten. Es fielen dabei auch unsägliche Worte über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953, wonach dieser "schon ein demokratischer Arbeiteraufstand und noch ein faschistischer Putsch" gewesen sei. Später distanzierte sich Biermann von solchen und anderen Äußerungen. Er blieb kein Kommunist. Der schärfste ostdeutsche Kritiker der SED sang in Köln auch "Enfant perdu". Als er die Strophe mit der "DDR auf Dauer" vortrug, brandete tausendfacher Beifall in Köln auf.
Als Biermann das Lied beendet hatte, erklärte er, dass er in dem Lied nur verurteilen würde, aber nicht erklärte, warum so viele Menschen aus der DDR weg wollten. Das sei nicht richtig und politisch falsch. Über die Zeile mit "Knast und Mauer" sagte er kein Wort.
Wie vielen anderen Linken schwebte Wolf Biermann eine freiheitliche DDR vor, die sich auf sozialistischen Idealen gründe. Biermann war 1976 fest davon überzeugt, dass in der DDR historisch das überlegene Gesellschaftssystem existiere. Er artikulierte eine Zukunftsvision, die nicht nur viele teilten, sondern die sich so einfach wie schön anhörte und doch von neuen diktatorischen Gedanken getragen war. Biermann gehörte wie viele andere Kommunisten tatsächlich zu jener ostdeutschen Minderheit, die "die Mauer als Hoffnungsträger für innere Befreiung"
Diese Vision verbreitete auch Biermanns Lied "Enfant perdu". Er setzte wie seine Peiniger auf "Bewusstseinsbildung", auf "Klassenbewusstsein", elementare Bedürfnisse der Menschen sah er als manipuliert an. Er teilte nicht das Menschenbild der herrschen Kommunisten, sehr wohl aber hing Biermann ebenfalls einem "Menschenbild" an, das erst "erzogen", "geformt" und "herausgebildet" werden müsse – notfalls gegen den Willen des Einzelnen. Die bürgerliche Gesellschaft erwies sich als Hauptfeind. Die DDR war keine angedachte Vision oder unerfüllt gebliebene Utopie. Der SED-Staat hat tatsächlich die historische Chance genutzt und ein System etabliert, das politisch den Vorstellungen und planökonomisch den Vorgaben entsprach. Die Mauer gehörte immanent letztlich dazu.
Der Mauerbau 1961 stabilisierte nicht nur die bipolare Weltordnung, sondern auch die inneren Verhältnisse in der DDR. Die Diktatur verfeinerte ihre Herrschaftstechniken. Der brachialsten Methoden entledigte sie sich und ging zum "lautlosen Terror" (Jürgen Fuchs) über.
Die Abschottung bedingte zugleich paradoxerweise die politische Öffnung. Die diplomatische Anerkennung der DDR wiederum bewirkte eine größere Akzeptanz des DDR-Staates auch im Inneren, nicht seiner Verhältnisse. Den Menschen blieb auch nichts weiter übrig, denn das Provisorium namens DDR etablierte sich auf internationalem Parkett als Dauergast. Bis 1989 zweifelte kaum jemand daran, dass die deutsche Teilung von Dauer sein würde, jedenfalls die eigene Lebenszeit überdauernd.
Auch das zeitigte Rückwirkungen auf die ostdeutsche Bevölkerung. Wer nicht ausreisen oder fliehen wollte, richtete sich ein, bei den meisten verbunden mit einem Rückzug ins Private. Auch vieles Private kollektivierte die SED, aber es blieben genug Räume, die einen "normalen Alltag" garantierten. Der Historiker Stefan Wolle drückt diesen Zusammenhang so aus: "denn die Gartenzwergidylle der DDR und ihre politische Friedhofsruhe bedingten einander. (...). Die sauber geharkten Todesstreifen an der deutsch-deutschen Grenzen und die gepflegten Vorgärten bildeten keinen Widerspruch, sondern zwei Seiten desselben Systems. Das Kleinbürgerglück, das so viele westliche Beobachter bewunderten, existierte nicht neben, sondern als ein Teil der totalitären Herrschaft."
Die SED-Führung schaffte es nur, die Körper der Menschen zu mobilisieren, wie der britische Historiker Timothy Garton Ash einmal beobachtete, aber nicht de¬ren Herzen und Gedanken.
Und deshalb übrigens war ein Mann wie Ludwig Mehlhorn letztlich klarsichtiger als Wolf Biermann, der aber wieder weiß es längst besser als so manche Historiker/innen, die nach einer "Mauer als Hoffnungsträger für innere Befreiung" suchen.