Aspekte der Neuen Ostpolitik
Im Oktober 1969 bildeten die SPD und FDP eine Koalitionsregierung unter der Führung von Bundeskanzler Willy Brandt. Brandt begann gemeinsam mit Egon Bahr ein neues Kapitel in der westdeutschen Ostpolitik, die heute als eine der wichtigsten Zäsuren in der Nachkriegsgeschichte Europas angesehen wird. Dabei werden vor allem die politischen Aspekte der neuen Ostpolitik unterstrichen, der Willen zur friedlichen Gestaltung der Beziehungen zur Sowjetunion und ihrer osteuropäischen Vasallen und die politische Entspannung. Die wirtschaftlichen Gesichtspunkte werden hingegen völlig ausgeklammert.
Gerade die spielten aber für den Kreml die Schlüsselrolle. Den sowjetischen Herrschern ging es darum, deutsche Wirtschaftshilfe bei der Erschließung von gigantischen Öl- und Gasfeldern in Westsibirien zu bekommen. Der Kreml hoffte, auf diese Weise das immer noch aggressive kommunistische Imperium vor dem fortschreitenden wirtschaftlichen Zerfall zu retten. Und die damalige sozialliberal Bundesregierung und westdeutsche Konzerne machten mit.
Stalinistisches "Wirtschaftswunder" und Stagnation
Im Januar 1945 überschritten die Verbände der Roten Armee die deutschen Grenzen von 1938, eroberten bald Berlin und hielten erst an der Elbe an. In den besetzten Gebieten raubten und demontierten die sowjetischen Beutekommandos ganze Industriegebiete: Werke und Fabriken, Industrieanlagen und Infrastruktur. Alle diese Anlagen und Maschinen verfrachteten sie in die Sowjetunion und installierten sie in alten oder neu erbauten Betrieben und Werken. Darüber hinaus beuteten die Sowjets die "befreiten" Länder Ost- und Mitteleuropas gnadenlos aus, insbesondere die spätere DDR und Polen. Die enorme Kriegsbeute und Ausbeutung der unterworfenen Länder bescherte der UdSSR einen Modernisierungs- und Wachstumsschub, den sie aus eigenen Kräften niemals erreicht hätte. All dies ebnete der Sowjetunion den Weg zur Supermacht.
Zu Beginn der 1950er-Jahre begann jedoch das sowjetische "Wirtschafswunder" seine Dynamik zu verlieren. Die geraubten Maschinen und Anlagen waren bald abgenutzt und veraltet, zudem wurde es schwieriger, die unterworfenen Länder auszubeuten. Die Sowjets hatten nämlich diesen Ländern ihr eigenes Wirtschafsystem aufgezwungen – mit ähnlichen Folgen wie in der UdSSR: chronische Krisen, Missstände und Engpässe, Verschwendung von Arbeitskräften und Ressourcen, technologische Rückständigkeit. Folglich war auch dort immer weniger herauszuholen. Die Sowjets schlachteten die Kuh, die sie melken wollten.
Es verwundert daher nicht, dass das sowjetische "Wirtschaftswunder" bald in Stagnation und dann in einen fortschreitenden wirtschaftlichen Niedergang mündete. Es begann die Suche nach neuen Auswegen. Die sowjetischen Herrscher witterten bald in gigantischen Öl- und Gasvorräten die Chance, ihr Imperium vor dem wirtschaftlichen und politischen Untergang zu bewahren.
Schon in den 1930er-Jahren hatte man zwischen Wolga und Ural große Erdölfelder entdeckt, das "zweite Baku". Die dortigen Ölvorräte übertrafen die seit Jahrzehnten bekannten am Kaspischen Meer. In den 1950er-Jahren übertraf die Ölförderung im "zweiten Baku" die in der gesamten übrigen Sowjetunion. Die Gesamtförderung an sowjetischem Öl stieg von 53 Millionen Tonnen im Jahre 1953 auf 113 Millionen fünf Jahre später und 224 Millionen Tonnen im Jahre 1964. 1965 wurden in Westsibirien weitere, noch größere Öl- und Gasfelder entdeckt, die man zu erschließen begann. Im Jahre 1970 betrug die Ölförderung in der UdSSR 353 und fünf Jahre später 491 Millionen Tonnen und übertraf zum ersten Mal die Förderung in den USA. In den nächsten Jahren wuchs dieser Vorsprung.
Die Erschließung der Lagerstätten, die sich in unwegsamen und unwirtlichen Gebieten befanden, erforderte jedoch enorme Mittel und Investitionen. Man setzte dabei auf den Bau eines großen Pipelinenetzes, das mit der Zeit zum Hauptbeförderungsmittel von Erdöl und -gas wurde. Dafür wurden Großrohre, Maschinen und Anlagen sowie spezielle Ausrüstungen benötigte, welche die Sowjetunion jedoch aus dem Westen importieren musste. Über die modernste Technologie für die Förderung von Öl und Gas verfügten die USA, die diese aber nicht an die UdSSR verkauften. Das Exportverbot für moderne Technologien an die Sowjetunion und deren Vasallen war ein wichtiges Element der US-Politik, um die Ausbreitung des Kommunismus einzudämmen. Die übrigen westlichen Länder verpflichteten sich im Jahre 1949, diese Vorgaben der Exportkontrolle (CoCom) zu beachten.
Jedoch spätestens ab der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre begannen die westeuropäischen Länder bzw. einzelne Konzern, das Exportverbot zu brechen. Zu ihnen gehörte der Krupp-Konzern, der gegen Ende des Jahrzehnt zwei chemische Werke in die Sowjetunion verkaufte, wie Nikita Chruschtschow gegenüber Walter Ulbricht im August 1961 frohlockte. Die Konzernführung hatte den Kreml im Geheimen lediglich darum gebeten, so Chruschtschow, "dass wir mit ihnen schimpfen, sonst werden die Amerikaner sie unter Druck setzen".
Krupp war nicht der einzige deutsche Konzern, der moderne Ausrüstungen und Anlagen in die Sowjetunion lieferte. Die Schlüsselrolle spielten dabei Anlagen und Materialien zum Ausbau der Öl- und später auch der Gasindustrie. So begannen im Jahre 1958 die Konzerne Mannesmann, Phoenix-Rheinrohr und Hoesch, Großrohre für den Bau von Pipelines in die Sowjetunion zu exportieren. Sie verkauften im selben Jahr etwa 3.200 Tonnen Rohre, ein Jahr später 150.500 und 1961 207.500 Tonnen.
Im Jahre 1961 schlugen die Sowjets ihren westdeutschen Partnern folgendes Geschäft vor: Die sowjetische Seite sollte Rohstahl liefern und die deutschen Betriebe daraus Rohre herstellen, um sie anschließend in die Sowjetunion auszuführen. Auf diese Art beabsichtigten die Sowjets, die Kosten zu senken, denn sie hätten nur für Transport und Verarbeitung bezahlen müssen. Die deutschen Konzerne gingen darauf ein, und der Rohrexport in die Sowjetunion schnellte im Jahre 1962 auf 255.400 Tonnen hoch.
Gerade diese Lieferungen ermöglichten den im Jahre 1959 begonnenen Bau der Pipeline "DruÏba/ Freundschaft". Bis 1964 wurden für diese Pipeline rund 730.000 Tonnen Rohre verlegt. In den nächsten Jahren wurde sie weiter ausgebaut, die bestehenden Leitungen wurden verlängert und neue verlegt.
Diese florierende Zusammenarbeit rief die USRegierung auf den Plan, die im November 1962 die Adenauer-Regierung dazu veranlasste, ein Embargo auf den Export von Großrohren in die Sowjetunion zu verhängen. Damit wurde die deutsch-sowjetische Zusammenarbeit bei der Erschließung der sibirischen Öl- und Gasfelder vorerst gestoppt. Die bereits unterzeichneten Verträge für das Jahr 1963 wurden annulliert. und die westdeutschen Konzerne waren gezwungen, den Verkauf von Großrohren in die Sowjetunion einzustellen, ähnlich wie britische und italienische Firmen.
1965 wurden in Westsibirien weitere gigantische Erdöl- und Gasfelder entdeckt. Ende der 1960er-Jahre schätzte man, dass die UdSSR etwa über 40 Prozent aller Gasvorräte der Welt verfüge, jedoch vorwiegend in fernen und schwer zugänglichen Gebieten. Ihre Erschließung überstieg die finanziellen und technischen Möglichkeiten der UdSSR und ihrer Satelliten, sie war nur mit westlicher Hilfe möglich. Der Kreml setzte dabei erneut auf westdeutsche Konzerne und Politiker und wurde diesmal nicht enttäuscht – zumal das politische Klima in Westeuropa sich Ende der 1960er-Jahre geändert hatte und das Embargo auf den Export von Großrohren in die Sowjetunion 1969 aufgehoben wurde.
Der Beginn der Neuen Ostpolitik
Willy Brandt (2.v.l.) und Egon Bahr (l.) bei der Verabschiedung von Leonid Breschnew (2.v.r.) am 18.9.1971. Bahrs inoffizielle Kontakte mit Vertretern der UdSSR im Jahr zuvor hatten die Gesprächsgrundlage geschaffen. (© Ludwig Wegmann / Bundesregierung, B 145 Bild-00085281)
Willy Brandt (2.v.l.) und Egon Bahr (l.) bei der Verabschiedung von Leonid Breschnew (2.v.r.) am 18.9.1971. Bahrs inoffizielle Kontakte mit Vertretern der UdSSR im Jahr zuvor hatten die Gesprächsgrundlage geschaffen. (© Ludwig Wegmann / Bundesregierung, B 145 Bild-00085281)
Am 24. Dezember 1969 nahm der Kreml über einen einflussreichen sowjetischen "Journalisten" inoffiziellen Kontakt mit Egon Bahr auf, dem Kanzleramtsminister von Willy Brandt. Einen Monat später, am 28. Januar 1970, flog Bahr nach Moskau, um inoffizielle Gespräche zu führen. Bereits zwei Tage später wurde er von Andrej Gromyko, dem sowjetischen Außenminister, empfangen. In den nächsten Tagen führte Bahr weitere Gespräche, darunter mit Aleksej Kossygin, dem Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR.
Es ist jedoch kein Zufall, dass zeitgleich, am 1. Februar 1970, die Konzerne Ruhrgas und Mannesmann sowie die Deutsche Bank mit sowjetischen Regierungsvertretern ein Milliardengeschäft unterzeichneten. Der Vertrag sah die Lieferung von 1,2 Millionen Tonnen Großrohren durch die Mannesmannröhren-Werke an die Sowjets bis Dezember 1972 für eine Gaspipeline von 2.000 Kilometer Länge vor. Die Deutsche Bank finanzierte gemeinsam mit anderen deutschen Geldhäusern dieses Geschäft mit einem Kredit von 1,2 Milliarden DM zu Konditionen, die drei Prozentpunkte unter den damals üblichen Zinsen lagen. Die sowjetische Seite verpflichtete sich im Gegenzug, vom 1. Oktober 1972 bis 1992 52 Milliarden Kubikmeter Gas im Wert von 2,5 Milliarden DM zu liefern. Damit war auch der Kredit zu tilgen. Die Ruhrgas AG hatte dagegen den Auftrag, das sowjetische Gas in der BRD zu verkaufen. Obwohl diese für die sowjetische Seite sehr vorteilhaften Bedingungen geheim gehalten wurden, sickerten Informationen darüber in die Medien durch.
Die Verhandlungen für dieses Großgeschäft hatten bereits im Mai 1969 begonnen und am 4. Dezember 1969 einigten sich die Mannesmannwerke mit der sowjetischen Seite auf die Lieferung von Großrohren. Die Deutsche Bank weigerte sich jedoch, Kredite zur Finanzierung dieses Geschäftes zu gewähren. Und dies erklärt wohl die Aufnahme der informellen Kontakte mit der Regierung Brandt über Bahr am 24. Dezember 1969 und dessen Reise nach Moskau einen Monat später. Tatsächlich soll erst die Intervention der Bundesregierung die Deutsche Bank zur Gewährung des günstigen Kredits an die Sowjets überzeugt haben.
Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller musste sich wegen dieses Deals vor den französischen Verbündeten rechtfertigen und behauptete, es handele sich um einen Einzelfall. Indes waren Folgeprojekte bereits geplant, und zwar die Lieferung von Verdichtungsstationen für Gaspipelines sowie weitere 250 – 300.000 Tonnen Großrohre. Darin lagen also aus sowjetischer Sicht Genese und Sinn der neuen westdeutschen Ostpolitik begründet. Egon Bahr behauptet hingegen – nicht zu Unrecht –, dass sie auf seine und Willy Brandts Initiative zurückgehe, verschweigt allerdings gänzlich den wirtschaftlichen Aspekt.
Dank der westdeutschen Lieferungen und Kredite konnte die Sowjetunion ihre enormen neu entdeckten Erdöl- und Gasfelder in Westsibirien erschließen. Der Ausbau der Pipelines erreichte in den Jahren 1971–1975 das größte Ausmaß. Ende 1965 betrug ihre Gesamtlänge 28 500 Kilometer, bis Ende 1970 verlegte man weitere 10.000 Kilometer, in den fünf Folgejahren nochmals 19.000 Kilometer.
Einen bedeutenden Teil des Öls und Gases exportierten die Sowjets in die westlichen Länder. Seit 1945 hatten die Sowjets Erdöl in die Länder des Ostblocks ausgeführt, in den Westen hingegen erst ab 1957, als sie begannen, es in Italien zu Dumpingpreisen zu verkaufen. Seit den 60er-Jahren stieg der Ölausfuhr in die westlichen Länder allmählich. 1965 exportierte die Sowjetunion 76 Millionen Tonnen Erdöl, davon 37 Millionen in die kapitalistischen Länder, 1970 und 1975 jeweils 150 Millionen Tonnen, davon 40 Millionen in die kapitalistischen Länder und 1980 182 Millionen Tonnen, davon 64 Millionen in die kapitalistischen Länder. Noch schneller wuchs der Gasexport, von drei Milliarden Kubikmeter im Jahre 1970 über 19 und 54 Milliarden Kubikmeter in den Jahren 1975 und 1980 auf 110 Milliarden Kubikmeter im Jahre 1990.
Westdeutsch-sowjetisches Energiebündnis
Helmut Schmidt wird am 30.6.1980 in Moskau von Leonid Breschnew mit militärischen Ehren empfangen. (© Lothar Schaack / Bundesregierung, BPA B 145 Bild-00049245)
Helmut Schmidt wird am 30.6.1980 in Moskau von Leonid Breschnew mit militärischen Ehren empfangen. (© Lothar Schaack / Bundesregierung, BPA B 145 Bild-00049245)
Im Dezember 1979 sandte der Kreml an die Regierung Helmut Schmidt ein inoffizielles Signal, dass die Sowjetunion an einem weiteren gemeinsamen Großprojekt interessiert sei. Es ging um den Bau einer Pipeline von Sibirien nach Westeuropa, die den westdeutschen Bedarf an Erdgas befriedigen würde. Der direkte Abnehmer sollte die Ruhrgas AG werden und der Hauptlieferant der Technologie und Ausrüstungen zum Bau der Gaspipeline die Mannesmann AG; die Deutsche Bank sollte das ganze Unternehmen mit günstigen Krediten finanzieren. Die Sondierungsgespräche fanden im Sitz der Deutschen Bank in Düsseldorf statt und waren so geheim, dass man auf Dolmetscher verzichtete. Einer der Banker, der Russisch sprach, übersetzte.
Danach flogen drei Mitarbeiter der Deutschen Bank noch im Dezember 1979 nach Moskau, um die Gespräche mit Wissen von Bundeskanzler Schmidt fortzusetzen. Dort stellte man ihnen das Projekt für den Bau der Pipeline von den Jamal-Gasfeldern im Norden Westsibiriens bis nach Westeuropa vor. Die deutsche Seite sollte nach Vorstellungen des Kremls das Unternehmen mit einem für damalige Zeiten sehr hohen Kredit von zehn Milliarden DM finanzieren sowie die Technologie und Ausrüstung für den Pipelinebau liefern. Über die politische Brisanz des Projektes waren die deutschen Gesprächsteilnehmer sehr wohl im Bilde.
Beide Seiten einigten sich relativ schnell über das Projekt, hinter dem die Bundesregierung und der Kreml standen. Jedoch verzögerten politische Verwerfungen die weiteren Verhandlungen und ihren Abschluss erheblich. Nach der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Dezember 1979 hatten die USA im folgenden Monat wirtschaftliche Sanktionen gegenüber der Sowjetunion sowie den Boykott der Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau verkündet. Dessen ungeachtet setzten beide Seiten die Gespräche fort. In Moskau wurde eine offizielle Vertretung der Deutschen Bank gegründet, deren Leiter diese geheimen Verhandlungen koordinierte.
Diese belebten sich nach einem Telefongespräch zwischen Helmut Schmidt und Kremlchef Leonid Breschnew. Am 30. Juni 1980 flog der Bundeskanzler zu einem zweitägigen Staatsbesuch nach Moskau. Die sowjetische Aggression in Afghanistan spielte dabei offenbar keine große Rolle. Ohne auf die US-Kritik zu achten, unterzeichnete Schmidt in Moskau ein Abkommen über eine langfristige wirtschaftliche deutsch-sowjetische Zusammenarbeit. Zwei Wochen später begannen in der Zentrale der Deutschen Bank in Düsseldorf die – diesmal offiziellen – Verhandlungen über das Pipelineprojekt.
In den nächsten drei Jahren wurden die Verhandlungen in den Medien heiß diskutiert, in den westlichen wie in den sowjetischen. Die US-Regierung mit Ronald Reagan an der Spitze kritisierte das Unternehmen scharf. Reagan war über den fatalen Zustand der sowjetischen Wirtschaft gut informiert und wusste, wie sehr den Sowjets daran lag, technologische und finanzielle Hilfe aus dem Westen zu erhalten. Er betrachtete das Großprojekt als Subvention und Wirtschaftshilfe für das Imperium des "Bösen", das eine Bedrohung für Frieden, Freiheit und Demokratie in der ganzen Welt darstelle, aber zugleich kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps stünde.
Was auch immer Helmut Schmidt dachte, als er sich für das Projekt einsetzte, das für die Sowjetunion möglicherweise die letzte Chance darstellte, um das kommunistische Reich zu stabilisieren und modernisieren und den wirtschaftlichen Niedergang abzuwenden – auf jeden Fall gelang es dem Bundeskanzler, die Unterstützung Frankreichs, Italiens und Belgiens zu erhalten. Aber auch die Opposition (CDU/CSU) verfolgte keinen anderen Kurs. Nach dem Machtwechsel im Oktober 1982 ließ der neue Bundeskanzler Helmut Kohl die Verhandlungen über das Großprojekt zum Abschluss bringen. Im Sommer 1983 unterzeichnete der Vertreter der Deutschen Bank in Leningrad das Abkommen über die Finanzierung des Pipelineprojektes mit einem Volumen von zehn Milliarden DM.
Reagan jedoch gab nicht so schnell auf. Bereits 1980 hatte er ein Embargo auf die Lieferung von Ausrüstungen zum Bau der Gaspipeline verhängt, insbesondere auf Turbinen für Verdichtungsstationen. Schmidt hatte das Embargo abgelehnt und erklärt, das Projekt werde fortgesetzt. Andere westeuropäische Länder schlossen sich dem an. Westeuropäische Firmen, darunter die westdeutsche AEG-Kanis, produzierten solche Turbinen, allerdings beruhend auf US-Lizenzen. Reagan hatte jedoch auch diese Ausrüstungen in das Embargo eingeschlossen und erklärt, die Sowjets sollten ihre Pipeline allein bauen, ohne amerikanische Technologie. Trotzdem erklärten die westeuropäischen Regierungen, sie würden das US-Embargo nicht beachten.
Nach langen Verhandlungen gab die US-Regierung – teilweise – nach. Das Projekt wurde um viele Monate hinausgezögert und immerhin um die Hälfte reduziert – es sollte nur eine Rohrleitung verlegt werden und nicht zwei, wie ursprünglich geplant. Darüber hinaus verpflichteten sich die westeuropäischen Regierungen, eine restriktivere Kreditpolitik gegenüber der Sowjetunion zu verfolgen und den Technologietransfer dorthin zu kontrollieren und einzuschränken. Die ersten Gaslieferungen über die Pipeline "Jamburg" begannen 1989.
Verzögerter Zerfall
Der steigende Export von Energierohstoffen in die westlichen Länder sicherte der Sowjetunion einen breiten Zustrom an Devisen. Im Jahre 1967 beliefen sich die Einnahmen aus dem Ölexport auf eine Milliarde Dollar, zehn Jahre später auf 7,5 Milliarden, um 1981 auf 15 Milliarden Dollar zu steigen. Nicht weniger wichtig waren die Einnahmen aus dem Gasexport. In den 1970er-Jahren und zu Beginn der 80er-Jahren sicherte der Export der beiden Rohstoffe Moskau 60–80 Prozent seiner Deviseneinahmen.
Seit den 1960er-Jahren sicherten diese Einnahmen die Mittel zur Aufrechterhaltung des sowjetischen Imperiums und seiner Wirtschaft und ersetzten die Einnahmen aus der Landwirtschaft, die sich bereits in diesem Jahrzehnt im radikalen Niedergang befand. Auch die Ausbeutung der Ostblockländer, die zum sowjetischen "Wirtschaftswunder" entscheidend beigetragen hatte, war nicht mehr in großem Stil möglich.
Die Devisen für Energierohstoffe ermöglichten es den Sowjets, Anlagen, Maschinen und Technologie für den weiteren Ausbau der Gas- und Erdölindustrie einzukaufen, wobei ein Drittel dieser Lieferungen aus der BRD kam, die übrigen aus Italien, Frankreich und Japan. Darüber hinaus importierten die Sowjets in zunehmendem Maße Getreide – ein deutliches Indiz für die katastrophale Lage ihrer Landwirtschaft – und Industrieartikel wie Schuhe und Textilien. Die Exporteinnahmen verlangsamten den wirtschaftlichen Niedergang der Sowjetunion, erhielten die gigantische Armee und die Rüstungsindustrie über viele Jahre aufrecht, finanzierten den Partei-, Terror- und Propagandaapparat. Hinzu kamen weitere Ausgaben wie der kostspielige Krieg in Afghanistan und die finanzielle Unterstützung von kommunistischen Regimen in anderen Ländern. Allein für die Rüstung gab die Sowjetunion 1989 etwa ein Drittel ihres Budgets aus.
Die Einnahmen aus der Öl- und Gasförderung und deren Export zögerten den wirtschaftlichen Zerfall der Sowjetunion zwar hinaus, konnten sie aber nicht davor retten. Im Jahre 1987 stellte ein Experte von Gosplan, der obersten Planungsbehörde in der UdSSR, während einer internen Konferenz fest: "Ohne Samotlor [enorme Öl- und Gasfelder in Westsibirien, die 1965 entdeckt worden waren] hätte das Leben uns gezwungen, die wirtschaftlichen Reformen vor 10–15 Jahren einzuführen."
Verfall der Preise und Zerfall der Sowjetunion
Der wachsende Export der strategischen Energieträger garantierte jedoch nicht gleichermaßen steigende Einnahmen, und zwar wegen der fallenden Preise ab 1980. 1985/86 verfielen die Preise für Gas und Öl in geradezu dramatischer Weise, was offenkundig auf die gezielte Energiepolitik der USA zurückzuführen war. Reagans Administration gelang es 1985, die Machthaber in Saudi Arabien, dem größten Erdölexporteur, zu überzeugen, deren Ölförderung radikal zu steigern und die Ölpreise zu senken. Daraus resultierte ein rapider Preisverfall für Energierohstoffe. Kostete im November 1985 das Barrel Rohöl noch 30 US-Dollar, so war es fünf Monate später für nur noch zwölf US-Dollar zu haben. Moskau verlor innerhalb von wenigen Monaten zehn Milliarden US-Dollar aus erwarteten Exporteinnahmen. Wegen der hohen Förderungs- und Transportkosten wurde die Ausfuhr in die westlichen Länder zu diesen Preisen gar zum Verlustgeschäft.
Der US-Ökonomie und den anderen westlichen Wirtschaften brachten die billigen Energierohstoffe nur Vorteile. Für die Sowjetunion bedeute der Preisverfall aber eine Katastrophe und stürzte sie in eine Finanz- und Haushaltskrise, von der sie sich nicht mehr erholen sollte. Hinzu kamen weitere Geschehnisse, welche die finanzielle Lage der Sowjetunion
auf das Schwerste belasteten. Am 26. April 1986 ereignete sich im Kernkraftwerk Tschernobyl die bis heute schwerste nukleare Havarie. Die Schäden des Super-GAU werden auf mehrere Hundert Milliarden US-Dollar geschätzt.
Die westeuropäischen Länder bemühten sich noch, die sich im freien Fall befindende sowjetische Wirtschaft und die 1986 von Gorbatschow begonnenen Reformen zu unterstützen. Sie gewährten der Sowjetunion Milliardenkredite und Subventionen. Die sowjetische Auslandverschuldung stieg von 20 Milliarden Dollar im Jahre 1986 auf 103 Milliarden fünf Jahre später, als die Sowjetunion endgültig zerfiel.
Der Zerfall der Sowjetunion und ihres Imperiums scheint also "dank" der westdeutschen Ostpolitik keineswegs unabwendbar gewesen zu sein. Die Situation des heutigen Russland, das beinahe ausschließlich vom Export seiner Energierohstoffe lebt, bestätigt dies. Die wirtschaftliche Hilfe und Subventionen der BRD und anderer westlicher Länder hätten bei höheren Preisen für Energierohstoffe die Sowjetunion und somit die osteuropäischen Regime, auch die DDR, möglicherweise vor dem Zusammenbruch bewahren können. So hat die Neue Ostpolitik von Willy Brandt und seinen Nachfolgern (Helmut Schmidt und auch Helmut Kohl) die Sowjetunion nicht vor dem Zerfall retten können, doch hat sie den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und damit letztlich auch die deutsche Wiedervereinigung um etliche Jahre hinausgezögert.
Verantwortliche, wie insbesondere Egon Bahr, haben es im Nachhinein versäumt, diese Politik kritisch zu hinterfragen. Im Gegenteil, sie behaupten, dass gerade ihre angeblich besonnene und weitsichtige Ostpolitik entscheidend zum Zusammenbruch der kommunistischen Regimes in Europa und zur deutschen Wiedervereinigung beigetragen hätte. Inzwischen ist diese Behauptung gar zum Gründungsmythos des wiedervereinigten Deutschland geworden. Blickt man auf die wirtschaftlichen Komponenten der Neuen Ostpolitik, so stellt sich dies allerdings ganz anders dar.