Thomas Großbölting (Hg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, 2. Aufl., Berlin: Ch. Links 2010, 333 S., € 19,90, ISBN: 9783831535430.
Armin Fuhrer: Von Diktatur keine Spur? Mythen und Fakten, München: Olzog 2009, 157 S., € 14,90, ISBN: 9783789283093.
Mythen über die DDR halten sich zählebig. Das hat verschiedene Gründe. So neigen wir dazu, das Negative zu verdrängen und zu vergessen, das Positive zu behalten oder gar sentimental zu schönen. Und: Oft wird nicht differenziert zwischen einem "guten Leben" und einem "schlechten System". Schließlich gibt es Autoren, die auch heute noch die SED-Diktatur rechtfertigen. Das gilt etwa, um subtilere Studien nicht zu erwähnen, für Heinz Keßler
Von ganz anderem Kaliber sind die beiden folgenden Darstellungen. Sie sind unterschiedlich – und doch ähnlich.
Bei dem Sammelband von Thomas Großbölting, der von 2005 bis 2007 die Abteilung Bildung und Forschung bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen geleitet hat, später an der Universität Magdeburg lehrte und seit 2009 Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Münster unterrichtet, handelt es sich um eine Sammlung von 15 Aufsätzen, die wissenschaftlich ambitiös argumentieren und mit Anmerkungen die jeweiligen Positionen dicht belegen. Die wissenschaftliche Perspektive steht im Vordergrund. Hingegen ist die eher dünne Schrift von Armin Fuhrer, einem langjährigen "Focus"-Journalisten, der zuletzt in dichter Folge eine Reihe von Büchern zu historischen Themen auf den Markt gebracht hat
Im Wesentlichen sind es zwei Bereiche, die in dem jeweils anderen Buch fehlen. So geht Armin Fuhrer mit der Umweltpolitik der DDR ebenso hart ins Gericht wie mit der DDR-Politik gegenüber Juden. In dem Großbölting-Buch untersucht Patrice G. Poutrus die Rolle der DDR als "Hort der internationalen Solidarität". Damit war es nicht weit bestellt. Und Christoph Links nimmt sich der These vom "Leseland DDR" an. Er hält diese These für richtig, erklärt sie zutreffend unter anderem damit, "dass Literatur für viele Menschen ein Stück Welt- und Erlebnisersatz darstellte, da durch die reglementierten gesellschaftlichen Verhältnisse viele Dinge nicht selten ausprobiert oder aufgrund von Reisebeschränkungen nicht selbst erlebt werden konnten. Literatur stellte eine Art Ersatzöffentlichkeit dar" (197). Heute habe sich das Lektüreverhalten im Osten und im Westen des Landes angeglichen. "Was also einst als besondere kulturelle Leistung herausgestellt wurde, war zugleich ein Reflex auf den Mangel an freien Entscheidungsmöglichkeiten" (206).
Der Reader Großböltings, dem jeder volkspädagogischer Eifer abgeht, enthält eine Vielzahl an aufschlussreichen Beiträgen. Einige seien herausgegriffen: Thomas Großbölting sieht die SED-Diktatur nicht als "Stasi-Staat" an, wenngleich sich das System ohne die Staatssicherheit nicht gehalten hätte. Weder war diese allmächtig noch die DDR ein "Volk von Spitzeln". Gerade deshalb bedurfte sie des starken Netzes von "inoffiziellen Mitarbeitern". Marc-Dietrich Ohse untersucht die Frage, ob die DDR ein "Staat der Jugend" gewesen sei. Zeitweilig hatte die SED Unterstützung bei Teilen der jungen Bevölkerung (etwa in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre), aber generell war dies nicht der Fall. Es überwog ein mehr unfreiwilliges als freiwilliges Arrangement. Die Frage, ob die Nationale Volksarmee (NVA) ein "Armee des Volkes" war, beantwortet Matthias Rogg mit einem klaren Nein. Die DDR sei ein militarisierter Staat gewesen. Fast zwei Millionen Menschen gehörten einer militärischen oder paramilitärischen Organisation an. Dem stand eine "Ghettoisierung der Armeeangehörigen" (282) gegenüber. Paradoxerweise, und das kommt bei Rogg nicht vor, ist die Integration ehemaliger Angehöriger der NVA in die Bundeswehr gut geglückt.
Auch die folgenden Beiträge sind informationsgesättigt, gut reflektiert und damit lesenwert: von Rainer Karlsch über die DDR-Wirtschaft, von Gunilla Budde über die Gleichstellung von Mann und Frau, von Christoph Kleßmann über Arbeiter im "Arbeiterstaat", von Hermann Wentker über die DDR als internationaler Akteur, von Jutta Braun über Triumph und Trugbild des DDR-Sports, von Dierk Hoffmann über den "Schein der Sozialen Sicherheit" und von Wolfgang Lambrecht über das DDR-Bildungssystem: Die These, "Von Finnland lernen heißt, von der DDR lernen", gehöre in das Reich der Legenden. Der Aufsatz von Stefan Haas über Bürgerbeteiligung in der DDR am Beispiel der Wohnungsbaupolitik in den Fünfzigerjahren fällt durch die zeitliche und die thematische Einengung etwas aus dem Rahmen. Er trägt zudem wenig zur Beantwortung der Leitfrage nach den Legenden bei.
Ein Beispiel für die Ähnlichkeit der Argumentation in den beiden Bänden bietet der "Antifaschismus". Rüdiger Schmidt stellt ihn als Gründungsmythos mit einer zunächst integrativen Funktion dar. Als vorgebliche "Sieger der Geschichte" mussten sich Ostdeutsche nicht mit der "braunen Vergangenheit" auseinandersetzen. Gewiss hatte der Antifaschismus an Überzeugungskraft verloren, aber es ist nicht richtig, wenn es bei Schmidt heißt, die SED-Eliten hätten sich im Herbst 1989 kaum noch um diesen antifaschistischen Gründungsmythos bemüht. Eine solche Blickverengung unterlässt Armin Fuhrer, für den Antifaschismus stets ein "Instrument der SED" war, die sie als Legitimationsquelle zu nutzen verstand. Stärker als bei Schmidt firmiert der Antifaschismus als Kampfmittel zur Beseitigung der Demokratie und zur Aufrechterhaltung der Diktatur.
Von Diktatur keine Spur? (© Olzog Verlag)
Von Diktatur keine Spur? (© Olzog Verlag)
Fuhrer will an der "Wiederkehr der Ostschrippe", so lautet sein Einleitungsbetrag, eine Art Ostalgie festmachen. Ostdeutsche fühlten sich durch Kritik an der SED-Diktatur persönlich angegriffen und sparten nicht mit Kritik an (tatsächlichen oder vermeintlichen) heutigen Missständen. Von einer "Rückkehr der DDR" (8) zu sprechen, ist jedoch nicht sinnvoll. Diese Sichtweise verzerrt. Das Büchlein soll "ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um die 'Vorzüge' des DDR-Systems sein" (14). Es ist in vier, jeweils wieder unterteilte Großkapitel gegliedert: "Repression" – "Die Fürsorgediktatur" – "Wirtschaft: Der Primat der Politik (oder der alten Männer)" – "Die Mär vom besseren Deutschland". Jedem der 21 Abschnitte ist eine prägnante Zusammenfassung vorangestellt. Zum Schluss findet sich ein (leider höchst unvollständiges) Glossar häufig verwendeter Begriffe. Die Kritik ist, ohne ins Polemische abzugleiten, jeweils geharnischt. Überzeugend fällt die Verteidigung des Begriffs "Unrechtsstaat" aus. Insgesamt ist Fuhrers gut geschriebner Beitrag als Einführung in die Thematik geeignet.
Beide Bücher versachlichen die Debatte. Das ist so nötig wie sinnvoll, wenn man Umfragen Glauben schenkt, wonach nicht nur die Kenntnisse von Schülern über den SED-Staat mager ausfallen (mehr in den östlichen als in den westlichen Bundesländern), sondern auch fast die Hälfte von ihnen diesen nicht als Diktatur ansieht.