Die Verteidigung des Erinnerns
Eine Würdigung von "Memorial" aus historischer Perspektive
Wolfgang Templin
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Die 1987/88 entstandene Gesellschaft "Memorial" und ihre später entstandenen Folgeorganisationen ringen um den Wiedergewinn des historischen Gedächtnisses der russischen Nation. Die Auslöschung der Erinnerung an die Ereignisse und ungeheuren Verbrechen in den Jahrzehnten der Sowjetunion gehörte zum Wesenskern der kommunistischen Diktatur. Wiederholt sich jetzt Geschichte - angesichts der aktuellen Gerichtsurteile gegen Memorial?
Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion unter Michail Gorbatschow, die friedlichen Revolutionen des Jahres 1989, die Zeit des Umbruchs bis zum Zerfall der Interner Link: Sowjetunion 1991 und die Präsidentschaft Boris Jelzins gaben Opfern, ihren Angehörigen und den Nachgeborenen die Chance gegen diesen Gedächtnisverlust anzugehen.
Der Machtantritt Wladimir Putins 1999 und seine Strategie des unbegrenzten Machterhalts führten dazu, dass wiederum ein zunehmend autokratisches System entstand. Anfangs gehegte Hoffnungen auf mehr Demokratisierung zerstoben schnell. Auch das unter Gorbatschow und Jelzin zurückgewonnene Bewusstsein über die sowjetische Unrechtszeit, über die Untaten und Verbrechen, über den Kampf und das Leiden der Opfer und die Identität der Täter wurde mehr und mehr in Frage gestellt. Opfer wurden nach außen hin gewürdigt, während die Täter in der Namenlosigkeit verschwinden sollten. Das ist der Hintergrund des Vorgehens gegen Memorial und seine Unterstützer*innen. Ein solches Vorgehen kann auf Dauer nicht erfolgreich sein, denn die Unterstützer*innen von Memorial im Kampf um das historische Gedächtnis sind zu zahlreich.
Die Anfänge der Roten Diktatur 1917
Als die Interner Link: Bolschewiki unter Wladimir Iljitsch Lenin, in den Jahren 1917/1918 den Zusammenbruch des Zarenreiches nutzten und ihre eigene „Rote Diktatur“ errichteten, setzten sie zur Sicherung ihrer Macht von Beginn an härteste Methoden ein. Massenverhaftungen und Exekutionen von politischen Gegnern, und der Aufbau eines eigenen, auf Terror setzenden Repressionsapparates, der allrussischen Tscheka unter Felix Dzierzynski gehörten dazu. Die Phase der Machtergreifung und des Bürgerkrieges, und der damit verbundene Terror blieben mit Lenin und dem seiner engsten Mitarbeiter*innen verbunden.
In seinem 1924 entstandenen „Testament“, befürchtete Lenin, dass die Macht an Jossif Wissarionowitsch Stalin, einen seiner engsten Gefolgsleute, übergehen könnte. Die Machtkämpfe im Führungszirkel der Bolschewiki nach Lenins Tod, machten Stalin dann tatsächlich zum Gewinner. Unter seiner Herrschaft, verwandelte sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die stets mit Terror verbundene Politik seines wechselnden Führungszirkels, zum millionenfachen Massenmord, der bis zu Stalins Tod im Jahre 1953 anhielt. Gnadenlose Säuberung in den eigenen Reihen, dem ein Großteil der Bolschewiki und kommunistischer Kader zum Opfer fiel, die Liquidierung von Klassenfeinden, Angehörigen des Bürgertums und der Intelligenz gehörten dazu.
Ein Teil des Terrors richtete sich gegen Angehörige der russischen Nation selbst, aber noch intensiver wurde gegen Angehörige anderer Nationen und Nationalitäten innerhalb der Sowjetunion vorgegangen. Zu ihnen zählten Ukrainer*innen, Polen*innen, Angehörige der baltischen Nationen, aber auch Georgier*innen oder die Angehörigen der Nationen des Kaukasus und jüdische Mitbürger*innen. Entweder sprach man ihnen die eigene nationale Identität ab und machte sie zu Angehörigen der russischen Nation, wie Ukrainer*innen und Belarus*innen oder man erklärte sie zu historischen Erbfeinden, wie die Polen*innen und Balt*innen. Der Erschießungstod in den Hinrichtungskellern der Gefängnisse oder den Hinrichtungsstätten des Innenministeriums (NKWD) und der GPU war das hunderttausendfache Schicksal der Opfer dieses Massenterrors. GPU war seit 1922 die Bezeichnung der Geheimpolizei der Sowjetunion und Nachfolgeorganisation der Tscheka.
Noch ungeheuerlicher waren die Zahlen der in alle Winkel des riesigen Reiches Deportierten. Das Lagersystem des Gulags wurde vor allem im nördlichen Teil Russlands und in Sibirien errichtet.
Verdrängen, Vergessen, Löschen
So penibel die Aktenführung über all diese Verbrechen war, so groß waren die Anstrengungen, die Erinnerung daran, das Gedächtnis darüber auszulöschen. Dazu konnten bei Kommunist*innen und Anhänger*innen des Systems, der unerschütterliche Glaube an die Größe der Sache und die Heldengestalt des Führers genutzt werden. Wem dieser Glaube, diese Überzeugung fehlte, konnte durch die Wirkung physischer und psychischer Folter, langandauernder Torturen und die irrige Hoffnung, das Schicksal seiner Angehörigen zu erleichtern, zur kompletten Selbstverleugnung, zu den absurdesten Selbstbezichtigungen und Geständnissen gebracht werden. Die Moskauer Schauprozesse von 1937/38 sind voll von Erklärungen und Geständnissen der Angeklagten, Mitglieder trotzkistischer Verschwörungszirkel, ausländischer Agentennetze und Spionageorganisationen gewesen zu sein, oder Sabotageaktionen angeführt zu haben. Hinter der massenhaft inszenierten Scheinwelt der Prozesse und Propagandakampagnen verschwand die historische Realität.
Wenn im westlichen Ausland, in der internationalen Öffentlichkeit Berichte und Zeugnisse auftauchen, welche die Wahrheit hinter diesen Inszenierungen beschrieben, und die Realwelt hervortreten ließen, wurden sie häufig nicht geglaubt, ihre Verfasser in Frage gestellt und diskreditiert. Zu stark war häufig das Bedürfnis an den Sinn des kommunistischen Aufbauwerkes zu glauben, Stalin und seinen Propagandisten zu folgen.
Das wohl berühmteste Beispiel dafür wurde der Intellektuelle und Schriftsteller Artur Koestler (1905-1983), in seinen Jugendjahren selbst Kommunist. Koestler bereiste die Sowjetunion in den frühen Dreißigerjahren. Er verschloss die Augen nicht, vor den Tatsachen, die ihn erreichten, erklärte sie sich aber zunächst als „Nachwehen der Revolution“. Erst die späteren Wellen der Verfolgung, seine Erlebnisse im spanischen Bürgerkrieg und die Konfrontation mit überlebenden Opfern der Moskauer Schauprozesse von 1937/38 ließen ihn von dieser Sicht abrücken. In seinem 1940 erschienenen Buch „Sonnenfinsternis“ und der wenig später erschienenen Essaysammlung „Der Yogi und der Kommissar“, schilderte er die Mechanismen, Persönlichkeiten zu zerbrechen, sie dazu zu bringen, erfundene Welten vorzustellen, und die Wahrheit über sich und ihre Vernehmer und Folterer, verschwinden zu lassen.
Ein positivierender Mythos
Koestler schlug sein ganzes Leben lang eine Welle von Hass und Verachtung entgegen, die von prokommunistischen Intellektuellen aber auch von liberalen bürgerlichen Sympathisanten der Sowjetunion ausging. Die ungeheuren sowjetischen Opfer im Zweiten Weltkrieg, die Rolle Stalins als Teil der Anti-Hitler-Koalition trug dazu bei, den positiven Mythos zu erhalten, ja zu bestärken, und die Augen vor der ungeheuerlichen Wahrheit zu verschließen. Als der ehemalige Trotzkist David Rousset, der die Hölle nationalsozialistischer Konzentrationslager überlebt und beschrieben hatte, für das sowjetische Lagersystem den Begriff Gulag prägte, wurde Rousset in Frankreich heftig angegriffen.
Deutlich wurde das auch am Schicksal eines Buches, zu dem Koestler die Einleitung schrieb. Der österreichische Physiker Alexander Weissberg-Cybulski, selbst Kommunist, war 1931 einem Ruf an das Ukrainische Polytechnische Institut nach Charkow gefolgt und mit seiner Familie in die Sowjetunion gezogen. Er wurde 1937 verhaftet. Man beschuldigte ihn, eine Gruppe von Terroristen angeworben zu haben, um Stalin und Kliment Woroschilow während eines Jagdausfluges in den Kaukasus zu ermorden. Im Falle eines Krieges sollten die wichtigsten Industriebetriebe der ukrainischen Hauptstadt in die Luft gesprengt werden. Das alles habe er als Komplize Nikolai Bucharins unternommen, einem der engsten bolschewistischen Kampfgefährten Lenins und Stalins. Bucharin fiel den Säuberungen selbst zum Opfer.
Weissberg-Cybulski gestand all diese Verbrechen, die er weder geplant, noch begangen hatte in einer öffentlichen Verhandlung. Er hatte das außergewöhnliche Glück, dass er nach dieser kompletten Inszenierung am Leben blieb und später nach internationalen Protesten in Freiheit kam. Das Buch, das er über seine Erlebnisse und Erfahrungen schrieb: „Hexensabbat. Russland im Schmelztiegel der Säuberungen“ gehört zu den eindringlichsten Schilderungen darüber, wie die umgekehrte Welt der Terrorprozesse entstehen und funktionieren konnte. Das Buch erschien 1951, noch zu Lebzeiten Stalins und wurde von vielen Kritikern als Lügengespinst und Kalte-Kriegs-Propaganda abgetan.
Die Rolle Chruschtschows
Nach dem Tod Stalins im März 1953 - in den ersten Jahren des Kampfes um seine Nachfolge- sickerten immer mehr Nachrichten, über den Terror der Dreißigerjahre, über die Fortexistenz des Gulag-Systems nach draußen. Es war jedoch mehr wie ein Flüstern. In der gelähmten und paralysierten sowjetischen Gesellschaft hielt das Schweigen über diese Zeit, ihre Opfer und Täter an. Eine gewisse Bewegung brachte hier Nikita Chruschtschow 1956 hinein, der sich als Mitglied des innersten Führungszirkels, im Kampf um die Nachfolge gegen seine Konkurrenten durchgesetzt hatte.
Auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, berief Chruschtschow überraschend eine geschlossene Sondersitzung ein, zu der nur ausgewählte Delegierten zugelassen wurden. Die überraschten Teilnehmer*innen wurden mit einer Rede konfrontiert, von der sie sich keine Notizen machen durften. Tonbandmitschnitte waren selbstverständlich verboten. Inhalt der Ansprache war der Personenkult um Stalin, die Auswüchse und Konsequenzen dieses Personenkults und der daraus erwachsene Terror.
Später, in seinen Memoiren sollte Chruschtschow behaupten, dass er bei dieser Rede und der Einladung dazu einem spontanen Impuls gefolgt sei. Das konnte so kaum stimmen. Der Wortlaut der Rede, der allen Vorkehrungen zum Trotz schnell nach außen gelangte, in Parteikreisen heimlich zirkulierte und bald auch in der internationalen Presse auftauchte, umfasste mehr als 20.000 Worte. Die sorgfältig redigierte Rede las Chruschtschow vom Blatt ab. Was auch immer sein eigener Aufklärungsimpuls dabei gewesen sein mochte, das Verlesen der Rede war ein parteipolitisches Manöver, um die eigene Machtposition zu stärken und sich selbst als Verkörperung einer neuen Ära in der Sowjetgeschichte erscheinen zu lassen. Bezeichnend war, das Chruschtschow sich in seiner Rede, auf den Terror Stalins gegenüber der eigenen Partei beschränkte, die weitausgrößeren Verbrechen am sowjetischen Volk und an ausländischen Kommunisten und Sympathisanten, wie Weissberg-Cybulski aber aussparte.
Wie intensiv sich Stalin bei seinen Verbrechen auf die Angehörigen anderer nichtrussischer Nationen konzentrierte, konnte Chruschtschow aus seiner eigenen Geschichte wissen. Er war Ukrainer und hatte sich in seiner Funktion als Generalsekretär der Ukrainischen Kommunistischen Partei an Säuberungen beteiligt und Erschießungskommandos angeführt.
Während seiner Rede, wurde Chruschtschow ein Zettel auf das Podium gereicht, auf dem die Frage stand, was er denn selbst in dieser Zeit, angesichts der Verbrechen Stalins getan habe. Er las den Zettel und bat den unbekannten Fragesteller aufzustehen und sich im Publikum zu erkennen zu geben. Schweigen der Anwesenden im Saal war die einzige Reaktion. So sei auch seine Haltung damals gewesen, erklärte Chruschtschow. Er habe aus Furcht geschwiegen, solange Stalin an der Macht war.
Mit dem Fokus auf den Personenkult um Stalin und seine Untaten, war das gesamte Terrorsystem noch nicht in Frage gestellt. Chruschtschow macht nach 1956 vorsichtige Liberalisierungsschritte, die in der Sowjetunion selbst aber vor allem den Ostblockländern mit Hoffnung aufgenommen wurden und die sogenannte Tauwetterperiode einläuteten. Ein Teil des Gulag-Lagersystems wurde aufgelöst, eine Rehabilitierungskommission nahm ihre Arbeit auf. Doch erst 1989 wurde die Existenz der Geheimrede und ihr Wortlaut in der Sowjetunion öffentlich zugänglich gemacht.
Wachsender Mut Fragen zu stellen
In den späten Fünfzigerjahren, die auf die Maßnahmen Chruschtschows folgten, wurde das von Furcht und Lähmung der Menschen diktierte Schweigen immer häufiger durchbrochen. Opfer des Terrors oder ihre Angehörigen, die von der Rehabilitierungskommission nicht angehört wurden, weil sie zur falschen Opferkategorie gehörten oder keine ausreichenden Dokumente beibringen konnten, suchten sich spontan zu organisieren. Junge Menschen fanden den Mut, ihre Fragen immer öfter öffentlich zu stellen.
Der Lagerinsasse und spätere Schriftsteller Alexander Solschenizyn wurde zur literarischen Stimme für alle Versuche der Wahrheitsfindung, der Dokumentation des Geschehenen, zum Wiedergewinn des Gedächtnisses. Er wurde als Offizier der Roten Armee und Kriegsteilnehmer im Jahre 1945 verhaftet, weil er intern Kritik an Stalin geäußert hatte. Zu Lagerhaft und späterer Verbannung verurteilt, die er bis 1962 verbüßte, hielt er seine eigenen Erlebnisse fest und sammelte systematisch weitere Erinnerungen und Dokumente. Neben anderen Werken entstand der monumentale dreibändige Zyklus Der Archipel Gulag. Die Versuche, seine Texte und Bücher zunächst im Land zu veröffentlichen, und sein Kampf mit der Zensur füllen eigene Werke. Als seine Bücher im Ausland erschienen, erlangte er schnell internationales Ansehen, 1970 wurde er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Die Veröffentlichungen im Ausland und seine Popularität ließen den Druck auf ihn wachsen, führten 1974 zu seiner Verhaftung unter der Anklage des Landesverrats und der anschließenden Ausweisung. Im Exil setzte Solschenizyn seine literarische Arbeit fort.
Aus den Anfängen in den Fünfzigerjahren entwickelte sich in der Sowjetunion eine Bewegung von Oppositionellen und intellektuellen Dissident*innen, in der Vertreter*innen verschiedener Nationen und Weltanschauungen zusammenarbeiteten. Sie waren nicht durch ein politisches Programm, sondern durch gemeinsame Werte verbunden, zu denen das Ethos der Wahrheit gehörte, das Bemühen den Opfern eine Stimme zu geben und die Täter aus der Anonymität zu reißen. Sie nahmen Ausgrenzung, Repressionen und Verhaftungen auf sich, setzten ihre Arbeit unter den schwierigsten Bedingungen fort. Auf dem Roten Platz protestierte eine kleine Gruppe von ihnen im August 1968 gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in Prag. Sie wussten sich Oppositionellen und Dissident*innen in allen Ländern des Ostblocks verbunden, ob in Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn oder der DDR, suchten den Kontakt und die Zusammenarbeit mit ihnen.
In der Chronik der laufenden Ereignisse, einer Untergrundzeitschrift, die zwischen 1968 und 1983 in mehr als 60 Ausgaben erschien, berichteten sie über Repressionsakte, Verhaftungen, Einschränkungen und Verletzungen der Bürgerrechte und mangelnde Rechtsstaatlichkeit. In Verbindung mit historischen Dokumentationen stellten sie so die Brücke zwischen dem Kampf um die Wahrheit und dem Einsatz für Menschenrechte her.
Neue Hoffnungen 1975 durch die KSZE und ab 1986 durch Gorbatschow
Während die offiziellen Vertreter der Ostblockstaaten an der Konferenz, die am Abschlussdokument mitgewirkt hatten, darin eine Quelle der eigenen Legitimation und Aufwertung sehen wollten, stützten sich die Oppositionellen auf die in anderen Passagen festgehaltene Geltung der Menschenrechte. Ihre Berufung darauf wurde zur Grundlage der Bildung eigener Helsinkigruppen. In Russland, im Baltikum und der Ukraine entstanden Helsinki-Komitees. Sie wurden im gesamten Herrschaftsgebiet der Sowjetunion brutal unterdrückt und verfolgt, auch weil sich in ihnen der Bürgerrechtsgedanke mit den Ansätzen nationaler Unabhängigkeitsbewegungen verband.
Auf dieses Fundament, auf die damit verbundenen Frauen und Männer stützte sich die informelle Gründung der Vereinigung Memorial Ende 1987. Sie stand bereits unter dem Einfluss der mit Michail Gorbatschow verbundenen Glasnost- und Perestroika-Hoffnungen, Gorbatschow war im März 1985 zum neuen Generalsekretär der KPdSU bestimmt worden.
Offizielle Gründung 1989: "Wir wollen wissen"
Im Januar 1989 konnte dann die offizielle Memorial Gründung folgen, mit dem Kernphysiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow als Vorsitzendem.
Die Bereitschaft des Reformers Gorbatschow, immer größere Teile der historischen Wahrheit freizugeben, und den Zugang zu den Archiven zu erleichtern ließ die Menschen über das Jahr 1989 hinaus Hoffnung schöpfen. Millionen gingen mit der Forderung „Wir wollen wissen“ auf die Straße. Gorbatschows Kontrahent und Nachfolger als 1991 erster frei gewählter Präsident Russlands, Boris Jelzin, ließ nach dem Zerfall der Sowjetunion, an dem er selbst beteiligt war, zunächst Raum für diese Hoffnung. Aus Memorial wurde ein internationales Netzwerk, mit einem russischen Zentrum in Moskau und rund 60 internationalen Mitgliedsorganisationen in Russland, der Ukraine, Deutschland, Tschechien, Belgien, Frankreich und Italien.
Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen in der Gegenwart, sowie die Sorge um die Opfer der politischen Verfolgung, sind in der Tätigkeit von Memorial untrennbar mit einander verbunden.
Erste Rückschläge unter Jelzin
Noch in den Neunzigerjahren, während der Amtszeit von Boris Jelzin, erfuhr die Arbeit von Memorial Rückschläge und Behinderungen. Jelzin war mit dem Versprechen demokratischer Reformen angetreten und kündigte an, die Macht der Geheimdienste einzuschränken und die Türen der Archive aufzustoßen. Aber die nur halbherzig angegangene Auflösung der alten Geheimdienste blieb stecken, nicht nur deren Zentrale am Moskauer Lubjanka-Platz sah einen Machtzuwachs der umbenannten Dienste.
Die nur halbgeöffneten Türen der Archive schlossen sich wieder zusehends. Die Machtübergabe Jelzins an den Geheimdienstoffizier Wladimir Putin läutete eine Periode ein, in der sich der Umgang mit der Vergangenheit, erneut zur Geschichtspolitik für den Machterhalt eines autoritären und immer stärker diktatorischen Systems verwandelte
Gezielte Verklärung unter Putin
In den staatstreuen Medien und von den Propagandist*innen des Interner Link: Putin-Systems wird eine Sowjetunion beschworen, die sich im heldenhaften Kampf gegen ihre aggressiven Nachbarn und Feinde bewähren musste, in der die Person Stalins zum heldenhaften Führer und Retter der Nation verklärt wird. In diesem Bild wird der Terror nicht geleugnet, werden die Opfer nicht verschwiegen. Putin selbst spricht davon und legt Kränze an den Erschießungsstätten ab. Für ihn passierten dort schreckliche Dinge. Wie konnte es aber anders sein, in diesen Zeiten des Überlebenskampfes. Der Terror wird zu einer Art Naturkatastrophe verklärt, dem die ruhmreiche Sowjetunion ihr Überleben verdankt.
Nach dieser Logik kann man die Schuldigen am Terror aber auch nicht identifizieren, sie nicht verurteilen. Die Souveränität der vom Terror erfassten Nationen, die zur Unabhängigkeit gelangten, wird in Frage gestellt. Das große stolze imperiale Russland, der eigentliche Erbe der Sowjetunion, will sie für immer unter sein schützendes Dach nehmen. Da kann ihnen auch nicht das Recht auf eine eigene Sicht auf die Geschichte zugestanden werden. In diese Geschichtserzählung in, diese Politik, passen die historischen Initiativen, passt der Kampf für Menschen- und Bürgerrechte von Memorial aus Putins Perspektive nicht hinein.
Nach allen Behinderungen und Einschränkungen der Vergangenheit wurde nun die Liquidation verfügt, zumindest von "Memorial International" und dessen Menschenrechtszentrum. Diese schärfste Waffe eines Verbotsantrags schwebt nun auch über den weiteren Teilorganisationen von Memorial. Lange wurde noch gehofft, dass die zahlreichen Proteste der letzten Monate und Wochen und die internationalen Reaktionen die Gerichtsprozesse zur bloßen Drohung werden lassen könnten. Aber Ende Dezember kam es doch zum Letzten, offensichtlich von Russlands Regierung bestärkt. . Memorial wird nun viele starke Verbündete und Freund*innen brauchen - und eindeutige Reaktionen der Vertreter*innen demokratischer Staaten. Auch über 2021 hinaus.
Zitierweise: Wolfgang Templin, Der unschätzbare Wert von "Memorial“, in: Deutschland Archiv, 20.12.2021, aktualisiert am 29.12.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/344726. Alle Texte im Deutschland Archiv sind Recherchen und Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Wolfgang Templin ist Philosoph und Publizist. Von 2010 bis 2013 leitete er das Büro der Heinrich Böll Stiftung in Warschau. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Fragen des deutsch-deutschen Vereinigungsprozesses und der Entwicklungen im östlichen Teil Europas, insbesondere in Polen und der Ukraine. Er arbeitet gegenwärtig an einer Biografie über den polnischen Revolutionär, Marschall und Staatsgründer Józef Piłsudski, die im März 2022 erscheint.
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