Es mag fast zwanzig Jahre her sein, dass ich Reinhard Schult auf seinem Landsitz besuchte, um mit ihm über einen biografischen Essay zu sprechen, den zu schreiben ich übernommen hatte. Wir kannten uns aus den turbulenten Monaten der Stasi-Auflösung, hatten damals aber kaum Zeit für ein längeres Gespräch gefunden. Übrigens war es nicht seine Art, viel von sich zu erzählen.
Seit 1997 lebte Reinhard Schult zusammen mit seiner Freundin und zeitweise seinen zwei Töchtern in Fredersdorf bei Gramzow, einem winzigen Dorf in der Uckermark. Dort stand er an fünf Abenden in der Woche hinter dem Tresen der Gaststätte „Zur Linde“ und ließ sich von den Besucherinnen und Besuchern der Kneipe erzählen, was es Neues im Ort gibt. Die Bauern und Bäuerinnen hatten schnell Zutrauen zu dem Neuankömmling aus der Stadt gewonnen und ihn bei der Kommunalwahl im Jahre 1998 zum stellvertretenden Bürgermeister der hundertvierzig EinwohnerInnen zählenden Gemeinde gewählt. Neben dieser ehrenamtlichen Tätigkeit kümmerte er sich auf seinem Hof um das Federvieh und die Schafe, baute Gemüse und Obst an und widmete sich der Ausbesserung seines rund zweihundert Jahre alten Fachwerkhauses. Wer ihn in Arbeitskluft zwischen Hühnerstall und Gemüsebeet sah, mag an einen verbannten Volkstribunen oder an den römischen Kaiser Diokletian gedacht haben, der sich angewidert vom sittenlosen Treiben seiner Landsleute nach Dalmatien zurückzog, um dort Melonen zu züchten.
Den Konflikt in die Wiege gelegt
Der Konflikt mit der DDR-Obrigkeit war für den 1951 in Berlin geborenen Reinhard Schult von frühester Kindheit an selbstverständlich. Seine Mutter war Krankenschwester im Krankenhaus Berlin-Kaulsdorf. In dem östlichen Randbezirk von Berlin wohnte auch die Familie. Als die Mauer gebaut wurde, saßen sie bereits auf gepackten Koffern, um in den Westen zu gehen. Sie hatten bereits Flugtickets von Westberlin in die Bundesrepublik gekauft. Doch dann kam der 13. August, die „Falle“ schnappte zu, und es wurden lange Zeit Pläne geschmiedet, wie man doch noch in den Westen gelangen könnte. Es gab dort eine zahlreiche Verwandtschaft, und schon in der Schule galt Reinhard Schult als „westlich eingestellt“. Er las lieber die verbotenen Mickey-Mouse-Hefte als die Pionierzeitschrift „Trommel“. Der lange Abschied von der Staatsideologie, die Brüche und Konflikte mit dem Elternhaus und die qualvolle Lösung aus den Armen der Partei, die für viele kritische DDR-Intellektuelle so typisch waren, blieben Schult erspart.
In der Jungen Gemeinde in Berlin-Mahlsdorf fand er einen verständnisvollen Pfarrer, der eine ihn faszinierende Jugendarbeit machte. Schult überzeugte die ganze Klasse, einschließlich des FDJ-Sekretärs, geschlossen zu einer Kirchenveranstaltung zu gehen, und löste damit den ersten Skandal seiner Laufbahn aus. In der zwölften Klasse trat er aus der FDJ aus und verweigerte bei der Musterung den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Doch an der Betriebsberufsschule des Wohnungsbaukombinats in Berlin-Oberschöneweide wurde wohl manches nicht so verbissen gesehen wie an einer Erweiterten Oberschule. Immerhin konnte Schult 1971 dort neben der Facharbeiterprüfung als Maurer das Abitur ablegen. Danach begann er ein Studium der Theologie am Sprachenkonvikt in Berlin.
Nach einigen Monaten erkannte er, auch hier am falschen Ort zu sein. Mittlerweile junger Familienvater, ging er auf den Bau, wo man für damalige Verhältnisse ganz gut verdiente. 1976 wurde er für achtzehn Monate als Bausoldat eingezogen. Nach seiner Rückkehr begann er, in oppositionellen Zirkeln und Grüppchen tätig zu werden und organisierte eine heimlich in einer Privatwohnung untergebrachte Bibliothek mit Westliteratur. Er trat mit Freunden in Kirchen auf, wo sie Lieder und Texte von Wolf Biermann, Reiner Kunze, Ton Steine Scherben und anderen vortrugen.
1979 wurde ein Bekannter beim Versuch, die DDR zu verlassen, verhaftet. Beim Stasi-Verhör beschuldigte dieser seinen Freund, in die Fluchtvorbereitungen eingeweiht gewesen zu sein, weshalb Schult am 13. August 1979 unter dem Vorwurf der Beihilfe zur Republikflucht verhaftet wurde. Vor Gericht nahm sein Bekannter die belastenden Aussagen zurück, sodass dem wutentbrannten Staatsanwalt nur noch der Anklagepunkt „öffentliche Herabwürdigung“ blieb. Wegen der Weitergabe einer Ausgabe der Zeitschrift „Roter Morgen“ der KPD/ML und Texten von Biermann wurde Schult zu neun Monaten Freiheitsentzug verurteilt. Weniger konnte man ihm nicht geben, weil er diese Zeit schon in der Untersuchungshaft abgesessen hatte. Bei seiner Haftentlassung wurde ihm bedeutet, dass ein Ausreiseantrag gute Chance hätte, schnell genehmigt zu werden. Doch nun wollte Schult nicht mehr in den Westen.
Er stürzte sich in das damals aufblühende Treiben der Friedens- und Umweltgruppen, nahm 1980 an einem Friedensseminar in Königswalde teil, organisierte Diskussionsforen ehemaliger Bausoldaten, auf denen für die Verweigerung des Dienstes an der Waffe geworben wurde, arbeitete im Friedenskreis der Evangelischen Studentengemeinde mit, bildete einen Diskussionskreis zur Geschichte der KPD und einen Karl-Marx-Kreis. Ab 1985 war er in der Gruppe „Gegenstimmen“ und seit 1987 in der „Kirche von unten“ tätig, die er maßgeblich mit aufbaute.
Zwischen Marx und Jesus
Die unbekümmerte Mixtur aus linken und christlichen Ideologiefragmenten war typisch für die damalige DDR-Opposition. Im Grunde ging es gar nicht um die Durchsetzung ideologischer oder politischer Vorstellungen, sondern um die Wahrung der Selbstachtung im Lande der Lügen und der Heuchelei.
„Die Opposition in der DDR war eine kleine Opposition", schrieb Reinhard Schult als einer der Protagonisten der Bewegung 1995 in einer Art Abschiedsbrief. Und weiter: „Fast kannte jeder jeden. Die Hoffnung, das SED-Regime zu stürzen, hatte niemand von uns. Es ging um etwas mehr Luft in dieser miefigen DDR, um etwas mehr Bewegungsfreiheit in der Zwangsjacke. Wir waren eine verschwindende Minderheit –ohne Rückhalt in der Bevölkerung, wie etwa die Solidarnosćś in Polen.“
Ähnlich beurteilte das eine Analyse der zuständigen Abteilung XX der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die für 1986, bezogen auf Ostberlin, von 18 „Friedens- und Ökologiekreisen mit circa 350 Mitgliedern" sprach. Hinzu kam ein SympathisantInnenumfeld von maximal zehnfacher Größe, also drei- bis sechstausend Personen. Selbst bei großzügigster Rechnung handelte es sich dabei statistisch gesehen um einen zu vernachlässigenden Anteil von weniger als einem halben Promille der hauptstädtischen Gesamtbevölkerung.
Zwei oder drei Dutzend AktivistInnen trugen die Opposition über Jahre hinweg. Prominente KünstlerInnen, SchriftstellerInnen oder WissenschaftlerInnen fehlten gänzlich, obwohl sie kaum ein persönliches Risiko eingegangen wären. Auch die MitarbeiterInnen von Universitäten, wissenschaftlichen Instituten oder kulturellen Einrichtungen traten bestenfalls einzeln und unter dem Schutz der Anonymität auf. Das klassische Milieu der Intelligenzija, das in Osteuropa und der Sowjetunion eine so wichtige Rolle spielte, hatte kaum Berührungspunkte mit den jungen Leuten aus den Kirchenkreisen.
Aber auch dort herrschte keineswegs die reine Harmonie. Obwohl man sich untereinander kannte, beim Singen einander an den Händen fasste und das brüderliche und schwesterliche Du vorherrschte, blühten hinter der Fassade der Friedfertigkeit –von den Stasi-Spitzeln kräftig geschürt, aber nicht verursacht – doktrinäres Gezänk, Eifersüchteleien und Führungsstreit. Die lange innere Emigration blieb nicht ohne Auswirkungen auf die psychosoziale Befindlichkeit und führte zu den bekannten Symptomen der isolierten Kleingruppen. Das individuelle Aufbegehren ist inmitten einer Umwelt des alltäglichen Opportunismus der biographische Ausnahmezustand, für den die wenigen Oppositionellen einen ausgesprochen hohen Preis zahlten. Er bestand – jedenfalls für alle außerhalb des kirchlichen Dienstes Beschäftigten – im Verzicht auf bürgerliche Normalität, berufliches Fortkommen, familiäre Unbeschwertheit. Nach der Wende wurden die Folgen dieses Verzichts schmerzhaft deutlich.
Ingrid Köppe und Reinhard Schult auf dem Weg in das Büro des Neuen Forums in der Rosa-Luxemburg-Straße. (© Hartmut Reiche / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0228-305)
Ingrid Köppe und Reinhard Schult auf dem Weg in das Büro des Neuen Forums in der Rosa-Luxemburg-Straße. (© Hartmut Reiche / Bundesarchiv, Bild 183-1990-0228-305)
Wen mag es wundern, dass aus diesem Milieu keine Machtmenschen hervorgingen. Sie waren zur Opposition gestoßen, weil sie die Macht verabscheuten. Im Rückblick mag die Zersplitterung, die ideologische Diffusion, der mangelnde Machtwille und der schlechte Organisationsgrad der DDR-Opposition als Schwäche erscheinen. In Wahrheit war genau dies ihre Stärke. Illegale Organisationen kann man unterwandern, kontrollieren und zerschlagen. Im Grunde hätte die Staatsmacht gar keine andere Wahl gehabt, als gegen Versuche einer wirklich politischen Organisation mit Brachialgewalt vorzugehen. Eine Lebenshaltung aber ist umso schwerer zu verbieten, je weniger greifbar sie ist. Die Bewegung, die sich vornehmlich ethisch, teilweise theologisch definierte, war nicht zu verbieten. Sie wurde durch jede Verfolgung stärker. Genau dies geschah in den Jahren 1987 und 1988, als jeder Anlauf der Repression die Oppositionsbewegung bekannter machte und ihr über die westlichen Medien eine große Öffentlichkeit verschaffte.
In den Veranstaltungen, bei denen die Gruppen ein Podium erhielten, ging es um Feindesliebe, um gewaltfreie Erziehung, um Mitmenschlichkeit und sozialen Friedensdienst. Natürlich ahnte die Staatsmacht das explosive Potenzial dieser Art von beschränkter Öffentlichkeit, konnte aber schwer gegen kirchliche Veranstaltungen einschreiten. Das weltanschauliche Defizit der Kirchengruppen ist oft beklagt worden, aber gerade das machte die Szene so gefährlich. Damals wurde oft das Wort aus dem Matthäus-Evangelium zitiert: „Seid klug wie die Schlangen und sanft wie die Tauben.“ Eine andere Form der politischen Emanzipation wäre kaum möglich gewesen.
Unter dem Schutzschild von Kirchenfeiern und Freier Arbeit bildete sich eine eingeschränkte, aber lebendige Öffentlichkeit. Dort wurden demokratische Verfahrensweisen erprobt, eine Diskussionskultur erlernt, eine pluralistische Kultur des Streits entwickelt. Vor allem aber bildeten sich Kristallisationskerne einer politischen Opposition und Ansätze einer Infrastruktur. All dies musste die Staatsmacht fürchten wie der Teufel das Weihwasser, beruhte doch ihre Macht auf der Ausschaltung jeder politischen Öffentlichkeit.
Ein Piratensender auf dem Dachboden
Eine der unglaublichsten –allerdings auch abenteuerlichsten und wenn man so will auch leichtsinnigsten – Aktionen von Reinhard Schult war die Installierung eines Piratensenders im Ostteil von Berlin. Ende Oktober 1986 verbreitete Schults Gruppe auf winzigen Zetteln die atemberaubende Mitteilung: „Weitersagen! Der erste unabhängige Sender in der DDR –31.10. / 22.00 Uhr, UKW 99,2 MHz." Die laut Stasi-Bericht mit dem DDR-Kinderstempelkasten „Famos 502" gedruckte Nachricht schreckte die Staatsmacht auf. Auch westliche Zeitungen und Radiostationen berichteten über das tollkühne Unternehmen der DDR-Opposition. Ein Grund mehr für die Stasi, die ganze Angelegenheit für einen Fake zu halten. Trotzdem kreiste am Tag der angekündigten Sendung über den Ostbezirken Prenzlauer Berg, Friedrichshain und Lichtenberg seit dem Morgen ein kleines Flugzeug. Eine „stationäre und halbstationäre Peilbasis der MfS-Hauptabteilung III" versuchte, den Sender ausfindig zu machen, und auf den Straßen patrouillierten Streifenwagen der Volkspolizei.
Pünktlich um 22 Uhr ertönte im Äther der Piratensender: „Gegen die Verblödung aus dem Westen und das Informationsmonopol unserer Tattergreise." Dann ging es um die Katastrophe von Tschernobyl, die damals ungefähr ein halbes Jahr zurücklag. „Bis heute hat es unsere Obrigkeit nicht für nötig empfunden, die gemessenen radioaktiven Niederschläge, die Werte in Boden, Wasser und Lebensmitteln zu veröffentlichen. Sie liegen in den Tresoren unter Verschluss. MitarbeiterInnen wissenschaftlicher Institute, die eigene Messungen durchführten und ihre Bekannten daraufhin warnten, Milch und ähnliche Nahrungsmittel nicht zu sich zu nehmen, wurden von der Stasi verwarnt und bedroht. Sie sollten keine Unruhe stiften. Die Entmündigung ist hochgradig vorangeschritten. Das System der organisierten Verantwortungslosigkeit ist weit ausgebaut. Oberstes Gebot ist die Friedhofsruhe."
Das alles wurde von einer tiefen Männerstimme in deutlich Berlinerischer Färbung vorgetragen. Auch der proletarische Sound des Vortrags war überdeutlich. Reinhard Schult hatte sich nicht bemüht, seine Stimme zu verstellen oder sich einer hochdeutschen Sprechweise zu befleißigen. Doch die gesamte hochgerüstete Technik des MfS versagte dabei, ihn zu identifizieren. Auch die Sendeanlage auf einem Dachboden im Prenzlauer Berg fanden sie nicht, sodass sie bei der Meinung blieben, in Wahrheit hätte der Sender jenseits des sogenannten Antifaschistischen Schutzwalls gestanden und die Aktion sei von westlichen Geheimdiensten organisiert worden. Dabei war Reinhard Schult als einer der ProtagonistInnen der PUT, wie die Politische Untergrundtätigkeit im Stasijargon hieß, gut bekannt.
Motor des Neuen Forum
Am 7. Mai 1989 beteiligte sich Reinhard Schult aktiv an der landesweiten Organisation der Aufdeckung der flächendeckenden Kommunalwahlfälschung in der DDR. Am 9. September 1989 schließlich gehörte er zu den neunundzwanzig ErstunterzeichnerInnen des Aufrufs „Aufbruch 89 – Neues Forum“, für das er einer der maßgeblichen Akteure war, energisch, kantig, aufrecht und unbeirrbar.