Second-hand-Erinnerungen
Sharon Adler: "Sehr geehrte Menschen, in der Ukraine hieß ich Onufriyenko. Meine Familie hat damals mit Absicht den jüdischen Namen Weisband nicht tragen wollen, wegen der Nachteile, die er bedeutete." Mit diesen Worten hast du deine Rede am 27. Januar 2021 im Bundestag eingeleitet. Was bedeutete es in der Ukraine, jüdisch zu sein? Welche Erinnerungen gibt es in deiner Familie dazu?
Marina Weisband: Ich weiß, dass wir unseren Namen ändern mussten ‑ das haben meine Eltern vorausschauend noch vor meiner Geburt gemacht ‑ mit dem Nachnamen Weisband hätte ich gar nicht studieren können.
Auch Arbeit gab es nur für Menschen, deren Nachnamen auf "ko" endete. In jüdischen Kreisen zirkulierten allerlei Witze aus der jüdischen Perspektive darüber, wie schwer es war, an eine Arbeit, an einen Studienplatz oder an eine Wohnung zu kommen. "Hey Kohen, das ist für dich!" war einer davon. Und es gab viel Populärkultur, die sich über Juden lustig gemacht hat und die sie verdächtigt hat. In den Jahren 1992 und 1993 kamen konkrete Gerüchte über ein anstehendes Pogrom auf. Die hat mein Großvater
Er hat in der Armee sehr lange Zeit mit einer Waffe unter dem Kopfkissen geschlafen und ganze Nächte auf seinem Koffer verbracht, in der Erwartung, abgeholt zu werden. Wir tragen die Geschichte von regelmäßigen Überfällen und das Trauma in uns.
Sharon Adler: Mit welchen Hoffnungen seid ihr nach Deutschland gekommen?
Marina Weisband: Mein Großvater wollte überleben, mein Vater wollte besser leben. Er war in der Sowjetunion Programmierer und ihm waren als Jude viele Tore verschlossen. Er hatte gehofft, man könnte in Deutschland einfach nur Mensch sein. Er wollte als Programmierer geschätzt werden und für die Fachexpertise, die er hatte. Das war seine Hoffnung.
Mein Großvater ist leider sehr traurig gealtert und gestorben. Er wurde 98 Jahre alt. Er, der Deutschland von den Faschisten erobert hat, war Kommandierender der Roten Armee über Magdeburg und lebte am Ende seines Lebens in einer Dortmunder Sozialwohnung. Im Land der Feinde, die er besiegt hatte, musste er lernen, wie man Müll trennt und Sozialhilfeanträge schreibt und ist darüber psychisch sehr instabil geworden.
Für meine Mutter war der Grund für die Migration nach Deutschland in erster Linie nur mein Überleben. Sie wollte eigentlich nicht mitgehen. Sie wollte bleiben. Sie hatte Freunde, Familie … man verlässt nicht so einfach sein Land. Das war kein einfacher Schritt. Das ist ja auch der andere Aspekt, aber die deutsche Mehrheitsgesellschaft malt sich das so einfach aus. Dann heißt es, "die kommen hier einfach so rüber", aber was es bedeutet, alles zurücklassen zu müssen in der Hoffnung auf ein besseres Leben, kann sie sich nicht vorstellen.
Sharon Adler: Deine Mutter wollte dir in Deutschland vor allem eine bessere medizinische Versorgung ermöglichen, denn du warst schwer krank…
Marina Weisband: …Ja, ich lag effektiv im Sterben. Ich war, was man heute austherapiert nennt. Die Ärzte haben nur gesagt, "da kann man nichts machen, sie ist halt ein Tschernobyl-Kind."
Die ersten Jahre in Deutschland
Sharon Adler: Als du in Deutschland in die erste Klasse kamst, konntest du schon Russisch lesen, sprachst aber noch kein Wort Deutsch. Wie war diese erste Zeit für dich?
Marina Weisband: Wir sind mit nur einem Koffer in einer Notunterkunft für Familien in Dortmund gelandet. Von dort aus wurde man verteilt. Wir kamen nach Wuppertal. Es war schwierig. Aber für Kinder ist es immer leichter. Für mich war es am Anfang leichter als für meine Mutter. Für mich kam das Schwere erst ein klein wenig später.
Ich kam nur ein paar Monate nach unserer Ankunft in die Schule, in die erste Klasse, und hatte natürlich Angst vor meinem ersten Schultag. Als ich meine Mutter fragte, was ich machen soll, wenn die Lehrerin etwas zu mir sagt, was ich nicht verstehe, meinte sie nur: Mach einfach das, was alle anderen auch tun. Ich habe ihre Verzweiflung in diesem Moment auch erst sehr viel später verstanden – jetzt, wo ich ein eigenes Kind habe und mir vorstelle, ich müsste sie ganz alleine, in einem fremden Land, wo sie kein Wort versteht, zur Schule schicken.
Für mich wurde es schwierig, als ich angefangen habe, diese verschiedenen Erwartungswelten zu erleben. Das kam erst mit der Sprache. Und ich habe gemerkt, dass ich in der Schule für Dinge bestraft werde, die zuhause gut und richtig sind, und zuhause werde ich für Dinge bestraft, die in der Schule gut und richtig sind. Ich war mit zwei verschiedenen Werte- oder Normensystemen konfrontiert, die füreinander kein Verständnis hatten. Ich habe mir zwei Rollen, zwei Verhaltensmuster zugelegt, zwei Persönlichkeiten, die ich buchstäblich auf dem Schulweg gewechselt habe. Eine Schulpersönlichkeit und eine Zuhause-Persönlichkeit. Ich habe sehr früh gelernt, zu unterscheiden und sehr genau zu spüren, was man von mir erwartet und mich diesen Erwartungen anzupassen.
Sharon Adler: Hat dir das auch später in deinem Berufsleben geholfen, eine Art Brückenbauerin zu sein?
Marina Weisband: So wie ich für meine Mutter schon immer Elternsprechtage übersetzt habe, habe ich mir dieses Übersetzen zwischen Sprachen und Wertesystemen zu Eigen gemacht. Und das ist tatsächlich etwas, das ich mir ein wenig zum Beruf gemacht habe. In ganz verschiedenen Zirkeln unterwegs sein und sie einander erklären.
Sharon Adler: Warst du das einzige jüdische Kind auf der Schule, war es ein Thema, dass du jüdisch bist?
Marina Weisband: In meiner Grundschule gab es noch ein anderes jüdisches Mädchen, das ein Jahr jünger war als ich. Sie kam aus einer tadschikischen Familie, mit der wir sehr eng befreundet waren. Wir Kinder haben nicht verstanden, was es bedeutet, jüdisch zu sein. Wir waren die einzigen Ausländerinnen an der Schule, und das war das viel Relevantere. Mein Judentum wurde erst später thematisiert, als wir mit der Schule die Gedenkstätte Bergen-Belsen besucht haben. Und da bin ich auch zusammengebrochen. Zum Glück war der Rabbiner, der uns dort durchgeführt hat, auch Arzt.
Erst da wurde meiner Klasse bewusst, dass es hier nicht nur um theoretische Menschen geht, die einen rein historischen Charakter haben, sondern dass es Juden gibt, die leben. Ich glaube, das war vorher nicht so klar. Aber mein Lehrer hatte genug Pietät, das nicht zum Gegenstand des Unterrichts zu machen.
Sharon Adler: Hattet ihr damals Kontakt zur Jüdischen Gemeinde?
Marina Weisband: Ja, hatten wir, wobei wir die Gemeinde eher als ein russisches Kulturzentrum gesehen haben. Die G'ttesdienste haben wir nicht besucht, aber kulturelle Veranstaltungen wie Theater und Feste. Die Gemeinde war immer der Ort, an dem meine Eltern ihre Freunde trafen, wo sie ihre Muttersprache sprechen und einfach sie selbst sein konnten. Ich hatte zu diesem Ort so wenig Bezug wie zu anderen Orten auch. Ich habe die Gemeinde früher als russische Gemeinde verstanden.
Sharon Adler: Wie und wann hast du deine eigene Jüdischkeit entdeckt und welche Reaktionen gab es darauf?
Marina Weisband: Erste Reaktionen auf mein Judentum erfuhr ich erst, als ich es offen gelebt habe. Und offen gelebt habe ich es erst, als ich von zuhause weg bin. Ich war 17, habe angefangen zu studieren, bin nach Münster gegangen und hier auch zur Gemeinde gegangen. Und zwar nicht als Mitschleppsel, sondern weil ich meine eigene Jüdischkeit erkundet habe.
In dem Alter habe ich angefangen, an G'tt zu glauben und mich selbst aktiv als Jüdin zu identifizieren. Ich habe angefangen, G'ttesdienste zu besuchen und zu lernen. Ab da habe ich natürlich auch Reaktionen von meinen Kommilitonen bekommen, wie: "Du bist die erste Jüdin, der ich begegne!" Das hatte etwas Exotisierendes und war immer mit einer Spur von Beklemmung verbunden. Von Mitleid. Richtigen Antisemitismus aber erfuhr ich erst, als ich in der Öffentlichkeit stand und politische Geschäftsführerin der Piratenpartei
Die Piratenpartei hat (k)ein Antisemitismus-Problem
Sharon Adler: 2011 hast du in einem Interview
Marina Weisband: Ich selbst habe in der Piratenpartei oder aus der Piratenpartei heraus keinen Antisemitismus erfahren. Der Antisemitismus, den es in der Piratenpartei gab, richtete sich gegen Juden im Allgemeinen. Schließlich ist ja auch niemand herumgelaufen und hat "Tod allen deutschen Juden" gefordert. Hier muss man zwei Dinge unterscheiden: Als Jüdin bekommt man in Deutschland extrem viel verbalen Zuspruch, wenn man sich gegen Antisemitismus ausspricht. Den habe ich in der Piratenpartei auch bekommen. Ich erfuhr viel Solidarität, Empathie und Verständnis, und niemand von den Parteimitgliedern hat darüber gemeckert, dass ich mich gegen Antisemitismus einsetze.
Der Unterschied ist immer, glaube ich, wie sehr man bereit ist, verbal zuzustimmen, dass Antisemitismus schlecht ist, und wie sehr man bereit ist, in der konkreten Situation tatsächlich etwas zu tun und zu kritisieren.
Auf Israel bezogener Antisemitismus
Marina Weisband: Die Antisemiten, die in der Piratenpartei waren, die aber zum Glück in parteiinternen Debatten kritisiert wurden, und das waren natürlich Einzelne, hatten hauptsächlich auf Israel bezogene Antisemitismen. Bei offenkundigem Antisemitismus gab es klare Kritik. Wo es aber ein großes Rumhangeln oder Wegsehen gab, war beim Thema Meinungsfreiheit. Ganz viele Mitglieder der Piratenpartei vertraten die Meinungsfreiheit um der Meinungsfreiheit willen.
Sharon Adler: Wie bist du persönlich damit umgegangen, dass bei den Piraten ehemalige NPD-Mitglieder aktiv waren? War der Antisemitismus bei den Piraten der logische Grund dafür, dass du nicht mehr kandidiert hast? In der (nichtjüdischen) Presse wurde das nicht thematisiert, da hieß es, du wolltest deine Diplomarbeit über Wertvorstellungen ukrainischer Kinder fertigstellen.
Marina Weisband: Ich habe immer dagegen gewettert, aber es war sehr schwer, diese entsprechenden Mitglieder mit einem Parteiausschlussverfahren aus der Partei zu werfen. Das hängt mit dem Parteiengesetz zusammen. Zuerst ist es wegen formaler Fehler nicht geglückt, aber wir haben es schließlich geschafft. Ich glaube, die SPD kann mit Thilo Sarrazin ein Lied davon singen.
Aber es ist schon so, dass ich die Piratenpartei dafür sehr stark kritisiert habe und schließlich auch ausgetreten bin, weil sie im Kern dieser Frage apolitisch war. Der Grund, warum ich nicht mehr kandidiert habe, war aber auch, dass ich nach einem Jahr ehrenamtlicher Arbeit nicht mehr konnte. Ich lebte die ganze Zeit von BAföG und war gesundheitlich, finanziell und lebensplanerisch am Ende.
Sharon Adler: Wie kam es überhaupt dazu, dass du dich politisch engagiert hast?
Marina Weisband, Januar 2022 (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Marina Weisband, Januar 2022 (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2022)
Marina Weisband: Ich war absolut apolitisch, bis ich 19 Jahre alt war. Ich wohnte als Kind in einer Straße, wo es nur Russen und Türken gab, und aus dem Fernsehen kannte ich nur diese Männer in Krawatten und Anzügen, die Politik gemacht haben. Das war eine Welt, die so fremd, so entfernt von meiner Welt war, dass ich mir nicht mal die Frage gestellt habe, ob Politik etwas ist, was mich möglicherweise betreffen könnte. Bis mich meine Regisseurin – ich war zu der Zeit am Theater – eines Sonntags aufgefordert hat, zur Wahl zu gehen. "Das ist wichtig, das ist Bürgerpflicht." Da hatte ich schon die deutsche Staatsangehörigkeit.
Ich hatte einen roten Teppich erwartet und Security, aber es war ein prosaisches Schulgebäude, wo Urnen mit einfachen Zetteln standen. Ich fand alles so unzeremoniell, und gleichzeitig fand ich es so krass, dass ich in dieses Land kam und einfach das Parlament mitbestimmen durfte. Und dass niemand meine Gesinnung geprüft hat, dass niemand mich gefragt hat, was meine Ansichten sind. Ich fühlte mich so geflasht von dieser Verantwortung, die mir übertragen wurde, dass ich gedacht habe, dem muss ich gerecht werden. Ich bin am selben Tag in die Piratenpartei eingetreten, denn ich hatte mir mal mit meinem Freund die Werbespots zur Europawahl 2009 angeschaut und fand die Piraten am sympathischsten. Das war der Anfang. Und dann hat es mich in die Politik hineingezogen. Ich habe das nie bewusst gewählt.
Sharon Adler: Während Du bei den Piraten aktiv warst, hast du Psychologie studiert. War das damals mit ein Grund dafür, dich politisch zu engagieren und zu positionieren?
Marina Weisband: Ursprünglich wollte ich Lehrerin werden, habe aber dann gemerkt, dass ich das in diesem Schulsystem nicht sein kann. Ich würde dort eingehen, wenn ich keine Möglichkeit habe, das zu machen, was ich als sinnvollen Unterricht betrachten würde. Deshalb habe ich beschlossen, Psychologie zu studieren und danach zu gucken, welche innovativen Lehrkonzepte ich entwickeln kann, damit Schulen insgesamt besser werden.
Während des Studiums stellte ich fest, dass es schon bessere Lehrkonzepte gibt, und dass die Psycholog*innen schon seit vielen Jahren wissen, wie es besser ginge. Das war alles bekannt, aber es wird nicht umgesetzt. Also habe ich danach geguckt, wo das politisch schon umgesetzt wird und kam dann über die Politik in die Bildung. Da musste ich feststellen, dass sich politisch auch nicht viel verändern lässt, weil Ministerien einfach nur auf Selbsterhalt aus sind, und Veränderung in diesem System nicht belohnt wird. Also habe ich damit angefangen, das Projekt "aula" zu machen.
Sharon Adler: Inwieweit flossen dabei und während deines Psychologiestudiums
Marina Weisband: Sehr, weil ich eine Perspektive einnehme, die nur halb innerdeutsch ist. Sie ist immer halb von außen. Sie relativiert vieles, was sehr wichtig ist oder unausweichlich oder alternativlos erscheint. Ich kann, glaube ich, dadurch diese größere Perspektive einnehmen, weil ich nicht nur aus einem anderen Land komme und auch weiterhin Verbindungen in dieses Land pflege, sondern auch dadurch, dass ich hier in diesem Land eine Piratenpartei mitbegründet habe. Und mit "Liquid Democracy" versucht habe, Basisdemokratie einzuführen, und versucht habe, politische Bildung zu betreiben. Ich weiß, wie verschieden die Voraussetzungen für diese Unternehmungen in den verschiedenen Ländern waren. Das andere ist, dass ich die Perspektive von Menschen verstehe, die marginalisiert sind. Ich glaube, das ist ein sehr wichtiger Faktor, weil ich einfach sehe, wie Politiker*innen die halbe Nacht im Bundestag darüber diskutieren, ob man jetzt den Hartz-IV-Satz um fünf Euro erhöhen soll. Ich komme aus einem Hintergrund, aus dem heraus ich verstehe, was das bedeutet, und wie sich das in Lebensrealitäten übersetzt. Und was eigentlich die notwendigen Maßnahmen wären. Ich glaube, dass für finanziell schlechter gestellte Menschen Vieles nicht getan wird, weil im Bundestag niemand sitzt, der diese Lebensrealität kennt.
Insofern hilft es mir enorm, weil in vielfältiger Weise auch die Erfahrung komplett den Normrahmen gewechselt hat. Das ist das eigentlich Traumatische daran. Diese Erfahrung, den Normrahmen zu wechseln und gleichsam die Erfahrung, dass Normen sich ändern können. Dass nicht alles in Stein gemeißelt ist, kann auch was Positives sein.
Jubiläumsfeiern "1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" versus Antisemitismus und Altersarmut von jüdischen Einwander:innen aus der ehemaligen UdSSR
Sharon Adler: In Deutschland gab es mit Jeanette Wolff
Marina Weisband: Ich vertrete die radikale Ansicht, dass Politik, die gut für Juden ist, gut für alle ist. Natürlich setze ich mich gegen Antisemitismus ein. Das habe ich nicht als Thema gewählt, sondern das bringt meine Lebensgeschichte einfach mit sich. Aber ich setze mich nicht nur gegen Antisemitismus ein, um Juden zu schützen, ich setze mich gegen Antisemitismus ein, um die Demokratie zu schützen. Um meine Mitmenschen zu schützen. Antisemitismus ist ein tiefes Gift. Antisemitismus ist anders als Rassismus. Antisemitismus ist immer die Erzählung, dass jemand von außen die Geschicke der Welt kontrolliert.
Das ist nicht nur extrem gefährlich und wird gerade von Tag zu Tag immer gefährlicher, sondern es ist auch deshalb gefährlich für eine Demokratie, weil es die radikale Aufgabe von Selbstverantwortung ist. Deshalb benutzen Diktatoren Antisemitismus als Werkzeug. Weil sie damit die Menschen entmündigen können, indem sie behaupten, dass da jemand ist, der andere kontrolliert. Das ist das antisemitische Narrativ. Egal, ob ich mich gegen Antisemitismus einsetze oder gegen Cyber-Bullying oder für ein freies Netz oder für Sicherheit, es ist immer ein Engagement für Jüdinnen und Juden. Das ist meine Lebensrealität. Ich verstehe die Notwendigkeit dessen, ich sehe sie, und bin unmittelbar selbst betroffen. Es ist immer auch der Einsatz für eine bessere Gesellschaft. Diese Belange widersprechen sich nicht. Deswegen sagt man ja auch nicht umsonst, wenn Juden beginnen, ein Land zu verlassen, dann sollte man sich dringend umgucken. Dann läuft irgendwas sehr, sehr schief.
Sharon Adler: Bis heute werden jüdische Einwander:innen aus der ehemaligen Sowjetunion im Rentenrecht benachteiligt und steuern in die Altersarmut. Welche Möglichkeiten siehst du, das Thema verstärkt auf die politische Agenda zu setzen?
Marina Weisband: Ich werde ganz ehrlich sein: Ich bin keine Expertin in den einzelnen Regelungen. Ich könnte gerade nicht konkret sagen, dass ich einen Aktionsplan hätte, um das Thema auf die Agenda zu setzen. Ich sehe zwar, dass in den letzten Jahren sehr viel passiert ist, beispielsweise allein in der Berufsanerkennung, aber das reicht nicht. Das betrifft auch meine eigene Mutter. Ihr Diplom wurde nicht anerkannt. Sie sieht jetzt der Altersarmut entgegen. So wie die meisten. Es ist wichtig, dass wir uns als Gesellschaft fragen, warum wir soziale Gerechtigkeit wollen. Und auch ein reges jüdisches Leben kann nicht ohne jüdische Teilhabe stattfinden. Und jüdische Teilhabe kann nicht ohne ein Auskommen stattfinden. Teilhabe wird von nichts so sehr beschnitten wie durch Armut. Es geht nicht an, als Staat Juden einerseits einzuladen, um sich mit Juden, die hier leben, zu schmücken, und sie andererseits an die Ränder der Gesellschaft zu schieben.
aula: Engagement für Jugendliche mittels Online-Plattform und didaktischer Begleitung
Sharon Adler: Seit 2014 leitest du hauptberuflich das Schüler:innenbeteiligungsprojekt "aula"
Marina Weisband: Ich habe erstmal ganz viel darüber gelernt, wie Kinder lernen, und war drauf und dran, die bessere Schule zu entwickeln. Während meiner Zeit in der Politik haben die Leute mich für alles verantwortlich gemacht. Dass Deutschland noch nicht aus der Atomkraft ausgetreten war, dass wir den Krieg in Afghanistan hatten, und dass man so wenig Rente kriegt. Das alles, weil ich zu "denen da oben" gehörte. Und diese Trennung zwischen "ihr da oben und wir hier unten" hat mich immer fertig gemacht, weil das die Antithese von Demokratie ist. Also habe ich mich gefragt, wie wir es schaffen, demokratischer zu werden. Als die am besten informierte Generation, die über das Internet ihre eigene Stimme hat. Bei der Frage danach, wie wir es schaffen, das als Werkzeug zu nutzen und uns als Gemeinschaft zu begreifen, bin ich darauf gekommen, dass es notwendig ist, Selbstwirksamkeit zu lernen. Zu lernen, dass sich etwas in der Welt verändert, wenn ich etwas tue. Dass ich mich dafür mit anderen organisieren muss und Arbeit investieren muss, um Veränderungen zu schaffen. Wo und wann lernt man das am besten? Wenn man jung ist. Und es muss ein Ort sein, wo alle sind. Also nicht nur für die, die aus den besseren Familien kommen. Und das ist die Schule. Ich habe geguckt, wie man an der Schule Selbstwirksamkeit lernen kann und habe ein Konzept zu verbindlicher Beteiligung von Jugendlichen entworfen.
Das war das Projekt aula. Auf meine Anfrage hat mich die Bundeszentrale für politische Bildung mit politik-digital e.V. bekannt gemacht, bei denen ich bis heute arbeite. Ich mache das inzwischen schon sieben Jahre. aula ist ein innovatives Beteiligungskonzept, das Jugendlichen aktive Mitbestimmung im Alltag ermöglicht. Mithilfe einer Online-Plattform und didaktischer Begleitung fördert aula demokratische Praktiken und Kompetenzen.
Sharon Adler: Steht die Vermittlung von Bildung und Kompetenzen für dich auch in einer jüdischen Tradition?
Marina Weisband: Ja, sehr tief. Ich glaube, dass jüdische Kinder mit einer Dialektik aufwachsen, einer Kultur des Hinterfragens. Das ist ein extrem wichtiger Faktor, dass dieses kritische Denken schon früh gebildet wird. Ich glaube, das ist etwas, das gerne kulturell übertragen werden kann. Das frühe Aufwachsen mit Diskutieren, mit Kritischsein und den Fragen, ob etwas wirklich so sein muss. Was allerdings in den strengeren jüdischen Familien mit diesen patriarchalen Strukturen wiederum für die Demokratie oft nicht genug ausgeprägt ist, weshalb ich mich auch innerhalb des Judentums für einen Feminismus einsetze. Und auch hier in der Erziehungstradition, dass Kinder mehr mitbestimmen dürfen. Das ist aber überhaupt kein jüdisches Thema, sondern das ist ein Thema, das generell, überall – bei Juden und bei Nichtjuden – zu kurz kommt, dass Kinder nicht mitbestimmen und wenig entscheiden dürfen. Ich glaube, Verantwortung lernt nur, wer Verantwortung trägt.
Sharon Adler: Die Studie #UseTheNews
Marina Weisband: Warum informieren sich Jugendliche nicht über aktuelle Ereignisse? Weil sie keinerlei Einfluss auf aktuelle Ereignisse haben. Das ist im Prinzip für sie verschwendete Zeit. Egal, was sie durch den Konsum von Medien lernen, sie können doch nichts ausrichten. Insofern kann es sogar ein sinnvoller Selbstschutz sein. Da will ich ein bisschen für Jugendliche um Verständnis werben. Wenn wir wollen, dass sie sich für aktuelle Debatten und Ereignisse interessieren, dann müssen wir ihnen in diesen Debatten und Ereignissen auch eine Stimme geben.
Das bedeutet, das Wahlalter zu senken, das bedeutet verbindliche Beteiligung am eigenen Umfeld, an der eigenen Schule, in der eigenen Kommune. Dann kann ich auch erwarten, dass sie sich informieren. Warum sollte ich mich informieren, nur um wieder und wieder meine eigene Hilflosigkeit zu erleben? Das ist das erste. Das zweite ist verwandt. Wie bekomme ich Jugendliche dazu, dass sie sich für eine bessere und gerechtere Gesellschaft einsetzen? Persönlich haben nichtjüdische Jugendliche erstmal nichts davon, wenn es weniger Antisemitismus gibt. Sie haben aber etwas davon, wenn ihre Gesellschaft eine bessere und gerechtere ist. Aber dafür müssen sie sich erstmal als aktiven Teil der Gesellschaft begreifen.
Und dafür müssen wir sie stärker teilhaben lassen. Das gilt im Übrigen genauso für Erwachsene. Die Hauptproblemgruppe von Fake News und Beleidigungen und Verschwörungstheorien ist die Generation 50plus. Die fühlt auch einen drohenden Bedeutungsverlust, und deshalb verschanzt sie sich in Facebook und schreibt dort Leute an, weil das den Dopaminspiegel hebt. Hier wäre tatsächlich eine verbindliche Beteiligung – ja, auch der schrecklichen Leute, die bei Facebook rumschreien – sinnvoll. Weil ich nur dann von Leuten erwarten kann, dass sie sich für eine bessere Gesellschaft einsetzen, wenn ich ihnen das Gefühl gebe, das ist ihre Gesellschaft.
"FragEinenJuden"
Sharon Adler: Seit dem 5.11.2020 betreibst du in deiner wenigen Freizeit gemeinsam mit Eliyah Havemann
Marina Weisband: Was mich überrascht hat, war die Fülle der Fragen. Und wie krass gut das angekommen ist. Wie unglaublich viel Reichweite es bekommen hat und wie positiv die Resonanz war. Ich habe versucht, das zu analysieren. Ich glaube, es liegt daran, dass, wenn Juden aus einer Fachexpertise über das Judentum schreiben, sie vieles als selbstverständlich voraussetzen oder aus ihrer Perspektive uninteressant finden. Und andersrum Leute einfach nicht auf die Idee kommen, loszugehen, und Juden etwas zu fragen. Das heißt, es gibt ein Disconnect zwischen den Informationen, die vorhanden sind, und den Informationen, die gewünscht werden.
"Frag einen Juden" beruht auf dem Konzept, auf alle Fragen zu antworten. Und auch wenn alle Fragen aus einer ähnlichen Perspektive gestellt werden, fallen die Antworten manchmal überraschend aus. Es kommen bis heute auch immer noch Fragen rein. Ich habe noch einen sechsten Teil mit Fragen von einer Schulklasse abgedreht. Teilweise sind Fragen dabei, die sich ein Akademiker vielleicht nicht zu stellen trauen würde, weil sie problematisch sind. Ich fand die Reihe sehr wichtig, weil mich überrascht hat, wie wenig Verständnis es dafür gibt, dass Juden nicht einfach als eine Religionsgemeinschaft wie Christen gesehen werden. Oder dass viele Leute die Existenz atheistischer Juden prinzipiell nicht verstehen oder nicht in Betracht ziehen.
Sharon Adler: Im Oktober 2021 erscheint die Reihe in erweiterter Form als Buch
Marina Weisband: Ich habe sehr viel über das Judentum gelernt. Was wenig überraschend ist, weil das Thema extrem komplex und tief ist. Auch von Eliyah, der ganz andere Ansichten vertritt, aber auch eine andere Tradition, und einfach mit Israel, wo er mit seiner Familie lebt, ein anderes Lebensumfeld hat. Für das Buch habe ich vieles recherchiert. Weil es teilweise tiefergehende Fragen gab, die ich nicht so ad hoc beantworten konnte. Im Video konnten wir die noch ziemlich spontan aus unserer eigenen Kenntnis und Expertise beantworten.
Sharon Adler: Mit welchen Fragen hast Du Dich vertieft beschäftigt?
Marina Weisband: Erstens mit vielen religiösen Fragen, wie die Bedeutung einzelner Riten oder Gebote. Oder auch die Einstellung des Judentums zur Transsexualität. Im Buch haben wir durchaus den Anspruch, Judentum ein bisschen breiter abzubilden. Also nicht nur auf unsere Lebensrealität beschränkt, sondern auch zu diversen Meinungen oder Einstellungen. Im Buch werden wir uns nochmal stärker den schwierigen Themen widmen, die nicht in so kurzer Zeit zu beantworten sind, wie wir sie im Video hatten. Und wir werden auch immer auf aktuelle innerjüdische Debatten einsteigen.
Antisemitismus ‑ ein uraltes und weltweites Phänomen
Sharon Adler: In deinem Tweet
Marina Weisband: Ich glaube, wir erleben hier Akteure – ich sage bewusst nicht "Gesellschaft", weil der Großteil der Gesellschaft ja vernünftig ist und sich solidarisch verhält –, die gekränkt sind. Gekränkt, weil ihre Freiheiten eingeschränkt werden und man das so nicht kennt. Gerade in der BRD war das Leben eigentlich in Ordnung. Und wenn man gekränkt ist, dann geht man an die tiefsten Wunden, die man hat. Die große Kränkung der Deutschen ist es, das Tätervolk zu sein. Eine Kränkung deswegen, weil sie meinen, dass sie nichts dafür können, weil sie danach geboren wurden und man ihre Geschichte dennoch mit diesen Verbrechen assoziiert. So ein bisschen im Geiste von: Man wird den Juden Auschwitz nie vergeben. Das ist die ultimative Opferrolle in Deutschland. Das hat psychologische Dimensionen.
Ich weiß nicht, ob man dem beikommen kann. Das muss auf einer politischen Ebene sanktioniert werden, aber eine Massentherapie ist eben keine politische Maßnahme.
Sharon Adler: Meinst du, das eine politische Maßnahme etwas bewirken könnte? Seit Beginn der Covid-19-Pandemie kursieren altbekannte antijüdische Verschwörungsmythen und Bagatellisierungen der Shoah haben Hochkonjunktur. Die Leugnung des Holocaust kann strafrechtlich verfolgt werden, doch welche Möglichkeiten gibt es, damit Menschen auf den sogenannten "Hygienedemos" der "Querdenker" bzw. "QAnon" nicht straffrei ausgehen, wenn sie einen Gelben Stern tragen?
Marina Weisband: Ich könnte es ertragen, wenn es "nur" der Gelbe Stern wäre. Es ist der Antisemitismus, den ich nicht ertragen kann. Und ich glaube, den bekommt man nicht per Gesetz weg. Ich glaube, was tatsächlich helfen kann, sind erstens, Bildungsmaßnahmen. Wir müssen bilden, auch Journalist*innen, und ihnen erklären, dass das Antisemitismus ist und warum. Warum es nicht einfach nur geschmacklos ist, sondern real. Ich glaube, die meisten würden zustimmen, dass der Gelbe Stern gar nicht geht und geschmacklos ist. Den Schritt, diese Verbindung kriegen die meisten Deutschen noch hin. Aber was sie nicht hinkriegen, ist zu verstehen, warum das Antisemitismus ist, und warum das gefährlich ist. Und das bedeutet Bildungsarbeit.
Und das Zweite ist einfach die journalistische Arbeit. Wir müssen erkennen, dass wir in einer Realität leben, in der man mit Provokation tatsächlich die gewünschten Ziele erreicht. Nämlich, dass man auf Bildern gezeigt wird, und dass man in Talkshows eingeladen wird. Die Gelben Sterne sieht man auch deswegen, weil die Bilder und die Plakate, die sie da hochhalten, verbreitet werden. Die, die Antisemitismus machen, werden mit Aufmerksamkeit belohnt. Man kann Menschen aber nur begrenzt ankreiden, dass sie ein Verhalten zeigen, für das sie belohnt werden. Das ist die normale menschliche Art. Wir sollten damit aufhören, diese Menschen mit Aufmerksamkeit zu belohnen. Das meint vor allem die Medienschaffenden, die hier meiner Meinung nach eine journalistische Verantwortung nicht wahrnehmen.
"Einfach nur Menschen sein." Die Rede am 27. Januar 2021 anlässlich des Internationalen Holocaust-Gedenktags im Bundestag als Vertreterin der dritten Generation nach der Shoah
Sharon Adler: In deiner Rede
Marina Weisband hält ihre Rede bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags aus Anlass des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. (© Deutscher Bundestag | Marco Urban)
Marina Weisband hält ihre Rede bei der Gedenkstunde des Deutschen Bundestags aus Anlass des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. (© Deutscher Bundestag | Marco Urban)
Marina Weisband: Dass ich Jüdin bin, sollte eine Selbstverständlichkeit werden und nur mit einem freundlichen Schulterzucken zur Kenntnis genommen werden. Ich glaube, das setzt noch diverse Heilungsprozesse voraus, die sicherlich auch Arbeit der Mehrheitsgesellschaft erfordern. Aktuell machen Jüdinnen und Juden diese Arbeit. Ständig, jeden Tag. Aber es erfordert auch Arbeit von der Mehrheitsgesellschaft, doch die hat diese Arbeit nicht unbedingt nötig. Ich wünsche mir ein Normalsein, ohne unsichtbar zu sein. Es gibt in dieser Gesellschaft sehr viel unsichtbare Arbeit, die nicht gewürdigt wird.
Sichtbarkeit und Gedenken
Sharon Adler: In deiner Rede hast du auch gesagt: "Wir müssen einen Weg finden, das Gedenken der Shoah weiter zu tragen, ohne uns selbst zu einem lebendigen Mahnmal zu reduzieren." Vor dem Hintergrund, dass mehr und mehr Augenzeug:innen sterben: Wie könnte deiner Meinung nach in Zukunft eine würdige Erinnerungskultur gestaltet sein?
Marina Weisband: Ich habe versucht, in meiner Rede zu erklären, dass es keinen Schlussstrich geben kann, solange wir keinen ziehen können. Ganz real. Nicht, weil wir nicht vergeben können. Vergeben ist hier überhaupt keine relevante Kategorie, aber ich lebe mit einem Trauma, das ich vererbt bekommen habe. Ganz real. Das betrifft mein gesamtes Leben. Solange Menschen leben, können wir keinen Schlussstrich ziehen. Und dieses Erinnern ist wichtig, weil es Zukünftiges verhindern sollte. Vielleicht ist es auch instrumentell. Nicht einfach nur aus Respekt gegenüber den Toten. Sondern weil es auch instrumentell für die Lebenden ist. Und zwar nicht nur für die Juden.
Hier geht es zur
Zitierweise: "Marina Weisband: "Einfach nur Mensch sein"", Interview mit Marina Weisband, in: Deutschland Archiv, 29.7.2021, Link: www.bpb.de/337320