Israel in Berlin
Sharon Adler: Du bist 1984 in Moskau geboren, mit deiner Familie 1991 nach Israel eingewandert und lebst und arbeitest seit 2016 in Berlin. Warum bist du gerade nach Berlin gegangen?
Ella Ponizovsky Bergelson: Tatsächlich zog ich schon 2008 das erste Mal nach Berlin, kurz nach dem Abschluss meines Studiums an der Bezalel Academy of Art and Design in Jerusalem. Ich fühlte mich von der alternativen Lebensart und der finanziellen Erschwinglichkeit der Stadt (im Vergleich zu Israel, Anm. d. Red.) angezogen. Außerdem reizte es mich, die Orte zu erkunden, an denen mein Großvater aufgewachsen ist, und mich ihnen wieder anzunähern. Aber ich war damals noch zu jung und noch nicht dafür bereit, deshalb kehrte ich bald zurück nach Tel Aviv, wo ich acht produktive Jahre verbracht habe. In dieser Zeit kam ich aber fast jedes Jahr im Sommer jeweils für die Dauer von zwei bis drei Monaten nach Berlin, wo ich in verschiedene Kulturprojekte involviert war.
Sharon Adler: Wann und warum hast du dich entschieden, von Israel nach Berlin zu gehen? Würdest du Berlin als „das Land, wo Milch und Honig fließt", als „Schlaraffenland”, bezeichnen, vor allem für Künstler:innen?
Ella Ponizovsky Bergelson: Trotz meiner Liebe zu Israel und zu den Israelis das Land war einfach zu klein für mich. 2015 traf ich die Entscheidung, wieder nach Berlin zurück zu ziehen, da die Lage in Israel immer schwieriger wurde – damit meine ich die Rassen- und Geschlechterungleichheit, den Rassismus, die politische Korruption und die wachsende Macht der Rechten. Als ich auf die 30 zuging, wurde das Leben in Israel für mich unerträglich, und Berlin war die offensichtliche Alternative. Hier konnte ich mir eine Zukunft für mich als nonkonformistische Frau vorstellen, die sich schon früh für eine alternative Lebensweise entschieden hat, die nicht die Gründung einer klassischen Kleinfamilie und einen Nine-to-Five-Job bedeutet. Berlin ist, im Vergleich zu anderen großen Metropolen, „das Schlaraffenland”, nicht unbedingt nur für Künstler:innen, sondern für alle, die aus einem konformistischen kapitalistischen System aussteigen wollen.
Sharon Adler: Was inspiriert dich in Berlin, was macht die Stadt für dich faszinierend und herausfordernd – als Künstlerin und in deinem Alltag (wenn es da überhaupt einen Unterschied gibt)?
Ella Ponizovsky Bergelson: Die größte Inspiration ist Berlins bunte, multikulturelle Gesellschaft. Man kann hier Menschen aus fast allen Teilen der Welt begegnen, was zu einem fruchtbaren gegenseitigen Austausch auf allen Ebenen führt. Die Herausforderung ist die deutsche kulturelle Identität: Ein gestörtes Verständnis von Gemeinschaft, Solidarität wird nicht als ein verinnerlichtes Konzept von Gemeinsinn verstanden, anstatt dessen wird alles bürokratisch kontrolliert, und es gibt einen tiefsitzenden Rassismus. In den letzten Jahrzehnten war das deutsche System vor allem damit beschäftigt, seinen Namen in den Augen der Welt reinzuwaschen, um sich seiner kollektiven Schuld zu entledigen. Deutschland will als ein Musterbeispiel für Veränderung, für „Tikkun”
Sharon Adler: Siehst du dich als Teil einer israelischen „Blase” von Künstler:innen in Berlin?
Ella Ponizovsky Bergelson: Ich habe nur einmal an einer Gruppenausstellung mit anderen israelischen Künstler:innen in Berlin teilgenommen. Ich sehe mich als ein „Hybrid” und nicht als israelische Künstlerin. Ich bin weder Teil der israelischen Kunstszene noch irgendeiner anderen Kunstszene. Gesellschaftlich könnte ich vielleicht, wenn überhaupt als einer Szene zugehörig, als Teil der Musikszene bezeichnet werden. Das liegt daran, dass ich mein ganzes Erwachsenenleben lang involviert war, an Musikveranstaltungen teilzunehmen und sie zu organisieren.
Sharon Adler: Ist es dir unangenehm, wenn du, zum Beispiel in Medien, als „israelische Künstlerin” bezeichnet wirst? Wenn ja, warum? Wurdest du schon mit Klischeebildern konfrontiert?
Ella Ponizovsky Bergelson: Ich fühle mich dabei unwohl, überhaupt in irgendeine Kategorie eingeordnet zu werden, da ich mich weder mit dieser Nationalität, noch mit einem der Orte, aus denen ich oder meine Familie stammen, vollständig identifiziere. Es ist mir definitiv unangenehmer, in Medien als russische Künstlerin bezeichnet zu werden. Obwohl meine Eltern und ich in Russland geboren wurden, würde ich sagen, dass der israelische Teil meiner Persönlichkeit der dominierende ist. Meine Auseinandersetzungen mit Klischees gibt es immer dann, wenn ich bemerke, dass ich als israelisches/jüdisches „Haustier” benutzt werde wenn Menschen unsere persönlichen Beziehungen oder meine Kunst missbrauchen, um sich ihrer eigenen Rassismusprobleme zu entledigen.
Migration und Integration
Sharon Adler: Migration und Integration bestimmt einen großen Teil deiner Arbeit und spielt auch in deinem persönlichen Leben eine große Rolle. In deiner Arbeit beschäftigst du dich mit diesen Themen durch die Visualisierung von Sprache und trägst sie in den öffentlichen Raum. Was sind die größten Herausforderungen, was ist dein Motor, deine Motivation?
Ella Ponizovsky Bergelson: Ich habe an vielen Orten auf der Welt gearbeitet. Die Herausforderungen sind überall unterschiedlich. Die Herausforderung in Deutschland ist das schwerfällige bürokratische System und die mangelnde Spontaneität, an die ich aus Israel gewöhnt bin. Es dauert zum Beispiel sehr lange, bis die Anbringung eines Wandbildes genehmigt ist. Und weil meine Arbeit außerhalb eines sterilen Galerie-/Museumsraums entsteht, ist es eine Form von Vandalismus, denn damit kreiere ich Interventionen im öffentlichen Raum, die dessen Uniformität stört. Und weil ich in meiner Arbeit Fremdsprachen verwende (ein sensibles Thema für die meisten), besteht eine weitere Herausforderung darin, den Menschen etwas entgegenzusetzen, die meinen, es sei ihre Pflicht, sich bei der Polizei zu beschweren, wenn ich male. Das Wandbild in Tempelhof zog viele enthusiastische Nachbar:innen an, die solche Beschwerden vorbrachten. Also mussten mein Team und ich zusätzlich zu meiner Arbeit, die kompliziert und kräftezehrend ist, uns sehr oft oder sogar die meiste Zeit mit der Polizei auseinandersetzen.
Die Arbeitshandschuhe der Künstlerin Ella Ponizovsky Bergelson (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Die Arbeitshandschuhe der Künstlerin Ella Ponizovsky Bergelson (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Und, nicht zuletzt, die Sprachbarriere. Als Ausländerin ist es sehr schwer, mit der deutschsprachigen Konkurrenz in der Fach- und Förderwelt mitzuhalten, da die meisten Ausschreibungen und Kunstveranstaltungen auf Deutsch stattfinden, obwohl der Grund für die Einzigartigkeit der Berliner Kunstszene ihre Hybridität ist – ihre multikulturelle Natur.
Sharon Adler: In deinen Wandbildern schreibst du auch auf Jiddisch. Hast du angefangen, dich für Jiddisch zu interessieren, als du nach Berlin kamst? Wie hast du mit deinen Recherchen über deine familiären Wurzeln in Berlin begonnen?
Ella Ponizovsky Bergelson: Ja, mein Interesse an meinem „Jüdischsein” begann, als ich nach Berlin gezogen bin. In Israel war jede_r jüdisch, daher gab es keinen Grund zu einer Selbstdefinition. Außerdem hatte ich das Bedürfnis, mich mit meiner neuen Heimatstadt zu verbinden und habe damit angefangen, die Berliner Geschichten meines Urgroßvaters, Dovid Bergelson, zu lesen, die er in den 1920er-Jahren auf Jiddisch geschrieben hatte. Er war ein bekannter jiddischer Autor. Ihn zu lesen hat mir die Tür zu weiteren jiddischen Akteur:innen geöffnet. Ich befinde mich noch ganz am Anfang dieser Reise.
Sharon Adler: Berlin war schon immer ein Schmelztiegel der Kulturen und Destination für Immigrant:innen. Wie empfindest du die jüdische Geschichte und die NS-Vergangenheit in Berlin? Ist jüdisches Leben und jüdische Kultur von heute deiner Meinung nach sichtbar?
Ella Ponizovsky Bergelson: Ohne Zweifel ist die jüdische Kultur in Berlin nicht annähernd so sichtbar wie vor einem Jahrhundert. Und doch ist es nicht das Ziel meiner Arbeit, die jüdische Kultur extra zu betonen oder sie gegenüber anderen kulturellen Minderheiten, die in der Stadt koexistieren, hervorzuheben. Mein Ziel ist es, eine Erfahrung von kultureller Fluidität zu kreieren – um die kulturellen Distanzen in meiner Arbeit wie in meinem täglichen Leben zu verwischen.
Sharon Adler: Wie hast du dich der Stadt mit ihrer vielschichtigen jüdischen Geschichte und Gegenwart durch deine Arbeit genähert?
Ella Ponizovsky Bergelson: Beim Lesen von Dovid Bergelsons expressionistischen Berlin-Geschichten war ich überrascht von den Ähnlichkeiten des Berlins der 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts und des heutigen Berlins in Bezug auf die Erfahrungen von Migrant:innen und Flüchtlingen und deren Communities. So sind die Szenarien in den Geschichten meines Urgroßvaters fast immer in temporären Orten angesiedelt (Pensionen, Gästehäusern, angemieteten Zimmern, Straßen und Parks). Es fehlt eindeutig ein Gefühl von Heimat niemand ist verwurzelt, das Temporäre dominiert die Atmosphäre. Ich konnte kaum glauben, wie sehr ich dieses Gefühl nicht nur aus eigener Erfahrung kannte, sondern auch durch meine Beobachtungen von anderen Menschen in meinem Umfeld. Menschen mit nichteuropäischem Migrationshintergrund, und Menschen, die hier in Berlin geboren und aufgewachsen sind, die Deutsch als Muttersprache sprechen. So bin ich auf die Idee gekommen, Jiddisch ins Arabische zu übersetzen – hauptsächlich, um diese Minderheiten zu vergleichen , das Damals und das Heute zu vergleichen und die wirkliche Veränderung im Berlin der Nachkriegszeit, nach dem Zweiten Weltkrieg, zu untersuchen.
Visualisierung von Sprache - Hybride Kalligrafie
Sharon Adler: In deiner Kunst schaffst du ortsspezifische Wandbilder im öffentlichen Raum: kalligrafische Arbeiten auf Wänden, die mehrere Sprachen wie Jiddisch, Arabisch und Deutsch kombinieren. Du nennst deine Technik oder dein Prinzip „hybride Kalligrafie“. Was bedeutet das? Was bedeutet „hybrid“ in diesem Zusammenhang? (Ist Vergänglichkeit oder Elusivität
Ella Ponizovsky Bergelson: „Hybride Identität“
Die Textvorlage für das Wandbild (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Die Textvorlage für das Wandbild (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Tatsächlich ist ein großer Teil der Gesellschaft hybrid, obwohl viele ihre Hybridität zu verschleiern oder zu verwischen scheinen und dazu tendieren, sich ausschließlich auf die dominierende Seite allein zu beziehen. Sprache ist die starrste, unflexibelste Manifestation einer Kultur. Während Musik oder Kunst eher Einflüsse von außen aufnehmen, kommt Sprache nur langsam hinterher. Außerdem gibt es eine Tendenz bei Behörden, Sprache nicht zu verändern. Es gibt eine richtige und falsche Art zu sprechen und zu schreiben, während es keine falsche Art gibt, Kunst oder Musik zu machen - die ja auch Definitionsmerkmale einer Kultur sind. Als Künstlerin ist es mir „erlaubt“, diese Beschränkungen und Regeln zu brechen und drei oder vier Sprachen in einem Satz zu mischen - und damit eine typografische Koexistenz zu schaffen, die ansonsten ein Tabu ist.
Present Figures/Gegenwartsfiguren
Sharon Adler: Die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist ein immer wiederkehrendes Thema in deiner Arbeit. „Gegenwartsfiguren/Present Figures“ ist inspiriert von den Gedichten der jüdisch-polnischen Philosophin und Dichterin Debora Vogel (geboren 1902 in Bursztyn – ermordet 1942 in Lvov Ghetto, beides Orte in der heutigen Ukraine).
Ella Ponizovsky Bergelson: Von Debora Vogels Werk habe ich durch einen Freund, den Dichter und Schriftsteller Jordan Lee Schnee, erfahren – einer meiner wenigen Freunde, der Jiddisch spricht und schreibt. Er machte mich mit einigen ihrer Gedichte bekannt. Das war zu Beginn der Pandemie im letzten Jahr. Ich fühlte mich ihr gleich stark verbunden und fing ziemlich schnell damit an, zu ihr zu recherchieren und ihre Werke zu lesen. Tatsächlich geht es in diesem Projekt um die pandemische Realität. Wer Vogels kritische Gedichte einmal gelesen hat, kann verstehen, warum. Ich war überrascht, in einer kleinen Buchhandlung bei mir zuhause um die Ecke,
Das komplette Wandbild auf einem Wohnhaus in Berlin Tempelhof (© bpb)
Das komplette Wandbild auf einem Wohnhaus in Berlin Tempelhof (© bpb)
ihr Werk enthielt, ein Gespräch, das in diesem Laden stattgefunden hatte.
Das alles erschien mir wie ein allzu großer Zufall, denn Vogel war eine unbeachtete Figur, die nie bekannt wurde. In gewisser Weise kam Debora Vogel zu mir und nicht ich zu ihr. Die Realität, die sie konstruierte, „geprägt von Melancholie und Langeweile“, spiegelt so stark die jetzige Zeit wider, die von der Pandemie und dem Lockdown beherrscht wird, dass ich einfach etwas tun musste, etwas Eigenes schaffen, indem ich ihre Worte als „Baumaterial“ verwendete. Je mehr ich zu ihr recherchierte, desto mehr habe ich mich mit ihr verbunden. Ich fand heraus, dass sie aus einer Polnisch/Deutsch sprechenden Familie stammte, die einer sozialen Klasse angehörte, die nicht Jiddisch
Sharon Adler: Du hast eine besondere Aufmerksamkeit für die Reflexion von Sprache, für kulturelle Identität durch ihre Struktur und ihre visuelle Erscheinung entwickelt. In deiner Arbeit, in deinen Wandbildern, benutzt du Debora Vogels Poesie nicht einfach, sondern schaffst eine neue Art von visueller Poesie. Was war dir dabei besonders wichtig? Was war deine Strategie, um dein Konzept/deine Idee umzusetzen?
Ella Ponizovsky Bergelson: Für „Present Figures“ habe ich Vogels Worte nicht einfach kopiert, sondern versucht, die dahinterstehende Philosophie und Motivation aufzufangen. Vogels Idee war es, die Erkenntnisse der postmodernen visuellen Kunst zu nutzen, um sie in Worte zu übersetzen. In ihren Gedichten werden Kompositionen, die aus geometrischen Formen, flachen Farbflächen und Umrissen bestehen, zu Wörtern und Sätzen. Ich benutzte die gleiche Strategie, aber umgekehrt ihre Gedichte oder „Wortkonstruktionen“ werden zum Bild. Da ihre Gedichte von urbanen Bedingungen und dem „Junk“ dem Gewöhnlichen im Leben inspiriert waren, benutzte ich ihre Poesie, die in der Sphäre der „Intelligenzija“ existiert, und setzte sie zurück in die Vorstadtstraßen, und kreiere so einen Loop-Effekt. Nicht zu übersehen ist die Tatsache, dass ich ihr Jiddisch ins Arabische und Englische übersetze also nicht nur die „verborgene jüdische Kultur“ sichtbar mache, sondern ihre Zerstörung mit denen anderer Minderheiten und Migrant:innenpopulationen vergleiche, die heute in Berlin leben. Mir geht es nicht darum, laut heraus zu schreien, dass wir immer noch da sind, sondern über unsere – meiner Meinung nach heutige privilegierte Stellung in der deutschen Gesellschaft im Vergleich zu anderen zu reflektieren. Meiner Meinung nach ist die jüdische Kultur nicht „zerstört“. Ich bin hier und viele andere Israelis und/oder Jüdinnen/Juden sind es auch. Wir haben eine Stimme. Viele andere haben das nicht.
Among Refugees/Unter Flüchtlingen – Generation Y., Familiäre Wurzeln: Dovid Bergelson, Tsvishn Emigrantn (1928)
Sharon Adler: In deiner Arbeit „Among Refugees Generation Y“ hast du Wandbilder mit (jiddischen) Zitaten deines Urgroßvaters, des Schriftstellers Dovid Bergelson, geschaffen, der in seinen auf Jiddisch geschriebenen Essays das jüdische Leben und die Kultur beschrieb. Kannst du bitte etwas über sein Werk, sein Leben und seinen Tod erzählen?
Ella Ponizovsky Bergelson: Dovid Bergelson (1884-1952) war bereits ein bekannter expressionistischer Schriftsteller, als er Teil einer Einwanderungswelle war, der zahlreiche Autor:innen, Dichter:innen, Künstler:innen und Gelehrte angehörten, die sich in Berlin in einer Zeit niederließen, als Literatur und Kunst in dieser europäischen Metropole aufblühten. Die politische und künstlerische Freiheit Berlins in den frühen 1920er-Jahren zog eine Vielzahl von jiddischen Schriftsteller:innen und Künstler:innen an, die sich mit anderen Intellektuellen und Migrant:innen in einer dynamischen Kunstszene mischten. Eine Auswahl von Bergelsons Berlin-Geschichten erschien unter dem Titel „The Shadows of Berlin“ (2005, City Lights Books, San Francisco) in englischer Sprache neu. Darin wird das Leben in Berlin in der prekären Zeit zwischen den Weltkriegen dargestellt – vor allem das ungewisse Schicksal der intellektuellen Exilant:innen. Die Geschichten erlauben flüchtige Einblicke in eine Gemeinschaft und in eine Welt, die heute verloren ist.
Von all seinen Erzählungen, die in Berlin angesiedelt sind, ist „Among Refugees“ die bekannteste und hat am meisten kritische Aufmerksamkeit erhalten. Sie kann als eine Studie über verschiedene Formen der existenziellen Krise, die durch das Exil ausgelöst wird, gelesen werden. Kurz zusammengefasst handelt die Geschichte von einem etablierten jiddischen Schriftsteller in Berlin, der von einem seltsamen jungen Mann, der sich als jüdischer Terrorist vorstellt, besucht wird. Er erzählt dem Erzähler seine Lebensgeschichte, die von Ortswechseln bestimmt ist, und gesteht, selbst Schriftsteller zu sein. Währenddessen webt er eine weitere fiktive Geschichte ein.
Der eigentliche Grund seines Besuchs ist die Suche nach einer Waffe, um seine Mission zu erfüllen, seinen Nachbarn zu ermorden, der ein Pogrom angeordnet hat und für den Mord an der Familie des jungen Mannes in der Ukraine verantwortlich ist. Am Ende steht der Selbstmord. In seinem Abschiedsbrief gesteht der junge Schriftsteller: „Jetzt verstehe ich alles: Ich bin ein Flüchtling ... unter Flüchtlingen. Ich will keiner mehr sein... .“
So gelesen ermöglicht uns „Among Refugees“, Bergelsons Berlin als einen Ort der Ungewissheit zu sehen, in dem gewohnte Modelle der Interaktion zwischen vertriebenen Menschen und zwischen vertriebenen Schriftsteller:innen und Leser:innen scheiterten. Bergelsons Existenzsorgen wurden schließlich durch seine Entscheidung gelöst, in die Sowjetunion zu gehen, da er dort seine eigentlichen Leser:innen vermutete. Als einer der letzten aus seiner Runde verließ Bergelson Berlin im Jahr 1934 und zog zurück nach Moskau, wo er und seine Schriftstellerfreunde nach zwei Jahrzehnten fruchtbarer künstlerischer und politischer Aktivität während einer antisemitischen Kampagne unter Stalin gegen die „wurzellosen Kosmopoliten" wegen ihres Engagements im Jüdischen Antifaschistischen Komitee fälschlich des Hochverrats und der Spionage angeklagt und 1952 exekutiert wurden. Das führte dazu, dass die progressive jiddisch-kulturelle Community in der Sowjetunion
Sharon Adler: Was ist die Idee hinter deinem Projekt „Among Refugees/Unter Flüchtlingen - Generation Y”? Was sind die Parallelen zwischen der Arbeit deines Urgroßvaters und seinem Leben damals und deinem heute?
Ella Ponizovsky Bergelson: In meinem Wandbildprojekt verwendete ich Schlüsselsätze aus seiner Geschichte und wiederholte die Botschaft auf meine visuelle Weise in einer Schleife, wobei jedes Wort in einer anderen Sprache (Arabisch, Jiddisch und Deutsch) geschrieben ist, was sie der Lesbarkeit entzieht. Ich habe temporäre, abwaschbare Farben verwendet, die nach und nach verblassen. Ich hatte das Gefühl, dass ich und andere um mich herum eine jahrhundertealte Realität neu erleben. Ich habe Dovid Bergelson nie kennengelernt, da er getötet wurde, bevor ich geboren wurde, aber ich fühle, dass er in mir fortexistiert, und ich setze mich dafür ein, in meiner eigenen Bildsprache das auszudrücken, was er erfahren und so würdevoll ausgedrückt hat.
Das Publikum, die Rezeption
Sharon Adler: Wie wird deine Arbeit rezipiert, was sind die Reaktionen? Was ist deine Antwort, wenn Menschen auf deine Gemälde und Kalligrafien mit „wie schön!“ reagieren? Wie transportierst du die Idee und Philosophie dahinter?
Ella Ponizovsky Bergelson: Es ist nicht meine Absicht, Dinge schön zu machen. Vielleicht eher das Gegenteil - ich provoziere, indem ich die „schmutzigen Laken“ sichtbar mache. Die Reaktionen sind die Quintessenz dessen, was ich widerspiegeln möchte, und die sind sehr vielfältig: Kinder sind von den Farben begeistert. Sie bleiben stehen und gucken fasziniert. Es ist ihnen egal, ob sie es lesen oder verstehen können oder welche Sprachen das sind. Die süßeste Reaktion war, als mich ein Kind fragte, ob ich auch auf ihrem Balkon malen könnte. Die Teenager greifen den Multikultiaspekt auf und kümmern sich nicht so sehr um den Inhalt der Worte oder was dahintersteckt. Sie finden es einfach cool.
Ella Ponizovsky Bergelson vor ihrem Wandbild in Berlin-Tempelhof (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Ella Ponizovsky Bergelson vor ihrem Wandbild in Berlin-Tempelhof (© Sharon Adler/PIXELMEER, 2021)
Die arabische Bevölkerung (egal welchen Alters) reagiert stolz – ich habe es oft gehört, wie die Leute laut gerufen haben: „Das ist auf Arabisch!“ und dann den arabischen Text laut vorgelesen haben als ob sie damit sagen wollten: „Ich kann das lesen! Ich werde gesehen. Ich bin präsent.“ Was wirklich auffällt, ist, dass ich viele verbale Angriffe von der älteren deutschen Bevölkerung erlebt habe. Sie scheinen Angst vor dem zu haben, was sie nicht verstehen. Sie stellen viele Fragen zum Text, kommentieren die Unlesbarkeit, die sprachlichen „Fehler“ und den schmutzigen Stil und fordern mich häufig auf, ich solle „zurück nach Kreuzberg gehen". Obwohl mein Unternehmen legitim und 100 Prozent legal ist, hatte ich jeden Tag die Polizei am Hals. Sie hatte ungezählte Anrufe von „besorgten“ Nachbar:innen erhalten.
Zitierweise: "Ella Ponizovsky Bergelson: Künstlerin und Schöpferin der hybriden Kalligrafie", Interview mit Ella Ponizovsky Bergelsonin: Deutschland Archiv, 3.5.2021, Link: www.bpb.de/332369
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