Grundsätzlich war innerhalb der DDR-Familienpolitik die Ehe – und nicht die nichteheliche Lebensgemeinschaft – der zentrale Dreh- und Angelpunkt. Eine der bis heute bekanntesten familienpolitischen Maßnahmen waren beispielsweise die Ehekredite, die Frischverheiratete seit 1972 aufnehmen und durch das sogenannte Abkindern zurückzahlen konnten. Pro Geburt wurde einem Ehepaar ein Drittel der Rückzahlung erlassen. Ab drei Kindern war der gesamte Kredit getilgt. Es gab aber auch weniger bekannte Maßnahmen, die sich an Ehepaare als Zielgruppe richteten. In einigen Kreisen der DDR wurden beispielsweise sogenannte Eheschulen veranstaltet. Hierbei handelte es sich in der Regel um Abendkurse, in denen vor allem junge Menschen in guter Eheführung unterrichtet wurden. Auf diese Weise sollten scheidungsanfällige junge Ehen stabilisiert und das Ideal der Dreikindfamilie propagiert werden.
Pronatalismus und Promaritalismus
Jedenfalls war die Ehe aus Sicht der SED die Form der Paarbeziehung, die den Interessen der Paare und ihrer Kinder am besten entsprach. Das Leben in einer glücklichen und kinderreichen Ehe galt als integraler Bestandteil der sozialistischen Lebensweise. Die Familienpolitik in der späten DDR war dementsprechend stark „pronatalistisch“ und auch „promaritalistisch“: Geburten und Eheschließungen sollten also gefördert und Ehescheidungen vermieden werden. Rein statistisch zeigte dieser familienpolitische Kurs aber keine (nachhaltige) Wirkung: 1975 lag die Fertilitätsrate bei 1,54 Kindern pro Frau. Im Jahr 1980 stieg dieser Wert zunächst auf 1,94, ehe er 1985 auf 1,74 und 1989 wieder auf 1,57 Kinder pro Frau fiel.
Ein statistisch schwer zu fassender Trend
Ein weiterer demographischer Trend, der in der späten DDR immer deutlicher wurde, war die Tendenz zu nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Geburten. Laut offiziellen Angaben lebten Mitte der 1980er-Jahre lediglich zwei Prozent der Bevölkerung unverheiratet zusammen.
„Eigen-sinn“ und Nichtehelichkeit
Aus heutiger Sicht stellt sich die Frage, wie sich der Trend zur Nichtehelichkeit in der DDR immer weiter verstärken konnte, wenn er doch von staatlicher Seite eher unerwünscht war. Eine Rolle in diesem Zusammenhang spielte das „eigen-sinnige“
Eine weit verbreitete Strategie war, als unverheiratet zusammenlebende Mütter und Väter eine gewisse Zeit von diesen für Alleinerziehende gedachten Leistungen zu profitieren und erst danach eine Ehe einzugehen. Dies war aus materieller Sicht sinnvoll, da durch die Eheschließung weitere sozialpolitische Leistungen und Vorzüge in Anspruch genommen werden konnten (zum Beispiel der bereits genannte Ehekredit, auf den voreheliche Geburten auch rückwirkend angerechnet werden konnten). Dass ihre eigenen sozialpolitischen Strategien den Trend zur Nichtehelichkeit zum Teil befeuerten, wurde von staatlicher Seite in der Regel verschleiert oder zurückgewiesen. Ebenso wenig wurden Maßnahmen getroffen, um zu verhindern, dass Sonderleistungen für Alleinerziehende von unverheirateten Paare mit Kindern in „eigen-sinniger“ Weise genutzt wurden.
Gründe für den Trend zur Nicht- bzw. zur Vorehelichkeit
Gleichzeitig wurde von staatlicher Seite versucht, die Gründe für den Trend zur Nichtehelichkeit zu eruieren. Eine Studie des Zentralinstituts für Jugendforschung aus dem Jahr 1985 kam beispielsweise zu dem Schluss, dass dieser Trend in erster Linie „gesellschaftlich determiniert“ sei. Die familienpolitischen Rahmenbedingungen hätten den Trend nur in einem sehr begrenzten Ausmaß befördert. Als bedeutenderen Einflussfaktor nannte die Studie hingegen die Liberalisierung der Sexualmoral. Auch die steigenden Scheidungszahlen seien ein Faktor, der eine skeptische Haltung gegenüber der Eheschließung begünstige. Außerdem würden Männer und Frauen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften mehr Freiheit für individuelle Interessen und Gewohnheiten als in der Ehe erwarten.
Jedoch muss bedacht werden, dass nichteheliche Lebensgemeinschaften in der späten DDR zum Großteil de facto voreheliche Lebensgemeinschaften waren. Das bedeutet, dass diese Beziehungen nach einiger Zeit meist doch in eine Ehe überführt wurden. Spätere Schätzungen kamen zu dem Ergebnis, dass Ende der 1980er-Jahre etwa 80 Prozent der Paare in der DDR vor der Eheschließung unverheiratet zusammengelebt hatten.
Nach 1989/90: weder Schock noch Anpassung
Mit der deutschen Einheit war das Ende der pronatalistischen und promaritalistischen Familienpolitik gekommen. In vielerlei Hinsicht waren die alten Rahmenbedingungen, unter denen sich die Tendenz zur Vorehelichkeit entwickelt hatte, in den 1990er-Jahren nicht mehr vorhanden. Jedoch verschwand diese gesellschaftliche Tendenz nicht, sondern sie nahm weiterhin einen eigenen, vom westdeutschen abweichenden Entwicklungsweg. Fest steht, dass der sogenannte Wiedervereinigungsschock, den die Sozialwissenschaften prophezeit und für manche Gesellschaftsbereiche auch tatsächlich beobachtet hatten, hinsichtlich der nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Geburten keine signifikante Rolle spielte. Ebenso fand in diesem Bereich keine Anpassung an westdeutsche gesellschaftliche und demografische Trends statt.
Auch in der Bundesrepublik hatte sich das nichteheliche Zusammenleben im Laufe der 1970er- und 1980er-Jahre als selbstverständliches Modell etabliert. Schätzungen zufolge lag zwischen dem Ende der 1970er- und dem Anfang der 1980er-Jahre der Anteil unverheiratet zusammenlebender Paare zwischen einem Drittel und 50 Prozent.
Von der Vorehelichkeit zur Nichtehelichkeit
Der ostdeutsche Trend zu nichtehelichen Lebensgemeinschaften verstärkte sich in den 1990er-Jahren. Immer seltener handelte es sich dabei jedoch um voreheliche Lebensgemeinschaften. Im Jahr 1990 waren noch 57 Prozent der Ostdeutschen zwischen 20 und 35 Jahren verheiratet. Im Jahr 2004 betrug dieser Anteil nur noch 19 Prozent. Im Westen sank der Verheiratetenanteil im selben Zeitraum von 43 auf 29 Prozent.
Die bundes- und nach 1989/90 auch die gesamtdeutsche Familienpolitik räumte verheirateten Paaren grundsätzlich mehr Vorteile ein als unverheirateten Paaren – wobei es keine Rolle spielte, ob ein Ehepaar Kinder hatte oder nicht. Anders als unverheiratete Paare profitier(t)en beispielsweise verheiratete Paare von Begünstigungen wie dem Ehegattensplitting, der gemeinsamen Veranlagung zur Einkommensteuer. Diese steuerliche Regelung war und ist vor allem für solche Ehepaare von Vorteil, in denen ein Partner – de facto meist der Mann – das gesamte oder den Großteil des Einkommens erwirtschaftet(e).
Jedoch entsprach eine solche Konstellation eher der west- als der ostdeutschen Lebensrealität: Hier ging die weibliche Erwerbsquote nach 1989/90 wegen der schlechten Lage am Arbeitsmarkt zwar zurück, blieb aber dennoch (etwas) höher als in Westdeutschland. Beispielsweise waren im Jahr 1991 54,3 Prozent der Frauen in Westdeutschland und 66,2 Prozent der Frauen in Ostdeutschland berufstätig. 1995 lagen diese Werte bei 54,4 Prozent beziehungsweise 57,5 Prozent.
Fazit
Alles in allem wurde das demographische Muster der Nichtehelichkeit, welches schon zu DDR-Zeiten bestanden hatte, auch nach 1989/90 weitergeführt. Jedoch wurde dieses „alte“ Muster einem Transformationsprozess unterzogen. Die Tendenz zur Vorehelichkeit wandelte sich schrittweise in eine eigene, von der westdeutschen Entwicklung abweichende Tendenz zur Nichtehelichkeit. Anders als in der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Forschung erwartet worden war, fand also keine einseitige Anpassung von in der DDR geprägten Wert- und Verhaltensmustern an ihre bundesdeutschen Pendants statt.
In vielerlei Hinsicht gab es in Deutschland auch nach 1989/90 noch gesellschaftliche Unterschiede: Im Osten Deutschlands spielte das für den Westen noch eher typische traditionelle Familienmodell eine deutlich geringere Rolle. Ein Beleg dafür ist zum Beispiel die stärkere Verbreitung und Akzeptanz außerhäuslicher Kinderbetreuung – in der Regel ganztägig und auch für Kinder unter drei Jahren. Ein weiterer Beleg ist der größere Anteil permanenter nichtehelicher Lebensgemeinschaften, insbesondere auch mit Kindern. Abgesehen davon darf aber nicht vergessen werden, dass die Ehe in den 1990er-Jahren die dominante Form der Paarbeziehung in beiden Teilen Deutschlands blieb – zumindest dann, wenn man alle Altersgruppen in der Bevölkerung betrachtet. So lebten im Jahr 1999 ungefähr 39 Millionen Deutsche als Ehepaare zusammen, während nur ungefähr zwei Millionen Deutsche in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebten.
Zitierweise: Eva Schäffler, "Ein „eigener“ Weg der Paarbeziehungen: Nichtehelichkeit in der späten DDR und in Ostdeutschland", in: Deutschland Archiv, 16.4.2021, Link: www.bpb.de/331533