Die Wiedervereinigung hat in den ostdeutschen Neuländern zu demografischen Einbrüchen geführt, die bis heute nachwirken. Diese Problematik wurde in ihrer Tragweite nicht bekannt oder von Politik und Gesellschaft zur Kenntnis genommen. So war in den 1990er-Jahren die Männersterblichkeit in den Neuländern etwa dreimal höher als in den alten Bundesländern, und die Geburtenrate schrumpfte auf weniger als die Hälfte, obwohl die Geburtenzahl in der DDR deutlich höher lag als im Westen.
Etwa jeder zweite Erwerbstätige wurde arbeitslos. Trotz Qualifikation konnte die Mehrheit der Erwerbstätigen nicht wieder in ihrem Beruf Fuß fassen. Der Abriss der Industrie, die Entvölkerung und das Verschwinden von sozialen Gefügen, die Entwertung von Herkunft und Qualifikationen in der DDR, Arbeitslosigkeit, Überflüssigkeit und Armut wurden zu neuen Faktoren von Krankheit, Sterblichkeit und Substanzkonsum. Bei den Drogen-, Suizid- und Sterblichkeitsumfragen werden getrennte Erhebungen zwischen Ost und West immer seltener. Damit wird ein vereinigungsbedingter Kulturkonflikt nicht nur tabuisiert, sondern auch über Generationen hinweg fortgesetzt.
Unmittelbar nach der Wiedervereinigung waren die neuen Länder nicht von Suchterkrankungen durch illegale Drogen betroffen. Die Epidemiologin Renate Kirschner und der Psychologe Dieter Kleiber stellten in einer Studie zwischen 1990 und 1994 fest: "Illegaler Drogenkonsum bzw. Erfahrung mit illegalen Drogen waren bis zum Fall der Mauer in der DDR mangels Verfügbarkeit kaum verbreitet. Die nahezu undurchlässigen Grenzen und die fehlende Konvertierbarkeit der Währung ließen keinen Markt für Cannabisprodukte oder Opiate entstehen. Die in der DDR vom Zentralinstitut für Jugendforschung regelmäßig durchgeführten Jugendbefragungen zeigen keine Anhaltspunkte für den Gebrauch illegaler Drogen."
Im Gegenzug wurde allerdings in der DDR viel Alkohol und Nikotin konsumiert. Nach Recherchen des Historikers Thomas Kochan wird vermutet, "dass in der DDR fünf Prozent aller Erwachsenen alkoholabhängig waren – viermal mehr als zum gleichen Zeitpunkt in der Bundesrepublik".
Wie in der DDR Alkoholkonsum zur Suchterkrankung führte, waren es in der BRD der Missbrauch illegaler Drogen: "Über die 1970er- und 1980er-Jahre nimmt das Problem des Rauschgiftmissbrauchs in der Bundesrepublik immer größere Ausmaße an. Bei geschätzten 60.000 bis 100.000 Rauschgiftabhängigen steigt auch die Kriminalitätsrate stetig an. Anfang der 1980er-Jahre finden sich schließlich mehr Abhängige im Strafvollzug wieder als in den Therapiezentren." Eine in der DDR unbekannte Prosperität, wie der Kultur- und Sozialanthropologe Axel Timmermann bestätigte.
Kirschner und Kleiber stellten in ihrer Studie fest, dass trotz der vereinigungsbedingten Umwälzungen zwischen 1990 und 1993 der Konsum illegaler Drogen in den ostdeutschen Neuländern nicht signifikant anstieg. "Die Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Ostdeutschland nach der Wende mit der in bestimmten Bevölkerungsgruppen damit verbundenen Labilisierung der sozialen, ökonomischen und partiell auch familiären Verhältnisse führt nach der vorliegenden Datenlage bisher nicht zu einem drastisch steigenden Konsum illegaler Drogen."
Grundsätzlich anders ist die Situation nach 20 Jahren. So entwickelte sich Chemnitz ab den 2000er-Jahren zur Crystal-Meth-Hauptstadt Europas. Eine Studie des "European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction" erforschte den Drogenkonsum von Einwohnern mittels Abwasseranalysen. Im Vergleich von 60 Städten wurden 2017 in Chemnitz die größten Rückstände von Methamphetamin im Abwasser gefunden.
Dieser Tatbestand ist einerseits mit den bisherigen offiziellen Drogenberichten inkompatibel, lässt aber andererseits auf einen krassen sozialen Wandel im Zuge der neoliberalen "Reformen" nach 1990 schließen. Gerade in Chemnitz ist das Ausmaß der Zerstörung des vormals größten Industriebezirks der DDR durch die Liquidationspolitik der Treuhand erheblich. Die systematische Arbeitsvernichtung hatte eine explosive Massenarbeitslosigkeit zur Folge. Zehntausende suchten sich in anderen Regionen eine Arbeit, viele, die blieben, waren in Minijobs und Teilzeitarbeit beschäftigt.
Diese Dynamiken bewirkten in kurzer Zeit gravierende Veränderungen wie städtisch-strukturelle Umgestaltung, Entvölkerung, Geburteneinbruch, sozialer Abstieg, Anstieg der Mortalität, vor allem der Männersterblichkeit, sowie Substanzkonsum. Wie viele andere Städte und Industriestandorte der DDR mutierte auch Chemnitz von einem starken Industriestandort zu einem Dienstleistungs- und Touristikstandort, in dem Langzeitarbeitslosigkeit und Überflüssigkeit zum sozialen Grundzustand wurden.
Der Drogen- und Suchtbericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung von 2019 (auch der Jahre zuvor) thematisiert weder das akute Drogenproblem im Osten, noch bietet er getrennte Erhebungen zu Ost- und Westdeutschland an. Inzwischen werden zu demografischen Umfragen pauschalierte Erhebungen gestartet, obwohl die Teilgesellschaften in ihrem sozialen Verhalten auseinanderdriften. Gern wird immer wieder eine Annäherung beider Teilgesellschaften beschworen, die sich aber anhand von Erhebungen nicht bestätigen lässt. Damit wird lediglich das nach wie vor akute Problem eines vereinigungsbedingten Kulturkonflikts überblendet.
Nicht erklärt bleibt dadurch vor allem das rapide Anwachsen illegalen Drogenkonsums in den ostdeutschen Neuländern. Das Suchtproblem muss als Folgestörung der vereinigungsbedingten Abriss- und Assimilationspolitik anerkannt werden. Studien zu Traumafolgeerkrankungen belegen eine erhöhte Stressanfälligkeit und eine erhöhte Sterblichkeit in den ostdeutschen Neuländern. Aktuell betroffen ist die Jahrgangskohorte 1955 bis 1975 geborener, DDR-sozialisierter Ostdeutscher, vor allem Männer im Erwerbsalter.
Es gilt als bestätigt, dass gerade die prekäre Arbeit hohe Frustration erzeugt, da mehr gearbeitet wird, oft tariffrei und für weniger Geld, vor allem im Vergleich zu Arbeitnehmern im Westen. Die Frustration erhöht sich, wenn die prekären Arbeitnehmer Ost feststellen, dass Hartz.IV-komplettalimentierte Menschen monatlich mehr Sicherheiten und finanzielle Mittel erhalten. Die Frustration erhöht sich nochmals, wenn prekäre Arbeitnehmer feststellen, dass sie nach der "Wiedervereinigung" nicht nur zu Bürgern zweiter Klasse herabgesetzt wurden, indem ihre Aufstiegschancen auf dem ersten Arbeitsmarkt verschlossen blieben, sondern indem sie trotz Qualifikation prekärer Arbeit nachgehen mussten, die kein (Alters-)Auskommen garantierte.
Zudem wurde für Neubürger, anders als in anderen Ländern der einstigen RGW-Staaten, eine gewisse Vermögensbildung in den 1990er-Jahren verhindert, sodass hier der sukzessive Armutsabstieg für die Mehrheit der zwischen 1945 und 1975 Geborenen irreparabel wurde. Schliesslich folgte mit den Hartz-Gesetzen ihre Abschiebung in eine Armutskonkurrenz mit den Armen der Abstiegsgesellschaft West. Das öffentliche Schweigen darüber verschärft die soziale Lage und wird durch neuere Kultur- und Migrationskonflikte überdeckt. Die Problematik, dass DDR-sozialisierte Menschen in der Jahrgangskohorte 1945 bis 1975 Geborener mit struktureller Diskriminierung und alltäglichem Rassismus konfrontiert wurden, lässt viele verbittern. Der Berliner Neurologe, Psychiater und Psychotherapeut Christoph Seidler bezeichnet diesen Vorgang als "nachträgliche Ethnisierung".
Bezeichnenderweise wurde eine mit Bundesmitteln subventionierte Forschung der Migrationssoziologin Naika Foroutan populär gemacht, die feststellte, dass Ostdeutsche mit DDR-Sozialisation migrantisches Verhalten zeigen, also ebenfalls Migranten sind. Auf eine gesellschaftliche Herabstufung von DDR-Bürgern im vereinigten Deutschland zu Bürgern zweiter Klasse in den 1990er-Jahren folgte ihre Ethnisierung als Minderheitenbevölkerung und schließlich ihre Migrantisierung, das heißt ihre Gleichstellung mit beispielsweise muslimischen Migranten. Mit solchen Sozialstrategien wird der Tabuisierung eines seit 1990 hergestellten Ost-West-Kulturkonflikts in den ostdeutschen Neuländern Vorschub geleistet.
"Ostdeutsche Migranten" wurden etwa seit 2017 zu einem neuen diskursiven und medialen Trend, ohne dass dieser auch nur ansatzweise zu einer gesellschaftlichen Aufwertung von Herkunft und Qualifikation in der DDR geführt hätte oder zur öffentlichen Thematisierung der vereinigungsbedingten kollektiven Traumatisierungen mit Krankheitsfolgen in den Neuländern.
Der Europäische Drogenbericht 2019 bestätigt eine lückenhafte Forschung zu Konsumaktivität, Epidemiologie und Toxikologie psychoaktiver Substanzen (illegale und synthetische Drogen, Alkohol, Medikamente) auf nationalen Ebenen. Darüber hinaus gestaltet sich die Forschung zu Substanzkonsum in den ostdeutschen Neuländern ab 1990 als äußerst rudimentär und insuffizient. Erhebungen und Studien werden bis heute an der allgemeinen deutschen Bevölkerung durchgeführt, wobei gerade die vereinigungsbedingten Traumatisierungen einen rapiden Anstieg von Substanzkonsum sowie von biologischen und psychosozialen Risikofaktoren in Ostdeutschland anhand repräsentativer Stichproben verdeutlichen.
Vollkommen ausgeblendet wurde hier eine Erforschung des Substanzkonsums bei Jugendlichen und Kindern, den sogenannten Wendekindern. Die eliminierte Suchtforschung in Ostdeutschland verhindert eine genauere Ursachenerfassung für die immer noch doppelt höhere Mortalität von Männern im Erwerbsalter im Vergleich zu Männern in den alten Bundesländern. Obwohl das Datenunternehmen Statista die höchsten Suizidraten für 2018 in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen mit bis 13,7 Suiziden je 100.000 Einwohner feststellte, wird durch die Unterlassung einer Epidemiologie des Suchtkonsums in den Neuländern die soziologische Ursachenforschung von verdeckten Suiziden verhindert. Bisher wurden als Todesursachen Herzinfarkt, Vergiftung oder Sturz (Unfall) angegeben, ohne dass die vereinigungsbedingten Zusammenhänge, die zu "Toden aus Verzweiflung" führen, von Politik und Gesellschaft thematisiert worden wären.
Traumafolgeerkrankungen und permanent erhöhte soziale Belastungen verstärken Stressanfälligkeit und Krankheit, aber auch soziale Aggressionen und Kulturkonflikte. Weder die Politik noch die Gesellschaft noch das Gesundheitsmanagement haben jemals ernsthaft versucht, diese verfestigte Problematik in den ostdeutschen Neuländern zu lösen. Wenn man an dieser Stelle an die Hashtag-Aktionen in Chemnitz 2018 erinnert, wird deutlich, wie sehr die Demokratie von sozialen Erfordernissen abweicht. Chemnitz ist ein herausragendes Beispiel für den systematischen sozialen Niedergang sowie für den Anstieg von Substanzkonsum, Krankheit und Mortalität. Es ist dringend geboten, die ostdeutschen Neuländer, quasi "Ostdeutschland", analog wie die osteuropäischen Neuländer der Europäischen Union zu beobachten, um einer weiteren Tabuisierung vereinigungsbedingter Fehlpolitik entgegenzuwirken.
Der Text von Yana Milev ist ein Ausschnitt aus dem in Produktion befindlichen Band "Exil", der dritten Monografie in ihrer Reihe "Entkoppelte Gesellschaft."
Der Beitrag erschien 2020 zunächst in der Serie "Zeitenwende" der Berliner Zeitung. Zitierweise: Yana Milev, "Wie Chemnitz Crystal-Meth-Hauptstadt Europas wurde“, in: Deutschland Archiv, 06.01.2021, Link: Externer Link: www.bpb.de/325014. Weitere Texte und Interviews in dieser Serie folgen. Es sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Weitere Beiträge in dieser Reihe unter: