Vor 35 Jahren kam es am 4. September 1989 zur ersten "Montagsdemonstration" in Leipzig, damals schritten die Sicherheitsbehörden noch gewaltsam ein. Wie sich die Proteste der DDR-Opposition dann entwickelten, schildert der Leipziger Archivar Achim Beier vom Archiv der Bürgerbewegung Leipzig e.V. mit seinem Webprojekt „Mythos Montagsdemonstrationen“. Es rekonstruiert, wie es im Herbst 1989 zu diesem Mythos kam und was bis heute daraus geworden ist. Denn bis in die Gegenwart greifen Demonstrierende auf den Begriff "Montagsdemo" zurück – und missbrauchen ihn mitunter.
In Fürth wurde gegen das Müllkonzept demonstriert (1995), in Leipzig für die Olympiabewerbung (2003), in Kassel für die Weiterexistenz des Deutschen Reiches (2004), in Frankfurt am Main gegen das Rauchverbot in den Kneipen (2007), in Stuttgart gegen ein Bahnprojekt (seit 2009), gegen ein Flüchtlingsheim in Berlin-Marzahn (2014), in Sonneberg gegen die thüringische Gebietsreform (2017), in Gera für "Herz statt Hetze" (2024), rechtsextreme Gegenproteste inbegriffen, und so weiter und so fort. Unzählige Demonstrationen fanden und finden ausschließlich montags statt. Darunter während der Corona-Pandemie bundesweite Demonstrationen gegen vermeintlich rechtswidrige Grundrechtseingriffe und gegen staatliche Corona-Beschränkungen.
Bis in die Gegenwart nehmen immer wieder soziale und politische Bewegungen in Ost- und Westdeutschland Bezug auf das Narrativ der Montagsdemonstrationen von 1989/90 in der DDR. Der Rückgriff suggeriert Aussicht auf Erfolg und mobilisiert Anhänger. Schließlich gelang es schon einmal, unter diesem „Label“ politische Forderungen durchzusetzen. Dieser Eindruck verstärkt sich nochmals durch die Beschwörung eines emotionalen „Wir“-Gefühls durch den Ruf „Wir sind das Volk“, mit dem sich ein hoher Legitimationsgehalt verbindet. Bewusst hatten später zunächst die NPD, dann Pegida und schließlich die AfD den Ruf für ihre Zwecke gekapert.
Mittlerweile sind die historischen Ereignisse – zunehmend in idealisierter Form – im kollektiven Gedächtnis verankert. Positive Erinnerungen an die „Montagsdemonstrationen“ werden auf die Gegenwart übertragen, wobei die damalige Komplexität der Forderungen auf die heutige Problembewältigung reduziert wird. Bereits 2009 hat Ralph Jessen auf den universellen Charakter der Montagsdemonstrationen verwiesen. Die Montagsdemonstrationen sind demnach massentauglich, da in ihnen ein authentischer Volkswille zum Ausdruck kommt, sie also nicht unter dem Einfluss politischer Institutionen stehen. Weiterhin lassen sich die allgemeingültigen Ziele von Freiheit und Menschenrechten mit den unterschiedlichsten Forderungen beladen. Der wöchentliche Ritus hilft dabei, mediale Aufmerksamkeit zu erlangen.
Freiräume erkämpfen
Die Montagsdemonstrationen gingen aus den Friedensgebeten in der Leipziger Stadtkirche St. Nikolai 1982 hervor. Anders als die Gottesdienste wurden die Friedensgebete von einer Laienbewegung innerhalb der evangelischen Kirche organisiert und adressierten somit auch politisch interessierte Nichtchristen. Das führte zu extremen Spannungen mit der Amtskirche. Auch in anderen Städten der DDR gab es Friedensgebete, in Erfurt bereits seit 1978. Die Leipziger Friedensgebete zeichneten sich durch ihre Kontinuität aus.
Weit vor den Massendemonstrationen des Herbstes 1989 entstanden aus den Friedensgebeten heraus unterschiedliche Protestformen: öffentliche Kundgebungen auf dem Kirchvorplatz oder Demonstrationen in der Innenstadt. Die Staatsmacht reagierte mit Überwachung, Polizeigewalt und Verhaftungen. Das monatelange, nicht gewaltfreie Ringen um den öffentlichen Raum gewannen schließlich die Demonstranten am 9. Oktober 1989. Die Staatsmacht traf auf das Selbstbewusstsein eines 1½-jährigen Selbstfindungsprozesses zum zivilen Ungehorsam vor den Kirchen.
Der Begriff Montagsdemonstration entwickelte sich dagegen eher aus einem kalendarischen Zufall heraus; er ist das Ergebnis einer mühsamen Terminfindung. Eigentlich sollten die Friedensgebete mittwochs stattfinden. Doch beim Abgleich der Terminkalender der beiden engagierten Diakone Günter Johannsen und Hans-Joachim Döring blieb nur der Montag als einzig möglicher Tag der Woche. Vielleicht würden wir sonst heute vom „Mittwochs-Mythos“ sprechen.
Der Weg zum Umbruch im Herbst 1989 wurde vielmals beschrieben. Bezogen auf die darin herausgehobene Rolle der Leipziger Friedensgebete und Montagsdemonstrationen gilt es, stärker zu differenzieren und genauer hinzusehen. Im Zusammenhang mit der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in Berlin im Januar 1988 stieg die Zahl der Friedensgebetbesucher in Leipzig innerhalb von zwei Wochen von 25 auf über 700. Erst jetzt wurden die Friedensgebete zum überregionalen Kristallisationspunkt.
Oder: Bereits ab dem 5. September 1988 wurde der Nikolaikirchhof bis auf wenige Ausnahmen zum öffentlichen Versammlungsort, aus dem heraus sich immer wieder Demonstrationen mit einigen hundert Menschen ergaben. Das bedeutete auch, dass die Auseinandersetzungen mit der Staatsmacht zum wöchentlichen Alltag gehörten.
Oder: Ab Anfang 1989 forcierten Polizei und Kampfgruppen das Ausbildungsprogramm „Sperren und Räumen von Straßen und Plätzen“. Im Mai beendeten die Kampfgruppen das Programm, nachdem es zu Austritten und Befehlsverweigerungen kam. Am 9. Oktober 1989 erschien nur etwa die Hälfte der Kampfgruppen-Angehörigen zum Einsatz.
Oder: Nach dem Friedensgebet am 18. September 1989 versammelten sich circa 1. 000 mehr oder weniger Schaulustige vor der Kirche. Das „Deutschlandlied“ erklang, leere Flaschen flogen. Die Polizei räumte mit Hunden und nahm 130 Personen fest.
Tonmitschnitte ermöglichen heute noch eine Zeitreise in die Anfangsphase. Dazu gehört ein Interview des Berliner Aktivisten Stephan Bickhardt mit Christoph Wonneberger aus dem Jahr 1987 zu seinem widerständigen Selbstverständnis oder der Mitschnitt eines Friedensgebetes vom Juni 1989. Dieser macht deutlich, dass die Nikolaikirche voller „Antragsteller“ gewesen war und wie schwer es Pfarrer Christian Führer fiel, sich an eine Gemeinschaft mit so vielen Nichtchristen zu wenden. Er plädierte für die „Theologisierung“ der Friedensgebete, um sie zu entschärfen.
Lehrreiche Einblicke liefern die Mitschnitte der telefonischen Rapporte der Volkspolizei-Kreisämter an die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Leipzig 1989. Auch wenn die unteren Polizeibehörden forderten, „man soll endlich Schluss machen mit dem Spuk dort“, so hört man doch erste Zweifel an der SED-Führung ob ihrer Unentschlossenheit heraus. Heimliche Mitschnitte einer SED-Versammlung im Leipziger Rathaus am Vormittag des 9. Oktober haben wir in einer Redensammlung zu den Kundgebungen der Montagsdemonstrationen „Wir haben nur die Straße“ veröffentlicht. Es überrascht, dass die SED damals eingestehen musste, dass es auf der Straße nun um die Machtfrage gehe.
Mitsprache erkämpfen
Der Zeitabschnitt bis zu den Wahlen im März 1990 und dem vorläufigen Ende der Demonstrationen kann in drei Phasen eingeteilt werden, um die Heterogenität und den Wandel des Begriffes „Montagsdemonstrationen“ zu veranschaulichen, der meist statisch verwendet wird.
Die Entscheidung vom 9. Oktober 1989 in Leipzig wurde durch die danach folgenden Massendemonstrationen in vielen Orten der DDR unumkehrbar gemacht. Die Menschen begriffen sich als Mitglieder der Gesellschaft und forderten ihre Rechte gegenüber der Herrschaft öffentlich ein. In gewisser Weise wie 200 Jahre zuvor in der Französischen Revolution von 1789 erhob sich der „Dritte Stand“ gegen die Mächtigen und Privilegierten. Allerdings 1989 friedlich - mit der Kerze und keiner Waffe in der Hand. Dieses sich Anfang Oktober 1989 verbal konstituierende „Volk“ begriff sich im Oktober 1989 als Souverän. In einem Akt der Selbstermächtigung besetzten Menschen unter der Losung „Wir sind das Volk“ den öffentlichen Raum, wobei anzumerken wäre, dass dieser Ruf anfangs in direkter Reaktion auf Polizeidurchsagen erfolgte, eingeleitet mit der Formulierung "Hier spricht die Volks-Polizei...".
Es begann eine friedliche Revolution, bei der die Demokratiebewegung nach und nach von der Einheitsbewegung als Impulsgeber abgelöst wurde. In dieser Phase wurde der Mythos geboren. Bereits Ende Oktober 1989 sprach der West-Berliner Piratensender „Radio Glasnost“ von einem „wöchentlichen Ritual“ in Leipzig und hinterfragte damit indirekt die Wirkmächtigkeit des Geschehens.
Die Maueröffnung am 9. November 1989 leitete die zweite Phase ein. Jetzt wandelte sich die Losung zu „Wir sind ein Volk“ und setzte über Nacht neue politische Akzente. Ins Zentrum rückte die nationale Frage und damit eine Diskussion, die wegen der Verantwortung Deutschlands an Krieg und Massenmord bisher nicht geführt wurde. Es gab keine Vorstellungen davon, wie ein vereintes Deutschland aussehen könnte. In diesem Vakuum formierte sich ein verklärt romantisierendes Deutschland-Bild ohne traditionelle Vorbilder. Als Motor diente die Wiederbelebung des Mythos vom westdeutschen „Wirtschaftswunder“.
In dieser Phase war es Bundeskanzler Helmut Kohl, der Ende November am deutlichsten die Machtfrage stellte. Ziel sei die „Einheit und Freiheit aller Deutschen“. Damit gab er einem großen Teil der ostdeutschen Bevölkerung eine Perspektive und den Montagsdemonstrationen eine eindeutige Ausrichtung. Toleranz und politische Kultur gingen im Laufe des Jahres verloren. In das Machtvakuum der Straße stießen auch rechtsextreme Gruppierungen. Deutschnationale Ansichten sickerten allmählich in den Forderungskanon der Demonstrant*innen ein. Viele nahmen diese Radikalisierung nicht wahr, denn in bedeutend stärkerem Kontrast stand für sie die Meinung der Einheitsgegner. Die ungenügende Distanzierung der Masse gegenüber deutschnationalen Parolen beförderte eine politische Stigmatisierung zweier Gruppen: „Nazis“ und „Rote“. An der nationalen Frage schieden sich die Geister. Die Gemengelage wurde noch unübersichtlicher, als auch die SED Pauschalurteile über die „rechte“ Dynamik der Straße fällte, wodurch sie sich wachsende Akzeptanz erhoffte. Diese allseitig aufgeheizte Stimmung ironisierten wiederum Demonstrant*innen auf Plakaten wie „Freiheit für Grönland – weg mit dem Packeis“.
Ab Januar 1990, der dritten Phase unter „Schwarz-Rot-Gold: Wir sind das Volk“, radikalisierte sich die Stimmung nicht nur in Leipzig weiter. Die Idee einer Gemeinschaft basierend auf einer gemeinsamen Sprache und Kultur bewegte sich spätestens seit 1990 auf einem schmalen Grat zum „Völkischen“. Das „Volk“ meinte das „deutsche Volk“. Ausländer und Andersdenkende gehörten nicht mehr dazu. „Wir sind das Volk“ wurde zum Argument für Abgrenzung, „Schwarz-Rot-Gold“ signalisierte, wovon. Sehr viele lebten enthusiastisch ihre nationale Zugehörigkeit aus. Aus den Montagsdemonstrationen wurden Siegesfeiern über das Ende der DDR mit Brat- und Bockwurstständen.
Die Auseinandersetzungen auf den Straßen wurden zunehmend vehement ausgetragen, mitunter auch handgreiflich. Einige „Oktober-Demonstranten“ wollten dem deutschnationalen Mainstream die revolutionäre Errungenschaft der Montagsdemonstrationen nicht kampflos überlassen. So bildeten sich ab Januar 1990 häufig „Gegen-Montagsdemonstrationen“. Das „Neue Forum“ bemühte sich unterdessen mit wenig Resonanz um den Aufbau emanzipatorischer Strukturen.
Im Verlaufe des Januars 1990 entbrannte der Wahlkampf. Die Leipziger Demonstrationen verloren ihre Ausstrahlung nicht nur durch die national-konservative Entwicklung. Die westdeutschen Altparteien nahmen in der gesamten DDR massiv Einfluss auf die Meinungsbildung. Im Großen und Ganzen unterschied sich Leipzig daher kaum noch von anderen Demonstrationsorten. Allerdings blieben die Leipziger neben den Dresdner Demonstrationen die von der Teilnehmerzahl größten.
Wem „gehören“ die Montagsdemonstrationen?
Vom Erfolg der ersten Umrundung des Leipziger Ringes am 9. Oktober 1989 beflügelt, erreichte die Politisierung der Bevölkerung ihren Zenit. Bis zum Mauerfall am 9. November wuchs die Zahl der Demoteilnehmer in Leipzig von Woche zu Woche. Gleichzeitig stieg auch die Anzahl der Städte an, in denen montags demonstriert wurde. Am Montag, den 6. November 1989, waren DDR-weit rund 900.000 Menschen auf der Straße. So viele wie an keinem anderen Tag.
Der „Montag“ als Protesttag bezieht seine Symbolik nicht nur aus Leipzig und den wegweisenden Demonstrationen im September/Oktober 1989. An verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten der Revolution machten verschiedene Menschen die persönliche Erfahrung, in das „Rad der Geschichte“ eingegriffen zu haben. Die Auswertung empirischen Materials zum Protestverhalten in der DDR 1989/90 zeigt, dass sehr viele Menschen heute noch das Bewusstsein lebendig in sich tragen, ein „Montagsdemonstrant“ gewesen zu sein. Das Erlebnis eines aktionsbetonten Montags hatten Menschen in mindestens 226 Städten. Kontinuitäten, sodass man von Montagsdemonstrationen sprechen kann, gab es in circa 70 Städten der DDR. Zu den Städten mit mehr als zehn montäglichen Demonstrationen vom 16.Oktober 1989 bis zum 12. März 1990 zählten:
An keinem Wochentag wurde mehr demonstriert als an den Montagen. Viele hunderttausend Menschen verbindet also eine Erinnerung daran. Entweder rangen sie der SED das Herrschaftsmonopol ab („Wir sind das Volk“) oder sie trugen zum Sturz des SED-Regimes bei („Wir sind ein Volk“) oder sie demonstrierten, um die DDR ganz abzuschaffen („Schwarz-Rot-Gold“). So hat jede*r der Teilnehmenden das Bewusstsein, etwas zur Veränderung beigetragen zu haben. Die friedfertige Protestform der Montagsdemonstrationen blieb als probates Instrument erhalten, um in dem entstandenen Machtvakuum eine neue Perspektive zu finden. Keine Programmatik und keine personelle Führung erhob die Montagsdemonstrationen zum Kampfmittel gegen das marode DDR-System. Es war die Selbstermächtigung jener Menschen auf der Straße, die um Zusammenhalt und Orientierung rangen. Sie hat Zeit und Form festgelegt und damit den Montagsdemonstrationen eine symbolische Kraft verliehen. Allerdings wurde im Spätherbst 1989 auch schon der Missbrauch der Montagsdemonstrationen durch teilnehmende Neonazis sichtbar:
Meinungshoheit erkämpfen
So heterogen die Montagsdemonstrationen 1989/90 waren, schien es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Konflikte in der demokratischen Auseinandersetzung sich des Protestparadigmas bemächtigten. Im Frühjahr 1991 fand in Leipzig die erste Neuauflage statt. Sie richtete sich gegen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau, nachdem sich mit der Währungsunion und der Deutschen Einheit für nahezu jeden dritten Ostdeutschen die Einkommenssituation durch Erwerbslosigkeit, Unterbeschäftigung oder Ost-West-Pendeln veränderte. Im Kreuzfeuer der Kritik stand vor allem Bundeskanzler Kohl, der noch vor Jahresfrist „blühende Landschaften“ versprochen hatte. Insgesamt gab es nur sechs Demonstrationen mit einer Höchstzahl von 70.000 Teilnehmern. Die Organisation und Führung der Bewegung übernahmen der Deutsche Gewerkschaftsbund.
Den Protest überschattete das Attentat auf den Präsidenten der Treuhandanstalt Detlev Rohwedder am 1. April 1991. Aber nicht nur deswegen flauten die Proteste ab. Die Gewerkschaften mussten einsehen, dass die Demonstrationen nicht auf Dauer zu festgelegten Zeiten und Themen fortgeführt werden konnten. Dieser Form der Montagsdemos fehlten die Spontaneität und die basisdemokratische Dynamik.
Ein ganz anders gelagerter Protest entwickelte sich von Januar bis April 2003. Es ging um den 3. Golfkrieg im Irak. Die Ablehnung des Krieges vereinte Deutschland auf bisher selten erlebte Weise. Während in über 100 Städten meist an den Wochenenden demonstriert wurde, protestierten die Leipziger wieder an den Montagen. Der Mythos der Montagsdemonstrationen wurde nicht zuletzt durch die „Widerstandsaura“ von Pfarrer Christian Führer wiederbelebt, der nach 1990 die Rolle einer Symbolfigur der 1989er Ereignisse in Leipzig eingenommen hatte. Er kolportierte die Erinnerung an eine „Revolution, die aus der Kirche kam“.
Kontinuierlich entwickelte Führer das Konzept der Friedensgebete weiter und thematisierte darin politische Zeitfragen. „Inhalte und Bedingungen sind zwar andere, doch die Sehnsucht der Menschen, nicht einfach über sich verfügen zu lassen, ist dieselbe. […] Die Leute haben erlebt, dass es lohnt, sich einzubringen und damit Unmögliches möglich zu machen. Diese Erfahrung lebt weiter.“ Auch der authentische Ort der Nikolaikirche entfachte die Revolutionserinnerungen erneut.
Auch im Sommer 2004 fanden die Montagsdemonstrationen eine zeitgleiche bundesweite Anerkennung. Die sogenannten „Hartz-IV-Demos“ begannen in Magdeburg und breiteten sich über Ostdeutschland auf das gesamte Bundesgebiet aus. Sie richteten sich gegen die „Agenda 2010“ der rot-grünen Bundesregierung als zentrale Maßnahme zur Reformierung der Sozialsysteme. Besonders die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau („Hartz IV“) wirkte sich für die Betroffenen zum Teil dramatisch aus. Ende August erreichten die Montagsdemonstrationen ihren Höhepunkt. Vor allem unter den ostdeutschen Demonstranten verbreitete sich ein pauschales und abwertendes Urteil gegenüber der Politik und ihren Protagonisten.
Lautstark wurde unter dem Leitsatz „Wir hier unten und die da oben“ undifferenziert die gesamte politische Elite für die eigenen Probleme verantwortlich gemacht. Die rasche und spontane Ausbreitung der Montagsdemonstrationen spülte auch verschiedene Minderheiten politisch organisierter Gruppen an die Oberfläche, allen voran die MLPD. In der Euphorie des Schwungs fühlte man sich schnell als die neue außerparlamentarische Opposition. Die alten Auseinandersetzungen der westdeutschen Linken fanden ein neues Podium. Im Moment der bundesweiten Vernetzung offenbarte sich der Ost-West-Gegensatz. Während im Osten aus einer gewissen Orientierungslosigkeit heraus für die Wiederherstellung des Status quo demonstriert wurde, fochten westdeutsche Initiativen für eine andere soziale Welt.
Die unterschiedlichen Perspektiven führten spätestens im Oktober 2004 zum Auseinanderfallen der Bewegung. War die Beteiligung in Ostdeutschland überproportional höher, so war die Beharrlichkeit der Montagsproteste im Westen sehr viel ausgeprägter, auch wenn nur noch wenige Dutzend Menschen auf die Straße gingen. Während es dem spontanen Protest an Alternativen zu „Weg mit Hartz IV – das Volk sind wir“ fehlte, konnte der höhere Grad der Organisation im Westen das Protestparadigma bis in die Gegenwart immer wieder mit neuen Themen füllen (z.B. Kapitalismuskritik, Umwelt, Trump-Kritik, Rassismus-Kritik). Doch nach 2005 bewegte man sich weitgehend im eigenen Milieu.
Besonders nachhaltig veränderten die montäglichen „Spaziergänge“ der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) seit Oktober 2014 die politische Lage in der Bundesrepublik. Der rechtspopulistische Protest findet seinen vorläufigen Höhepunkt in der seit Ende der 1970er Jahre währenden (west-)deutschen Auseinandersetzung um die globalen Probleme von Flucht und Vertreibung, Asyl und Migration. In kurzer Zeit entfaltete Pegida eine bis dahin unbekannte Dynamik. Nicht nur in Dresden stieg die Zahl der Anhänger rasant an und erreichte am 12. Januar 2015 mit circa 25.000 Menschen ihren Höhepunkt. Zum Jahreswechsel 2014/15 gründeten sich im ganzen Bundesgebiet Ableger dieser Bewegung, die meist montags auf die Straße gingen. Mit diesem Protesttag bezog man sich ausdrücklich auf die Tradition der Montagsdemonstrationen in der DDR, denn viele von den Teilnehmenden waren bereits 1989/90 auf der Straße. Der Ruf „Wir sind das Volk“ bestärkte das Gefühl einer gelebten Kontinuität.
Allerdings war die Zielrichtung nunmehr eine andere. Es ging nicht mehr um eine Integration in den gesellschaftlichen Diskurs, sondern vor allem um Aus- und Abgrenzung von Anderen. Sehr schnell kristallisierte sich ein radikaler ausländerfeindlicher Grundtenor unter den Teilnehmern heraus. Rechtsextreme Einstellungen trafen auf eine kritische Masse mit einer großen geistigen Schnittmenge. Mehr und mehr etablierten sich völkische und fremdenfeindliche Ansichten, die sich mit dem Selbstverständnis anno 1989/90 paarten. Die Abwertung der politischen Eliten durch weniger Privilegierte erreichte jetzt die gesellschaftliche Mitte. Die anfänglich polemische Ignoranz von Politikern verstärkte dabei das Selbstbild vom „besorgten Bürger“ noch.
Nach inneren Querelen über die Führungs- und Deutungshoheit begann 2015 ein einsetzender Bedeutungsverlust, auch wenn einzelne politische Ereignisse der Bewegung zu einer kurzzeitigen Revitalisierung verhalfen („Flüchtlingskrise“ 2015, Kölner Silvesternacht 2015/16). Als ab Juli 2015 die AfD die Pegida-Themen und ihre Rhetorik in Talkshows und in die Parlamente hereinholte, verringerten sich die Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen weiter.
Doch insgesamt sind die politischen Auswirkungen gewaltig. Pegida und die AfD haben mit einer oft provozierenden Vulgärsprache den moralischen Kompass verschoben. Sie übernahmen die Deutungshoheit über wertkonservative Begriffe wie „Nation“, „Identität“, „Kultur“ oder „Heimat“, indem sie diese politisch aufgeladen haben. Die Verrohung der Diskussionskultur bewirkte einen Aufruf zur Tat und trug zu gefährlichen Übergriffen auf Flüchtlinge bei, an denen sich nicht nur das rechtsradikale Milieu beteiligte.
Eine sich verändernde Umgangskultur
Die Aktionsform „Montagsdemonstration“ ist eine der wenigen Spuren, die die ostdeutsche Demokratiebewegung in der gesamtdeutschen politischen Kultur dauerhaft hinterlassen hat. Die Bundesrepublik hat dieses Spezifikum authentischer DDR-Erfahrung an- und übernommen. Vor allem bei bundesweiten Montagsdemonstrationen melden sich DDR-Bürgerrechtler in sehr unterschiedlichen Beurteilungen als „Sachwalter“ der Geschichte auch immer wieder zu Wort.
Auffallend ist, dass sich im Laufe der Jahre auf den Montagsdemonstrationen der Gegensatz „Wir hier unten und die da oben“ manifestierte. Im Moment der Selbstfindung als Volk versprühten vor allem die Oktober-Demonstrierenden Witz und Ironie. Dieser Esprit war Ausdruck der Erleichterung über den friedlichen Verlauf, aber auch der eines neuen Selbstverständnisses. Wenig später etablierte sich die Abwertung der politischen Eliten, die ihre Personifizierung in den jeweiligen Regierungen fanden (Modrow weg – Kohl weg – Schröder weg – Merkel weg). Symptomatisch dafür erscheint ein Transparent, das auf Demos unter dem Titel „Leipzig macht Druck“ im Frühjahr 1991 gesichtet wurde. Der Text lautete: "Gestern Honecker und Konsorten, heut wieder betrogen an allen Orten".
Dabei kamen nicht selten der soziale Anstand und die politische Kultur abhanden. Das führte sogar dazu, dass Demonstrierende Politiker und Politikerinnen immer wieder auch plump diffamierten, indem sie sie sogar mit Nazi-Führern gleichsetzten. So tauchten 1991 Transparente mit folgenden Losungen auf: „Gegen Kohl war Goebbels ein Waisenknabe!“ oder „300 Mrd. Treuhandvermögen in 6 Monaten ruiniert! Helmut: Nur Hitler war grösser!“ Auch Pegida-Transparente diffamierten später beispielsweise Angela Merkel, dargestellt in NS-Uniform.
Die bundesweiten Montagsdemonstrationen hatten gravierende, nicht nur politische Nebenwirkungen. Die „Hartz-IV-Demos“ beförderten den parlamentarischen Absturz der SPD seit 2005 mit. Im Gegenzug etablierte sich die SED – PDS – Linkspartei.PDS – Die Linke als gesamtdeutsche Partei. Auch die NPD zog erstmals in die Länderparlamente von Sachsen und Mecklenburg-/Vorpommern ein. Zehn Jahre später machten Pegida und die AfD ausländerfeindliche Einstellungen und völkisches Denken salonfähig. Sie artikulieren eine fundamentale Kritik an der liberalen Demokratie. Offenbar wird, dass sie damit in Ostdeutschland größere Erfolge haben als im Westen der Republik. Als Reaktion darauf rückt die Betrachtung der Transformationsprozesse stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Der Mythos der Montagsdemonstrationen ist Folge populärer „Wende“-Erinnerungen. Die Ereignisse um die Pegida-Demonstrationen haben gezeigt, dass sich diese Aneignung der Vergangenheit zu einer „populistischen ‚Volks‘-Erinnerung“ gewandelt hat.
Mit den Straßenprotesten gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen 2020 wurde erneut eine spezifisch begründete Fundamentalkritik laut. Die weltweiten Probleme bei der Eindämmung des neuartigen Infektionsvirus wurden in Deutschland zum Anlass genommen, die liberale Demokratie prinzipiell infrage zu stellen. Das Protestpotenzial reicht von den verschiedensten Verschwörungstheoretiker*innen bis weit in die bürgerliche Mitte. Auch Rechtsextremisten versuchen, sich die Corona-Krise zunutze zu machen und damit wieder Anschluss an Mehrheiten zu finden.
Deutschland erlebt(e) einen neuen „Pegida-Effekt“, der nun noch heterogener aufgestellt ist und nicht selten mit der Erinnerung an 1989 zu mobilisieren versucht. Auch Leipzig wurde so Anfang November 2020 wieder zum Ziel von Demonstrierenden. Mit einer „zweiten friedlichen Revolution“ wolle man „Geschichte gemeinsam wiederholen“ und das System stürzen. Zum (an)greifbaren Gegner wurden erneut die Medien gemacht. „Lügenpresse“, der antisemitisch konnotierte Begriff aus dem 19. Jahrhundert, den Dresdner Hooligans auf den Pegida-Demonstrationen verbreiteten, wurde unter den Teilnehmenden zum Konsens.
Welch ein Kontrast zur Zeit vor 35 Jahren. Die Pressefreiheit, die damals in der DDR systematisch unterdrückt wurde, behindern heute (Montags-)Demonstrant*innen im Namen der Grundrechte durch Beschimpfungen ("Lügenpresse"), Einschüchterungen und Bedrohungen von Journalist*innen.
Der Kameramann Interner Link: Siegbert Schefke, der am 9. Oktober 1989 die entscheidende Montagsdemonstration in Leipzig heimlich von einem Kirchturm aus für die Tagesschau filmte, ist heute MDR-Journalist und beobachtet einen regelrechten Kulturwandel auf vielen Demonstrationen in Sachsen. Oft könne nur noch mithilfe von Personenschützern gedreht werden. Frustriert beschreibt er seine Erlebnisse am Beispiel eines Drehs in Chemnitz:
"Chemnitz, Montag 27. August 2018, Karl Marx-Denkmal, auch "Nischel" genannt, war bislang der Tiefpunkt alles bisher Erlebten. An jenem Wochenende, in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag, wurde ein 35-jähriger Chemnitzer durch Messerstiche ermordet. Festgenommen wurden drei Männer mit Migrationshintergrund. Am Montag kam es zu Protesten. Ich meldete mich freiwillig zu diesem Dreh. Ich ahnte, dass es ein unangenehmer Tag werden könnte. Und so kam es auch. Auf der einen Seite Studierende, Chemnitzerinnen und Chemnitzer und andere. Am "Nischel" versammelten sich rechtsextreme Gruppen. Gegendemonstranten und Demonstrantinnen, Polizisten und Polizistinnen, Journalisten und Journalistinnen wurden angeschrien und angegriffen. So etwas hatte ich zuletzt in der Zionskirche am 17. Oktober 1987 erlebt, als uns Skinheads nach einem Konzert überfallen hatten.... Der Hitlergruß wurde offen gezeigt. Irgendwann flogen Flaschen und Steine. Wie sollten wir da arbeiten? Es war noch hell, ich schaute nach oben, um zu sehen, wenn etwas geflogen kam. Meine Hand hielt den Hosengürtel unseres Kameramanns Tilo, um ihn wegzuziehen, wenn es nötig wurde. Hinter uns Rainer, der Tontechniker. Tilo drehte dann. Endlich zogen wir uns zurück.
Gegen Mitternacht auf der Autobahn von Chemnitz nach Leipzig. Hinter uns Lichthupe, neben uns plötzlich ein Auto mit Glatzen, die ihr Seitenfenster herunterkurbelten und in unsere Richtung schrien. Das Gehörte möchte ich nicht wiedergeben. Es war bedrohlich wie das dicht auffahrende Auto mit blinkender Lichthupe. Rainer, der Tontechniker und Fahrer, drückte auf die Tube, wir rasten davon. Jetzt benutze ich lieber ein Auto ohne MDR-Logo auf der Seitentür. Ist das normal mitten in Deutschland?“
Zitierweise: Achim Beier, "Mythos Montagsdemonstration“, in: Deutschland Archiv, 04.09.2024, Erstveröffentlichung am 23.12.2020, Link: www.bpb.de/324912. Beiträge im Deutschland Archiv sind Meinungsbeiträge der jeweiligen Autorinnen und Autoren, sie stellen keine Meinungsäußerung der Bundeszentrale für politische Bildung dar.
Achim Beier ist Mitarbeiter des 1991 gegründeten Archivs der Bürgerbewegung Leipzig e.V.: Externer Link: www.archiv-buergerbewegung.de. Das Archiv erhielt 2020 den "einheitspreis" der Bundeszentrale für politische Bildung, neben 29 weiteren Aufarbeitungsprojekten bundesweit für sein Webprojekt „Mythos Montagsdemonstrationen“. Es rekonstruiert, wie es im Herbst 1989 zu diesem Mythos kam und was bis heute daraus geworden ist.
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